Wallfahrer aller Länder, vereinigt euch?

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img_4633_a300 Dies ist eine Ergänzung zu meiner „Ela Maria!“-Seite. Wo ich die Illusionen der (meist weiblichen) Wallfahrer zur Panaghia Evangelestria Kirche auf Tinos überdenke. Nun, man kann auch zu ganz anderen Gründen zu einer Wallfahrt aufbrechen, nicht nur, um sein Seelenheil zu retten.
Jeder hat doch einen speziellen Fetisch. Jeder will erlöst werden, und wenn es nur von der Langeweile ist.
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Unsere fünfwöchige „Wallfahrt“ im Frühsommer 1980 durch England, Wales und Irland hatte mehrere Kreuzwegstationen, die angesteuert werden mußten: Das Dublin von James Joyce, William Turner in der Tate Gallery, die Bürgerkriegsfront in Belfast, Mount Snowdon in Wales. Und ein Nachmittag blieb für den Friedhof von Highgate im Norden von London.
Da finden sich weder biblische Reliquien noch wundertätige Ikonen, aber immerhin die sterblichen Überreste von Karl Marx, seiner Frau Jenny, seiner Tochter Eleanor, seines Enkels Harry und seiner Haushälterin Helena Demuth.
In einem von der Kommunistischen Partei Englands initiierten Denkmal, für das die UdSSR 1956 eine Portraitbüste gestiftet hat. (Die Chinesen haben gerade eine noch viel größere Statue gestiftet, für die Geburtsstadt von Karl Marx. Nun ja, Trier ist auch eine Art Wallfahrtsort …)
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Highgate hängt nicht von der Spendenfreudigkeit seiner Pilger ab. Nein, der Zugang zum alten Friedhof kostet heute 4 Pfund Sterling, die eine private Friedhofsstiftung kassiert.
Auf dem Friedhof wird heute noch bestattet, der Folkmusiker Bert Jansch zum Beispiel hat da seit 2011 sein Grab. Ja, was die Musik und das Vergehen angeht:
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Friedhof Highgate: Flügel von Steinway (oder Bechstein). Stammt noch aus der Zeit, bevor man herauskriegte, daß man solche Instrumente besser aus Holz baut.
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Das Denkmal ist nicht schwer zu finden. 1980 führte der einzige wirklich gepflegte Weg direkt dorthin. Dort ist eine zielstrebige Zahl von spanisch sprechenden Wallfahrern unterwegs mit roten Nelken in der Hand. Man legt die Blumen am Fuß der Gedenkstätte ab, posiert mit erhobener Faust unter Karls Bronze-Bart und läßt sich ablichten (noch ohne smartphones, keine selfies).
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Aber das habe ich erst später gesehen. Und nicht mal fotografiert. (Wer weiß, ob mich nicht einer für einen lateinamerikanischen Geheimdienstmitarbeiter gehalten hätte … 🙂 …)
Mich starrte nämlich aus dem verwilderten Londoner Friedhofsurwald diese Katze an (im vielfarbigen Guerilla-Tarnfell …).
Kamera hoch! „Wunderschönes Motiv vor diesen Grabsteinen, bleib mal sitzen, Genossin!“
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img899_20-22_A450 Die Katze denkt gar nicht darin, sitzen zu bleiben. Sie weicht aus, läuft immer ein paar Meter von mir weg ins grüne Chaos, verharrt, schaut sich um, sieht mich über Grabränder balancieren, freut sich, läuft wieder ein paar Meter weiter.
Wir haben uns mit dieser „stop-and-go“ Verfolgung schon fast hundert Meter vom Zentrum des Wallfahrer-Interesses entfernt, als sie wieder abbremst. Auf einer recht neuen Steinplatte, die zwischen die alten Gräber eingelassen ist.
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Ist nicht wahr! Das hier ist der Platz, an dem Karl Marx wirklich begraben wurde!
Zwischen lauter Leuten „aus dem Volk“, an die sich niemand mehr erinnert. Karl Marx gehörte ja auch nicht zu den Reichsten im Land.
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Im November 1954 hat man hier den Spaten angesetzt, um die letzten Reste der Familie Marx zum Denkmal zu transferieren.
Ich richte die Kamera auf die Grabplatte und die Katze verschwindet im dichten Gebüsch. Wie ein kubanischer Guerrillero in der Sierra Madre.
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Und eine rote Nelke habe ich natürlich nicht bei mir …
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… auch nicht so einen protzigen Kranz, wie ihn Nikolai Bulganin (damals Ministerpräsident der Sowjetunion) und Nikita Chruschtschow (Erster Parteisekretär) 1956 am neuen Denkmal niederlegen:
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„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ (1848, Kommunistisches Manifest) Hat das jemand mal gelesen? Ich nicht. (Nebenbei: Welcher Christ hat schon das Neue Testament gelesen …?)
Das Video anzusehen, würde ich trotzdem empfehlen.
Mit welch geringem Aufwand so ein Staatsbesuch damals stattfand, ein paar Londoner Bobbies, ein paar getarnte oder uniformierte Sicherheitskräfte, ein Häufchen Pressefotografen. Was macht dieser Typ mit der Aktentasche (!) direkt neben den höchsten Repräsentanten des Ostblocks?
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Ich habe zuletzt nach Berichten von heutigen Denkmals-Besuchern gesucht. Niemand erwähnt das echte Grab. Nur ist der alte Teil des Friedhofs inzwischen so dicht von Efeu, Wildblumen und Sträuchern überwuchert, daß man den Platz gar nicht mehr finden kann?
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Viele Besucher finden den Friedhof unheimlich. Unheimlich fand ich eher die U-Bahn-Station von Highgate. Aber die ist inzwischen aufgehübscht und kein Drehort mehr für einen Edgar Wallace Krimi:
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Schöne Szene aus dem Film „High Hopes“ von Mike Leigh, 1988
(Kleine Hilfe: Klicken Sie erst auf den Wiedergabe-Pfeil, dann auf den Satz “Schau dir dieses Video auf YouTube an” – das ist ein Link zum Video.)

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Am 15. August hat die Panaghia Evangelestria ihren wichtigsten Termin, dann ist Tinos voll mit Wallfahrern. Am 5. Mai hat Karl Marx Geburtstag, 2018 zum 200sten Mal. Wäre ja auch ein schöner Termin für Pilger. Man muß nur an Marias Himmelfahrt oder Karls Weltrevolution ganz fest glauben …
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2 comments

  1. Und schon mal vormerken:
    Groucho Marx, 200. Geburtstag am 02.10.2090
    Chico Marx, 200. Geburtstag am 22.03.2087
    Harpo Marx, 200. Geburtstag am 23.11.2088

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