Stundenholz und Minarett

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“Was nach Benzin riecht, ist für ihn (unseren Fotografen) entweder ein “Auto” oder ein “Fahrzeug”. Unser Wartburg ist leider nur ein “Auto” …”
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Mir ist wenig Reiseliteratur zum Thema Griechenland aus Quellen der DDR bekannt. Neben den Büchern von Thomas Nicolaou habe ich den Reisebericht zweier Mitarbeiter der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) von 1958: Herbert Otto und Konrad Schmitt. Sie waren mit dem Fotografen Jochen Moll im Wartburg-Kombi unterwegs. Sie legten in 161 Tagen 25.000 Kilometer zurück auf ihrem Weg durch Jugoslawien, Griechenland, die Türkei, Syrien, Ägypten, Lybien, Tunesien und Italien.
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Ungefähr zwei Drittel des ersten Bandes füllt der Bericht über Griechenland: Eine Abenteuer-Reise mit (mehr oder weniger) volkseigenem Fahrzeug in die kapitalistische Welt …! Ironisches Zitat: Wir fühlten uns als “Sputniks der DDR-Touristik”.
Ja, fremdes Land. Schon am Garda-See in Italien weigert sich der Geiger im Café, auf Wunsch der drei (ost)deutschen espresso- und spaghetti-begeisterten Reisenden “Bandiera rossa” zu spielen … 🙂 …
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Witzig: Meine allererste Fahrt in einem Pkw auf griechischem Boden war (1985, Lesbos) übrigens auch in einem Wartburg …
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1958 wurde allerdings anderes Gepäck mitgenommen als 1985. Nötig war 1958 ein Koffer “mit Winterkleidung, Suppenwürfel, Ersatzbändern und -batterien für das Mikrofongerät und Waschpulver. Daneben ist ein schwarzer Vorkriegslackkoffer eingekeilt. In ihm hängt unsere Eleganz: für jeden ein Trenchcoat, ein heller Tropical-Maßanzug und unser Stolz, die schwarzen Anzüge. (…) Kenner unserer Reiseländer hatten uns geraten: Wenn ihr eingeladen werden wollt, dann braucht ihr unbedingt schwarze Anzüge.”
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Weiterhin war nötig: Geschirr, Thermosflaschen, Wasch- und Schreibzeug, Wäsche, Lexika, Karten, Sprachführer, ein Stahlstativ, Blitzgerät, zehn Kameras, 800 Filme, Autoersatzteile, Zelt, Luftmatrazen, Schlafsäcke, Decken, Benzinkocher, Tisch und Klappstühle, Schreibmaschine, Ersatzreifen und und … sage einer, ein Wartburg-Kombi sei kein geräumiges Auto! (Auf der Rückfahrt wird allerdings in Rom das gesamte Gepäck aus dem Auto geklaut.)
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Die Autoren müssen für ihre Leser nicht die Antike beschwören, obwohl die Akropolis und Kap Sounion auf dem Programm stehen. Nein, sie erzählen ohne Schminke vom Alltag, gewissermaßen “voll aus dem Leben”. Schon bei ihrer ersten Übernachtung in der Nähe von Thessaloniki lernen sie die erste griechische Prostituierte kennen. Georgia. (Bildungsreisende verschweigen solche Begegnungen gewöhnlich.) Sie zahlen 40 Drachmen für eine Stunde ihrer Zeit (für ein Interview). Für 40 Drachmen hätte es im Restaurant drei Flaschen Wein gegeben.
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Beim Wartburg-Vertragshändler in Thessaloniki wird der Wagen durchgeprüft. Die Straße Richtung Larissa ist kaum befahrbar. Vor sechs Monaten gab es in Thessalien ein starkes Erdbeben. In Larissa dürfen sie in der Taverne zum ersten Mal in die Küche, um sich das Essen auszusuchen. Und sie sind entsetzt, daß sie in einem Land, das zu den “größten Tabakproduzenten der Welt” gehört, von Soldaten um Zigaretten angebettelt werden. Sie freuen sich, daß in Griechenland die Einfuhr von Coca-Cola verboten ist, staunen, daß ein Glas Orangenlimonade (portokalada) so viel kostet wie ein Kilo Apfelsinen auf dem Markt.
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Der Flohmarkt von Monastiraki unterhalb der Akropolis bietet wenig Romantik für sie: “Die Restprodukte der wohlhabenden Welt, von den Begüterten ausgesondert,  werden hier von den Armseligen in Besitz genommen. Das Heutige, das, was sie selbst herstellen, bleibt unerreichbar für sie. Nur das Gestrige ist erschwinglich.”
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Entsetzen über das politische Konzentrationslager auf Makronissos, Kopfschütteln über die Verschwendungssucht der griechischen Königsfamilie und über die Wallfahrt der Elenden auf der Insel Tinos: “Nur einmal jährlich findet das große Geschäft statt. Für die Händler von Tinos ist die Wunder wirkende Begabung der Gottesmutter bare, errechenbare Tatsache …” Und der Kirchendiener, der die Post ins Jenseits annimmt? “Er sieht die Leute dabei nicht an. Vielleicht ist ein Rest Gewissen in ihm. Denn er müßte wissen, daß sie alle um ihre Zuversicht betrogen werden; jeder einzelne hier, und vorsätzlich.” Die Spannung unter den delirierenden Wundergläubigen ist so groß, daß der Fotograf dringend aufgefordert wird, kein Blitzlicht zu benutzen. Man wartet nämlich auf ‘Erscheinungen’ …
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“Da wird der göttliche Segen vorübergetragen, und niemand ist, der auf Segen verzichten könnte. Sie stürzen in Scharen zur Straßenmitte, in gläubiger Wut und über die anderen her, die schon dort liegen. Polizisten schlagen dazwischen. Kinder, Krüppel, alte Leute. Das zweite Wunder von Tinos wird sein, wenn hier niemand zu Tode kommt.”
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Und die aus der Gegenwart geworfene Exotik des Mönchsberges Athos geht gegen ihre Auffassung von Aufklärung und Menschenwürde: “Grigoriu ist ein Arbeitskloster. Seine Insassen, Koinobiten genannt, haben keinerlei Besitz. Weniger als das. Sie haben sich selbst veräußert. Sie sind Leibeigene Gottes, Klosterbestand, Inventar.” Und der “dürre, knöcherne Ruf” der Stunden-trommel befiehlt sie unaufhörlich zum Gebet.
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“Wir waren freiwillig zum Athos gekommen und kehren als Flüchtlinge zurück. (…) Die Straße wird schlechter, je näher wir der türkischen Grenze kommen. Hier und da sind Moscheen in den Ortschaften stehengeblieben. Die Schwelle zum Orient ist nahe.”
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Eine moderne Entdeckungsfahrt ins Morgenland
Band 1: Stundenholz und Minarett
Band 2: Minarett und Mangobaum
Herbert Otto, Konrad Schmitt
Fotos: Jochen Moll
Verlag Volk und Welt, Berlin, 1958
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Texte wurden auch in der NBI veröffentlicht.
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3 comments

