Annäherung an Samothrake – 1876 / 2021 Teil 1

Pachia Ammos, Blick auf Imbros (Gökceada)

Franz von Löher, 1876: „Es ist ganz unglaublich, wie sehr Samothrake von aller Welt abgeschlossen ist. Läge die Insel einsam im weiten Stillen Ozean, sie könnte nicht
verlassener sein.“

Noch im Spätsommer 2021 ist Samothrake ein melancholisch-stiller Platz. 1876 war es noch völlig im abseits. Vor Franz von Löher, der die in Insel im Jahre 1876 besuchte, waren in zwanzig Jahren gerade mal zwei Reisende aus Europa auf der Insel! Kamariotissa – der Hauptlandeplatz – hat noch keinen Hafen, es steht dort nur ein einziges Haus.

Nebenbei: Es gab damals eigentlich nirgendwo einen Hafen. Ion Dragumis‘ Schiff ankert 1909 vor der Küste von Paleopolis, weit draußen. Anlegen ist unmöglich. Dragumis läßt sich auf den Schultern eines Matrosen an Land tragen. Dem Matrosen steht das Wasser bis zur Brust.

Fremde haben selten etwas Gutes auf die Insel gebracht. An die Massaker der osmanischen Armee auf der Insel nach der Niederschlagung des ersten griechischen Unabhängigkeits-
kampfes (1821) erinnert man sich noch gut.
Samothrake, Thassos und Limnos gehörten bis 1912 zum Osmanischen Reich, hatten aber zum größten Teil seit Jahrhunderten nur eine griechische Bevölkerung. Auf Thassos lebte damals kein einziger Türke, auf Samothrake ein türkischer Beamter und vier Polizeisoldaten. Auf Limnos sind zehn Prozent der 4500 Einwohner Muslime, es gibt auch eine Moschee.

Löher kommt mit einem Segelkutter aus Kavalla, mit einer fünfköpfigen türkischen Mannschaft. Vor Kavalla hat man ihn in Konstantinopel noch gewarnt: „Dieses Cavalla soll noch ein ächtes Brutnest von alttürkischem Fanatismus sein.“
Das Boot hat er „für sich und seine Reise- und Lebensgefährtin“ zunächst für 12 Tage
gechartert. Bis zum Ziel Smyrna dauert die Reise allerdings 26 Tage. Thassos war die erste Zwischenstation.

Löher: „In erster Frühe setzten wir unseren Weg längs der Küste (von Samothrake) fort und entdeckten nach einer Weile ein Haus mit einer großen Umzäunung. Davor lagen auf den Strand gezogen sieben ganz kleine Segelschiffe, bei denen sich Leute bewegten. Wie wir aber ans Ufer stiessen, ergab sich, dies sei die Kamariotissa, der Hauptlandeplatz der Insel. Unser Schiff war das einzige auf dem Wasser. (…) An dem Häuschen am Strande war ein ärmliches uraltes Kirchlein angebaut, in dessen Halbdunkel bei vielem Lichterglanz und bunten Lämpchen ein alter Pope Hochamt hält.“
Löher hatte auf Kaffee und Wein gehofft. Vergeblich. Vor der Kirche schmoren Hammelfleisch und Trockenfisch im Topf. Die Portion verputzt der geistliche Herr ganz alleine …

Wir kommen 2021 mit meiner Lieblingsfähre, der schon etwas betagten Adamantios Korais. Baujahr 1987. Und Kamariotissa ist inzwischen ein kleines „Insel-Zentrum“. Hier gibt es alles nötige, vom Autovermieter zur Apotheke, vom Bäcker zur Bank, Taxi und Taverne, Pension, Polizei und Pizzeria, Supermarkt und die einzige Tankstelle der Insel. Aber ich möchte hier auch keinen Winter überstehen müssen …

Kamariotissa

Löher schaut sich um: „Insbesondere fesselte mich eine sandige Halbinsel, die weit ins Meer hineinschnitt wie ein scharfes spitzes Dreieck, dem noch eine Landzunge angesetzt war. Der Doppelglanz von zwei kleinen Seen stand darauf. Dieses westlichste gelbsandige Inselende, Akrotiri genannt, ausgenommen, war ringsum ein einziges Grünen und Blühen!“

Auch unser erster Weg geht zum westlichen Ende von Akrotiri.
Vorbei an Aghios Nikolaos Eine herbe Idylle ….
Rückblick auf Kamariotissa und die Saos-Gebirgskette.

