Delos, die Freibeuterinsel

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22.07.2013  Ich habe diesen Text noch einmal überarbeitet und ergänzt, nachdem ich Karl Gustav Fiedlers Reisebericht von 1841 gefunden hatte.
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Der Geologe Fiedler hatte die Insel noch im mittelalterlichen „Rohzustand“ vorgefunden. Bis auf wenige Ziegenhirten, den lizensierten Kalkbrennern und Trümmer-Händlern aus Mykonos und einigen eher armseligen Piraten näherte sich niemand mehr der Insel.
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Eine Gruppe Piraten wird in einer versteckten Bucht auf Mykonos gerade festgenommen, nachdem sie u.a. versucht hatten, sich Fiedlers Schiff zu nähern. Bei der Vernehmung geben sie zu, daß sie einen Überfall geplant hatten. Fiedlers bewaffnete Begleitung schreckte das Piratenboot in der Morgenfrühe jedoch ab. In der Nacht davor lagen die beiden Schiffe in unmittelbarer Nähe beieinander, im Windschutz der Felsenklippen westlich von Delos, ohne daß Fiedler und seine Besatzung es bemerkt hatten. Doch der heftige Nordsturm verhinderte einen Überfall im Dunkeln. Fiedler hatte ja u.a. schon bei Alonnisos (die Insel hieß damals Chiliodromia) Erfahrungen mit Piraten gemacht. Die versteckten sich dort im unbewohnten Archipel der nördlichen Sporaden oder auf Chalkidiki.
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Fiedler empfiehlt Brandpatronen im Einsatz gegen Piraten, die ab 50 Meter Entfernung verschossen werden können. Wenn man schon keine Haubitze mitführen kann. Jedes Fischerboot, das mehr als die übliche Besatzung (drei oder vier Leute) an Bord hat, ist verdächtig. Nein, Fiedler mag Piraten überhaupt nicht: „(Es ist) rathsamer, mit den Waffen in der Hand zu sterben, als sich diesen Unthieren zu ergeben, die schändlicher sind, als man sich Menschen denken kann.“
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Ich selbst war nur einmal auf der Insel Delos, 1996, im Herbst. Piraten gab es da keine mehr – wenn die Mannschaft des Transfer-Bootes von Mykonos nach Delos auch abenteuerlich genug wirkte …
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Delos Tempeltor Fiedler
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Delos, das Felsentor auf dem Kynthos-Burgberg, von Karl Gustav Fiedler gezeichnet. (Damals hieß die Öffnung noch “Drakospilia”, die Drachenhöhle.)
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Delos Tor Boissonnas
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Das gleiche Tor (links), von Fred Boissonnas vor fast 100 Jahren fotografiert. Der Schutt unter dem Tor wurde inzwischen abgeräumt.
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Von Delos sind uns aus dem Geschichtsunterricht sicher noch ein paar Daten gegenwärtig … oder?
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Delos, wo die Zeus-Geliebte Leto die gemeinsamen Kinder Apollo und Artemis geboren hatte – ja, für diesen Zweck hatte sich die Insel erst aus dem Meer gehoben … Delos, der Wallfahrts- und Orakelort … Delos, einer der größten Sklavenmärkte der Antike. Und der Sklaven-Import und -Export sogar ohne Zölle und Steuern, wie günstig! In den Tempeln sammeln sich die Schätze der Region, alle fünf Jahre wird das Delische Fest gefeiert. Im 5. und 6. Jahrhundert v.Chr. wurden durch die delische Katharsis für alle Zukunft alle Geburten, Todesfälle und Bestattungen auf der Insel verboten. Bestattet wurde jetzt nur noch auf der Nachbarinsel Rineia. Der Friedhof ist da, wo die Meerenge zwischen den Inseln am schmalsten ist.
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In den letzten beiden Jahrhunderten v.Chr. wurde es unruhig … Streit zwischen den Athenern und den Makedonen, dann wurde die Insel römisches Protektorat, und 87 v.Chr. räumte Menophanes (Feldherr des pontischen Königs Mithridates) im Krieg gegen die Römer gründlich auf: Die Stadt wurde völlig zerstört, die Einwohner ermordet oder verkauft. Die Stadt wurde nie wieder in alter Form hergestellt. Der römische Freihafen wurde nach Syra verlegt. 1500 Jahre lang war die Insel Delos fast ganz vergessen und verlassen.
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Halt, nicht ganz verlassen! Das Osmanische Reich hatte den Bewohnern von Mykonos die Insel überlassen (gegen eine Lizenzgebühr), damit sie dort aus den Marmor-Trümmern Kalk brennen und antike Gegenstände abräumen konnten. Fiedler schlägt über das „Bequemlichkeits-Abkommen“ die Hände über dem Kopf zusammen, als er die Insel betritt:
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„Tritt man mitten in die Ruinen der Tempel und der Stadt, so sieht man, wie so häufig in Griechenland, ein Bild grässlicher Zerstörung. (…) (Die Stadt wurde) in späteren Zeiten als Steinbruch betrachtet; für die Benutzung dieser althertümlichen Schätze zahlten die Bewohner von Mykone jährlich an die Türken zehn Thaler (= 150 Piaster) Steuer. Quadern, Säulen, Platten u.s.w. führte man schiffladungsweise weg zum Verkauf, um zu andern unberühmten Gebäuden zu dienen (…); sogar um Kalk zu brennen baute man hier und an andern solchen Plätzen, mitten unter den Ruinen Kalköfen, obgleich sowohl auf Delos am südwestlichen Ufer ein mächtiges Lager reiner Urkalk ist, so auch auf Mykonos. Kalkstein giebt es in ganz Griechenland an jedem Platze, wenigstens nicht weit entfernt, aber er muss erst gebrochen werden, bei Ruinen braucht man jedoch nur die gesonderten Blöcke, Säulen u.s.w. zu zerschlagen und in den Kalkofen zu werfen.“