  1. Ich habe die oben beschriebenen Bücher schon mehrfach gelesen, da sie wirklich sehr interesant und gut geschrieben sind, die zahlreichen Bilder tun ein übriges.
    Ein kleines Problem ergibt sich jedoch jedesmal wieder für mich: im Band eins heisst es auf Seite 12: Bei der Passkontrolle in Marienborn müssen wir viele Fragen der Grenzer beantworten: Wann wollt ihr zurück sein? Kommt ihr wieder hier bei uns durch? Wo kann man eure Berichte lesen?…….
    Dann heben sich zwei schwarzrotgoldene Schlagbäume- mitten in Deutschland. Wir sind in der Fremde!- Nicht nur, weil wir für Würstchen und Kaffee im Rasthof Helmstedt bereits unsere kostbaren Devisenfonds angreifen müssen.
    Hier stellt sich mir die Frage, wie unsere Reisenden bei der angegebenen Route von Berlin nach Leipzig und weiter über Nürnberg nach München, über den Grenzübergang Marienborn im Westen gekommen sind, da die Fahrt doch eigentlich über Hirschberg im Süden gehen müsste.
    Habe ich hier einen Denkfehler, oder ist diese Ungereimtheit noch niemanden aufgefallen ?
    Wer kann hier helfen, da von den Autoren ja meines Wissens nach keiner mehr lebt.

  2. Hallo Maik, ich komme gerade heute aus Griechenland zurück, darum hat es 8 Tage gedauert, bis der Beitrag freigegeben wurde. Diese Umweg- und Schlagbaumwedelei hatte ich auch überlesen. Ich hatte ja auch immer Tag für Tag Westdevisen in der Tasche … 🙂 … da fällt einem das nicht so auf. Jetzt wollte ich über den Abschnitt noch mal kurz drüber lesen, aber ich finde in meinem Bücherchaos den Band überhaupt nicht …

  3. Ganz einfach, der Ort des Grenzübertritts wurde wahrscheinlich vorgeschrieben aus welchen Gründen auch immer.

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