Löher reist im Frühjahr, wir leider erst im Spätsommer. Löher stellt sich vor, daß der größere der beiden Binnenseen durch einen kurzen Kanal mit dem Meer verbunden werden könnte, dann hätte die Insel doch einen richtigen Hafen! Vor einigen Jahren hat man auf der Halbinsel einige Windräder aufgestellt, was im Ort Kamariotissa auf Mißfallen stieß. Die Windräder sind längst wieder abgebaut.

Chora, heute

Um den Hauptort der Insel – Chora – anzusehen, kann nur ein einziges Pferd aufgetrieben werden, „es wurde für meine Frau nothdürftig angeschirrt“. Für Löher, Kapitän Mustapha und zwei Leute aus seiner Mannschaft bleiben Esel oder Maultiere.
Löher: „Auf halbem Weg kamen uns noch zwei Pferde entgegen: es hatte sich in der Landschaft verbreitet, daß nicht nur ein Mylordos – so heißt jeder Franke, der nicht Handelsmann ist – sondern auch eine wirkliche Mylorda mit Hut und Schleier gelandet sei. Schon kamen Frauen hie und da aus den Feldern, und standen am Wege, um eine europäische Dame zu sehen. Denn dergleichen Anblick hatte keine Sterbliche auf der Insel genossen, und wahrscheinlich ihre Mütter und Großmütter auch nicht.“

Hm, Katharina, ob die Neugier auf eine “europäische Mylorda” auf den grenznahen Inseln (Samothrake, Limnos, Aghios Efstratios) heute immer noch so wach ist? Jetzt aber bei hoch-
nervösen männlichen Personen in Uniform? Wegen Spionageverdacht?  🙂

Löher: „Nur eine einzige Ortschaft hegt die Insel: diese hat auch keinen anderen Namen als die Chora d.h. die Ortschaft, und liegt anderthalb Stunden vom Meer entfernt. Darin wohnen etwa 2000 Menschen. (…) Jene Ortschaft liegt in einer tiefen kühlen Schlucht. Auf dem Grunde fließt ein Bach. An den beiden Schluchtwänden bauen sich die erdgrauen Häuschen mit platten Erddächern auf, gerade wie Mauerreihen übereinander, in denen sich dunkle Thür- und Fensterlöcher befinden. Auf dem höchsten Punkt trauert eine zerrissene altersgraue Ritterburg.“
Löher: „Kaum waren wir oben im Ort vor dem Kramladen abgestiegen, so waren auch schon der Aga, der Pope, der Ortsvorsteher, und eine Menge Männer da, uns zu begrüßen, zitternd vor Neugier.“
Kapitän Mustapha versteht den lokalen Dialekt nicht. Aber der Krämer und ein weiterer Mann sprechen die lingua franca (französisch).
„Bestürmt mit Einladungen nahmen wir endlich eine an, zu der, wie es schien, vornehmsten Frau im Dorfe, um ihre Einrichtung zu sehen. Auch sie bewohnte ein Häuschen mit einem Erdgeschoß unten, das zu Scheune und Keller diente, und oben waren zwei Stübchen und ein Raum für den Feuerherd, zu welchem von außen eine hölzerne Treppe hinaufführte. (…) Die ganze Einrichtung des Häuschens erschien sauber und behaglich.“


Löher steigt zur Burgruine hinauf, findet die beiden Wappen- und Text-Inschriften auf den Marmorplatten, und wird uns die Geschichte der Gatteluzzi, der früheren Burgeigner, ganz ausführlich erzählen. Hm, das lassen wir hier mal weg …
Samothrake war während der Herrschaft der italienischen Fürsten auch nur ein Nebenplatz in deren Inselreich. 1462 übernahmen die Türken die Herrschaft und führten sich mal wieder mit dem üblichen grausamen Massaker auf der Insel ein, das kaum jemand überlebte. 1876 ist die Insel noch „Moscheengut“, die Einkünfte dienen zum Unterhalt der Mahmut-Moschee in Konstantinopel.

Löher schaut von der Burg auf den Ort: „Es ist ein seltsames Bild von hier oben herab, weil man nur auf Reihen von Dachplatten blickt. Auf jedem dieser flachen Erd- und Lehmdächer lag eine kleine Marmorsäule, um von Zeit zu Zeit die Erde wieder fest zu rollen. Man kann
trefflich die Marmorstücke aus der antiken Stadt benutzen, und im Ort ist ein Steinmetz, der das schönste Stück altgriechischer Bildnerei zu einer glatten runden Säule zusammenhaut.“
Das hat sich geändert.
Aber es kann nie genug Schutz gegen den Nordwind geben. Die Dächer sehen darum heute so aus:

.

