Die “Stadt Athen” in Neckargemünd

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Wie griechische Suchtmittel eine deutsche Kleinstadt zurichteten … 🙂 …
Karikatur-Postkarte, um 1900
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„Neckargemünd, Restaurationen und Gastwirtschaften: Griechische Weinstube „zur Stadt Athen“. Größter Vertrieb griechischer Weine in Deutschland durch Menzer!“
(In der Neckarstraße) die Weingroßhandlung von J.F. Menzer (griechische Weine etc.), deren Kellereien sehr bedeutend sind.“
aus: „Baden in Wort und Bild“, Verlag Leo Woerl, Würzburg/Wien, 1891, Seite 82.
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Meyers Reisebuch „Süd-Deutschland“ von 1873 erwähnt Neckargemünd nur beiläufig:
Ja, schöne Landschaft, nein, keine Sehenswürdigkeiten im Ort.
Aber das Landeskundliche Informationssystem Baden-Württemberg (leo-bw.de) stellt ja auch fest, daß „das erste Fass griechischen Weins auf deutschem Boden“ erst 1875 in Neckargemünd angestochen wurde …
Ein wahrhaft historisches Ereignis! (Nebenbei: Wikipedia schreibt, daß Wein von Achaia-Clauss bereits 1869 nach Deutschland importiert wurde …)
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Neckargemünd. Kennen Sie nicht? Kannte ich auch nicht, bis wir 2005 auf der Fahrt von Stuttgart nach Heidelberg beschlossen hatten, die Autobahn zu verlassen und einen gemütlichen Umweg über die Landstraßen zu machen.
Kurz bevor man den Neckar erreicht, findet man den Dilsberg, obendrauf eine uralte Burg mit Ausflugsgaststätte. Wir waren ein wenig ausgehungert. Es war Ostersamstag, Spätnachmittag, keine Gäste im Lokal, die Küche war zu.
Doch die Wirtin erklärte sich bereit, uns zwei Portionen Leberkäse mit Spiegelei und Bratkartoffeln selbst zuzubereiten! Käme ein weiterer Gast, sollten wir ihn bitten, geduldig zu sein. Sie wäre in ein paar Minuten fertig.
Das sprach sehr für Neckargemünd. 🙂 Denn die Festung auf dem Dilsberg gehört eben zu dieser Gemeinde. Ist gewissermaßen ihre Akropolis …
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Nein, das ist nicht der Dilsberg im Hintergrund …
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In Heidelberg erklärten uns unsere Freunde, wir hätten auch zur Altstadt von Neckargemünd weiterfahren sollen, da gäbe es nämlich die älteste griechische Kneipe in Deutschland, die Weinstube „Zur Stadt Athen“. Da wären schon Mitglieder der griechischen Königsfamilie eingekehrt, vor über hundert Jahren!
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…………StadtAthenWikipedia_A450  (Foto wikipedia)
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Danach bin ich öfter mal in Neckargemünd gewesen, kenne aber kaum mehr als die
S-Bahnstation und von dort den Weg zum Neckar-Ufer. Es ist eine schöne Wanderung auf der südlichen Neckarseite Richtung Dilsberg, wo man die Neckar-Schleuse nutzen kann, um zur anderen Flußseite zu kommen. Es folgt die übliche Pause im Biergarten in Neckarsteinach, mit seinen vier Burganlagen, und dann geht es zurück auf der nördlichen Flußseite.
Wenn man spätnachmittags und fußmüde wieder in Neckargemünd ankommt, ist es sehr verführerisch, direkt die nächste S-Bahn zurück nach Heidelberg zu nehmen.
Griechischen Wein gab es auch immer im Hause der Freunde in Heidelberg-Handschuhsheim … und Vorfreude ist ja die schönste Freude.
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Die Weinstube “Zur Stadt Athen” von innen (Postkarten um 1900). Man beachte die massive Registrierkasse (erstes Bild) und das Werbeplakat für Fahrradreifen (zweites Bild):
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VordereWirtsstube_MetzelerPneumatik_Poster_600.jpg
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Und hinterm Haus die Terrasse mit Blick auf den Neckar:
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So blieb es jahrelang. Und ich habe nie ein einziges Glas Wein in der „Stadt Athen“ getrunken. Und 2013 hat die „Stadt Athen“ endgültig geschlossen.
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Im heute teils denkmalgeschützten Haus wurden seit 1761 Gäste bewirtet, aber „griechisch“ wurde da nie gekocht, beteuerte der letzte Wirt, Norbert Girnth, in der Rhein-Neckar-Zeitung am 12.01.2013. Jedenfalls nie zu seiner Zeit, und er hatte das Lokal seit 43 Jahren geführt!
Der Familie Beuttner/Girnth gehört das Haus in der Neckarstraße seit 1806! Die Weinstube  „Stadt Athen“ hieß – ab 1761 – zunächst „Goldener Karpfen“.