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Auch den weiteren Text hätte Melina Mercouri bestimmt nur ungern gelesen:
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Und wer that diess alles, damit nichts mehr von Hellas Grösse zeige – in der Regel Griechen. Wenn dann Fremde Altherthümer wegführten und man ihnen nachrief: es sei unverzeihlicher Raub, so waren es doch stets nur Gegenstände der Kunst, die hier nicht verstanden wurden, (die) in cultivirten Ländern besser aufgehoben (waren), zum Studium dienten und manche schönen Früchte trugen; verdienten sie nicht eher Dank, trugen sie nicht eher bei, Hellas Grösse zu erneuern? Seit der neuen Aera sorgt die europäische (!) Regierung dafür, dass nichts mehr beschädigt, und was sich schönes findet, aufbewahrt werde.“
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Lord Elgin hatte den Athener Parthenon-Fries 1801 abgebaut und nach London gebracht …
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1701 war der französische Forschungsreisende Joseph Pitton de Tournefort (siehe „Voyage de Levante“) auf Delos. Er hatte noch Teile der Statue des Apollon gesehen, die Schenkel und den oberen Teil des Rückens, der fast zwei Meter breit war. „Tournefort sah auch noch bei den Ruinen dieses Tempels vier schwer zu erkennende colossale Löwen …“ und einen Altar des Bacchus. Die Apollo-Statue stand unter einem gewaltigen eisernen (!) Palmbaum, der beim Sturm umstürzte und die Statue mit sich riss. (Fiedler)
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Fiedler findet die Reste eines alten Hafen-Bassins, das so klein ist, daß er es für eine antike Saline hält, und das Wasserbassin, das als Quelle des Flusses Inopos galt (der mit dem Nil verbunden sein sollte).
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Seit 1990 gehört die Insel zum UNESCO-Weltkulturerbe. Heute leben auf dem 3 Quadratkilometer großen Granitfelsen nur ein paar Museumsaufseher.
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Leben in das Museumseinerlei bringen die Ausflugsboote von Mykonos oder die Kreuzfahrtschiffe. Karges, totes, trockenes, sonnenverbranntes Land liegt da im September. Skelettweiß auf graugelb. Eine einzige geführte Reisegruppe ist bei unserem Besuch noch unterwegs, hier vor den Bodenmosaiken des Dionysos-Hauses:
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Die weltberühmte Löwenterrasse wirkt unfreiwillig komisch: Wie eine Reihe von angefressenen Styropor-Modellen, die ein Dekorateur demnächst mit Plastikfell bezieht, bevor er sie im Ferienpark aufstellt …
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Das Museum war nach unserer Besteigung des Kynthosberges (in der Mittagshitze) ein erstrebenswertes Ziel! Drinnen war es nämlich schön schattig! Und es wirkte so schön unfertig:
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Bei der Luftqualität der Insel brauchte der antike Friseur keinen Fön:
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Dieses Mosaikdetail weckte unsere Erinnerung …
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… hatten wir einen ähnlichen Vogel nicht vorhin oben auf dem Kynthos gesehen? Ein Jungvogel. Lebend … so gerade noch lebend, aber kaum bewegungsfähig war er. Krank, Angststarre? Aber … findet man auf der Insel nicht nur erwachsene Zugvögel?
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Wer konnte das erraten, wer konnte ihm helfen? Jedenfalls wirkte er paradoxerweise tröstlich: Ja, es gibt ein bißchen echtes Leben auf Delos …
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Bei der Rückfahrt auf dem Seelenverkäuferboot Niki hatte man den Vogel schnell vergessen. Die Strömungen um die Insel sind tückisch, dazu jetzt stürmischer Nordwind. Alles mußte ins Unterdeck des wild schaukelnden Boots, und wurde von der mit Spiegelsonnenbrillen und Lederjacken getarnten Besatzung dort “bewacht”. Gekotzt wird nur innen …! Draußen an der Reling ist es zu gefährlich. Da wirft die Brandung schon die Sardinen aufs Deck. Da mag dieser Anwalt („native speaker“, wohl aus den USA) noch so wild herumschreien von Schadenersatzforderungen. Zurück kommen wir immer, malaka, irgendwie, dafür habt ihr doch bezahlt …
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Die Niki, mal wieder zurück in Mykonos. Aber der Baedeker Griechenland von 1909 warnte ja auch schon: “Man benutze den ersten ruhigen Tag, da die starken Nordwinde die Reise oft für längere Zeit unmöglich machen.” Und weiter: “Der Ausflug hat nur für Archäologen Interesse.” Aha. Und die heute weltberühmten Löwen standen noch bescheiden am Ende einer acht Seiten langen Betrachtung der ausgegrabenen Objekte: “Nördlich vom See wurden 1906 auf einer Terrasse Reste einer Reihe von neun archaischen Löwen gefunden.”
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Delos war im 19. Jahrhundert immer noch in Gefahr, “planiert” zu werden – unter königlich-griechischer Herrschaft! Die unbewohnte Insel sollte zum Freihafen werden – als „Außenstelle“ des Hafens von Hermoupolis auf Syros.
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Reise durch alle Theile des Königreichs Griechenland in Auftrag der Königl. Griechischen Regierung in den Jahren 1834 bis 1837, in 2 Bänden, von Karl Gustav Fiedler, Leipzig 1841
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One comment