Abschied von Chora. Löher: „Noch auf den letzten Häusern standen Gruppen, die sich lebhaft unterhielten. Wenn wir vorbeikamen, rissen sie die Augen auf, und kaum drehten wir den Rücken, so ging das Schwätzen wieder los.“
Chora ist nicht der einzige Platz auf Chora, den Löher aufsucht. Dort wo heute die Küstenstraße am Ufer des Meeres entlang führt, ist es noch an vielen Stellen weglos.
Man reitet über den Strand.

Und was war mein Eindruck von Chora?

Wir hatten vorher Akrotiri, Palaeopolis, Therma, Kap Kipos ganz im Osten und die Fonias-Wasserfälle besucht – das heißt: Genau genommen, hatten meine unfalldauergeschädigten Knie Palaeopolis und die Fonias-Schlucht verweigert. Antike Stätten und Wasserfälle sind keinen Aufenthalt in der Ambulanz-Station in Chora wert, war ihre Meinung. Aber der Frust war nur gering. Es waren schöne Tage. Dazu später (siehe Teil 2).

Chora, steile Wege am Ortseingang. Links das Café Stathmos.

Auch der erste Eindruck von Choras steilen Wegen beeindruckte mich und meine Knie nachdrücklich. „Das ist nicht mein Ort, ich bleib unten!“ hatte ich noch zu Katharina gesagt, bevor sie Richtung Festung hinaufstieg. Ich saß erst einmal im Café Stathmos und schaute auf die Karte (Terrain, 1:25.000, sehr detailliert).
Moment, da geht doch eine kleine Straße außerhalb des Ortes hinauf zur Burg! Ein schmaler Abzweig von der Straße zur Küste, nur 500 Meter aufwärts! Karte zusammengefaltet, Getränk bezahlt, und los.

Rückblick. Kurz vor dem Abzweig zur Burg.
Na bitte, oben! Der Zugang ist nicht ganz barrierefrei …
Aber man darf ohnehin nur einen gewissen Bereich betreten …

Vor dem Eingang zur Burg sitzt auf einer Bank ein älterer Herr, der dort oben wohnt. Ist 81 Jahre alt, hat von 1958 bis 1980 in Stuttgart gelebt, spricht immer noch recht gutes Deutsch. Hat er „gelernt in Schwobeland“. Längerer smalltalk. Er hatte mich schon die Straße hinaufsteigen gesehen – ob ich jetzt den anderen Weg durchs Dorf hinunter wolle? Um Himmels Willen, nein …

Abwärts durchs Dorf. Im Foto sieht es so harmlos aus.
Aber für meine Knie ist abwärts schlimmer als aufwärts …

Falsch, ganz falsch …. Wir kommen ein zweites Mal nach Chora. Katharina ist sicher, daß ich den Weg durchs Dorf schaffe. Nur der Anfang sei steil. Die „Hauptstraße“ hätte sonst nur eine geringe Steigung, und die Cafés oben seien so viel schöner als die im Talgrund. Stimmt. Der Ausblick vom Balkon des Café Trapeza ist beeindruckend. Wäre jetzt einen feierlichen Tsipouro wert, aber mein Magen verlangt nach Kräutertee.

Blick auf Chora vom Café Trapeza.
Café Trapeza, Kräutertee für beide …

Es ist tatsächlich ein Spaziergang nach oben, vorbei an kleinen (vormittags noch leeren) Lokalen und kleinen Geschäften – plötzlich biegt man um die letzte Ecke und tatsächlich, da ist der Eingang zur Burg! Gemütlich wieder runter. Ab und zu begegnet uns sogar ein Auto! Wenn es mit dem Auto noch irgendwie geht, geht der Grieche ja nicht zu Fuß …

.
Immer wieder erweitert sich die “Hauptstraße” zu einer kleinen Terrasse.

Der schönste Ort der Insel? Zweifellos Chora. Katharina deckt sich beim Bäcker noch mit einer Auswahl aus seinem Sortiment ein (echt lecker, die Käsestangen).

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Zitate aus:

Griechische Küstenfahrten
Franz von Löher
Velhagen & Klasing, Bieleld und Leipzig, 1876

Samothrake (1909)
Ion Dragumis
Rütten & Loening, Potsdam 1942

Dragumis ist einer der ersten griechischen Autoren der Neuzeit, der einen Reisebericht über das eigene Land schreibt. Er setzt dabei aber Schwerpunkte, die heute nicht mehr so relevant sind.

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