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Wunderlich_A400Die „Stadt Athen“ war in erster Linie ein Ausflugslokal, das jahrzehntelang sehr gerne von Heidelberger Studenten angelaufen wurde, die sich da gehörig und in aller Form abfüllten. Aber am Ende war das griechische Weinangebot auf das Nötigste beschränkt. Eine „Kutscherschorle“ soll es im Lokal wohl noch gegeben haben – ein Mix aus Pfälzer- und Samoswein und Mineralwasser.
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Und, solange man noch einigermaßen nüchtern war, schrieb man schnell eine Postkarte per Bahn-Post an die Freunde!
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Lesehilfe: “Wir trinken hier von der Griechischen Lethe, um die irdischen Sorgen zu vergessen.” Die Lethe war nicht nur in der griechischen Mythologie das Getränk zum Vergessen, wenn man die Unterwelt betrat, sondern auch eine Hausmarke der Wein-Importfirma Menzer aus Neckargemünd:
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SorgenVergessenBahnpost_600
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Menzer1Etikett_251Dabei gab es dort ursprünglich Importweine vom Peloponnes, Weine aus Korfu, Ithaka, Levkas, Kefalonia, Santorin, Samos, Chios und Kreta! Alles vorbei …
Aber es war wirklich eine Pionierleistung! Wenn man bedenkt, daß die Zeit der „griechischen“ Lokale in Deutschland erst in den 1970er Jahren begann. Und selbst da gab es zum obligatorischen Grill-Teller bloß Retsina oder Demestica.
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Interessant bleibt immer noch der Blick in die Vergangenheit des Lokals und seines hellas-affinen Inhabers:
Julius Friedrich Wilhelm Menzer (1845-1917).
Möglicherweise stand im Taufschein auch: Julius Karl Wilhelm Philipp  Menzer … darauf schwört jedenfalls der Kulturverein Neckargemünd e.V.!
Ja, im 19. Jahrhundert blieb im weinseligen Neckartal so manches unscharf …
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Reklamemarken der Firma Menzer, um 1900.
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Sein Vater, Julius Friedrich (1817-1869) war bereits Weingroßhändler und sogar Bürgermeister von Neckargemünd. 1867 übernimmt Sohn Julius das Geschäft. Er bereist ab 1876 Griechenland und Kleinasien, veröffentlicht 1878 den Reisebericht „Eine Weinfahrt durch Hellas“.
Das Buch hat zwar nur 47 Seiten, bringt es aber bis 1896 auf 11 Auflagen (heutzutage im Antiquariatshandel leider unauffindbar).
1909 erscheint die „Kaiserreise“, eine Broschüre über den Besuch von Kaiser Wilhelm II. in Korfu im April 1908, die gut zur Hälfte aus Menzer-Werbung besteht.
Menzer bietet da 30 verschiedene griechische Weine an,  darunter von Achaia-Clauss Maphrodaphne und Malvasier, einen “Blutwein von Zante”, die Hausmarken “Chios”, “Antheia”, “Lethe”, “Kalliste” und “Samos” und auch griechischen Cognac aus Kefalonia.
Menzer ist 1909 königlicher griechischer Hoflieferant, und er läßt auch in Griechenland Werbe-Postkarten drucken:
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Julius Menzer expandiert zügig, die „Stadt Athen“ ist quasi sein Probier-Ausschank, es entstehen ab 1883 Filialen in Frankfurt und Berlin. Er wird Griechischer Konsul und Abgeordneter im Reichstag, errichtet 1892 für seine Familie in einer privaten Parkanlage (15.000 Quadratmeter) die repräsentative Villa Menzer.
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Vom Ersten Weltkrieg an geht es langsam abwärts mit dem Handelsunternehmen Menzer, und den Zweiten Weltkrieg überlebt es nicht. 1954 wird der gesamte Grundbesitz von letzten Firmenerben Hermann Jakob Stamatis (!) Menzer an die Stadt Neckargemünd verkauft.
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Irgendwann habe ich mal mit einem ehemaligen Koch der „Stadt Athen“ bei einem Treffen von Heidelberger Griechenlandfreunden gesprochen. Der wollte aber über seine spezielle Berufserfahrung nicht reden.
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One comment

  1. An unerwarteter Stelle (Woerl’s Reisebibliothek: Griechenland, 1890, verfaßt von Amand von Schweiger-Lerchenfeld) findet man diese Danksagung:
    “Die Vorlagen zu den Typenbildern (Trachtenbildern) erhielten wir (…) durch Herrn Menzer, griech. Konsul und Weingroßhändler in Neckargemünd.” Diese Photographien selbst stammten vom Hofphotographen Moraites & Co. in Athen.

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