  1. Eine Nachtrag am Ende: Fiedler war der o.g. Piratengruppe, die bei seinem Aufenthalt auf Mykonos von einer lokalen, mit Gewehren bewaffneten, 30köpfigen Bürgerwehr festgenommen wurde, schon bei Karistos auf Evia begegnet (ohne daß der Geologe es bemerkt hatte).

    Aus Fiedlers Band II, Kapitel “Mykone”, Seite 260:

    “Es wurden nämlich während unserer Anwesenheit in einer Bucht an der Südseite der Insel 11 Räuber, die aus dem Gefängnissen von Chalkis entflohen waren und sich an der Ostküste einer Fischerbarke bemächtigt hatten, gefangen.”
    Der Anführer der Piraten, Kyparissos, war 1834 aus der Festung von Palamidia (Nafplio) gefohen.
    “Er erzählte mir, im Gebirg von Karysto, (…) hätte er mit 14 Mann im nächsten Gesträuch gelegen, um uns, wenn wir schliefen, zu überfallen, ich sei aber zu wachsam gewesen, so hätten sie sich nicht getraut über uns herzufallen; hätten sie nur Waffen gehabt, so wäre es uns anders ergangen.”
    Jetzt, auf Mykonos, hat die Piratengruppe auch nicht mehr als “ein schlechtes Gewehr und eine dergleichen Pistole” zur Verfügung.

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