Fahrradreise durch den Balkan – 1908 Teil 1

Erste Fahrradreise 1908 – Serbien Bosnien


Schon im Bois de Boulogne ist das Radfahren ein Abenteuer, aber erst die Waldwege des Balkan fordern einen wirklich heraus …

Halt! Stellen wir das Radfahren noch ganz kurz zurück. Es gibt ja auch andere Abenteuer 🙂 :

Da habe ich gerade im Text über Achmed Beh’s Nachtklub darüber geschrieben, wie
bestimmte Umstände – die den Leser nichts angingen – bei einem Balkan-/Orient-/Hellas-Reisebericht geflissentlich verschwiegen wurden, da fällt mir zufällig dieses Buch in die Hände:

Im Bannkreise des Balkans         
Karl Sokolowsky
P.J. Oestergard Verlag, Berlin, 1926
2 Bände, 340/350 Seiten

Da lese ich: „Nach kurzer Zeit, nachdem ich mich vom Staub des Tages befreit hatte, saß ich denn auch im Speiseraum des Gasthofes (wo ihm ‚Einzigartiges‘ versprochen wurde).
Mit dem “Einzigartigen“ hatte mein freundlicher Führer, wie mir sehr bald klar wurde, die schwarzäugigen Heben* gemeint, die in liebenswürdiger Art sich zu den Gästen gesellten. Wo heiße Blicke nicht genügten, da nestelten kokette Händchen wohl sehr leichte Umhüllungen von schwellenden Formen und gaben den Blicken Gelegenheit zu vorübergehender Augenweide – doch man muß viel sehen und noch mehr – verschweigen können.“
* altgriechisch: Göttin der Jugend

Da ist Sokolowsky erst ein paar Tage unterwegs!

Später findet man u.a. noch den Satz: „Kräftige Bejahung heiteren Lebensgenusses ist mir doch zehnmal lieber, als scheinheiliges Muckertum.“

Sokolowsky legt die Strecke seiner Reisen (Serbien, Bulgarien, Bosnien, Rumänien, Makedonien, Albanien, Istanbul) mit dem Fahrrad zurück, was um das Jahr 1908 herum in Berlin auf Unverständnis und Entsetzen stößt. Und er macht gleich drei solcher Fahrradreisen!
Es sollte später noch eine vierte Reise kommen, nach Griechenland, aber es kam etwas dazwischen … nein, nicht die Spanische Grippe

Immerhin sieht er auf seiner dritten Reise einiges von Makedonien, das damals noch unter osmanischer Herrschaft stand. Das südliche Makedonien und Thrakien gehören erst seit dem Balkankriegen (1912/1913) zu Griechenland.

Sokolowsky: „(So) konnte man doch im Jahre 1908 noch die Erfahrung machen, daß selbst bei gebildeten Leuten die Kenntnis über die Länder, ihre Völker und Sitten noch häufig recht mangelhaft war.

Das erfuhr ich, als ich in dem genannten Jahre den Plan faßte, Serbien, Bulgarien und Bosnien auf dem Rade zu durchreisen. Hätte ich die Absicht geäußert, mich zu einer vierwöchigen Bade- und Schwitzkur nach dem Nordpol begeben zu wollen, hätte das kaum mehr Verwunderung erregen können.
Am ehrlichsten war noch derjenige Herr, der mir gegenüber meine Eignung für eine nördlich von Berlin liegende (Irren-)Anstalt betonte.

Ein sehr gebildeter Herr äußerte mir gegenüber:
‚Aber, mein Lieber, weshalb wollen Sie denn ausgerechnet nach Serbien und Bulgarien, diesen halbwilden Ländern, reisen? Weshalb fahren Sie nicht lieber nach dem Harz?“
Ich wies ihn darauf hin: Es seien doch auch andere Leute schon nach jenen Ländern gereist, und man könne wohl mit einiger Sicherheit annehmen, daß die Völker über die ersten Anfänge des Kannibalismus schon hinaus seien.“

(…) Auf derartige Äußerungen war ich in Deutschland gefaßt. Nicht darauf gefaßt war ich aber, vom Tourenklub in Wien auf dem Wege über den Deutschen Radfahrerbund vor der Reise (…) gewarnt zu werden, daß man von dort aus wegen der elenden Wege und noch elenderen Sicherheitsverhältnisse keine Reisen nach Serbien unternehme.“


Sokolowsky sucht also zunächst Mitreisende, findet aber niemanden. So macht er sich alleine auf den Weg. Serbisch und Bulgarisch hat er gelernt, Insektenpulver in der Tasche, auch eine Kamera. Den Weg von Berlin nach Wien macht er an einem Junitage mit dem Zug.
Er legt immer wieder mal Strecken mit dem Zug oder dem Dampfer zurück. Er geht zu Fuß, muß sein Rad schieben, mietet Pferde (Pferde bringen ihm kein Glück …). Aber schon auf der ersten Reise legt er laut “Wegemesser” angeblich 2200 Kilometer im Fahrrad-Sattel zurück: „Ich habe im ganzen 2200 Kilometer auf den Straßen des Landes zurückgelegt und kann nur sagen, daß die Straßen (bei trockenem Wetter) fast überall gut fahrbar waren.“

Auf manchen einsamen Strecken ist ihm etwas unheimlich zu Mute. (600 bis 700 Menschen sterben in Serbien jährlich durch Mord oder Totschlag.)
Einmal glaubt er, daß auf ihn geschossen wurde. Einmal finden er und sein Pferdeführer die Leiche eines gerade ermordeten Viehhändlers auf einem Waldweg. Das ignoriert man besser, so wie es die unterbezahlte serbische Polizei auch tut: “Da wir selbst uns mit der Fortschaffung (der Leiche) nicht befassen konnten, (…) häuften wir Äste und Reisig darauf und beschwerten alles zum Schutz gegen wilde Tiere mit einigen Steinblöcken. (…) So bleiben viele Verbrechen unaufgeklärt, und die Unsicherheit steigt.”
Immerhin sagt sein Führer im nächsten Dorf kurz Bescheid …

Aber gewöhnlich überwältigt ihn die Gastfreundschaft der Leute auf dem Land. Übernachten kann man überall, wenn man keine großen Ansprüche an Komfort und Hygiene hat:
„Es war (im Gasthof)  außer Seife, Kamm und Bürste sogar eine – Zahnbürste für den gemeinschaftlichen Gebrauch der Gäste vorhanden, zwar vom Zahn der Zeit schon sehr angenagt, aber noch verwendbar.“

Die Reisekosten sind gering. In Serbien zahlt er in einem Wirtshaus für drei gebratene Forellen und Wein 80 Pfennig.  Für 80 Pfennig kriegt man in Berlin zwei Gläser Bier oder zwei Tassen Kaffee.

Als Radfahrer ist er oft eine Sensation: „Von einem Berge sprangen in eiligem Laufe zwei Hirten herab, mir schon von ferne zurufend und winkend. Vom Rade steigend, erwartete ich die beiden, die atemlos herankamen, mir zur Begrüßung die Hand reichten, und sich dann staunend das Rad in allen seinen Teilen ansahen und es betasteten. Sie hatten noch nie einen Radfahrer gesehen und waren vor Verwunderung darüber außer sich, daß man auf so einem kippenden Dinge fahren könne. Auch die Luftpumpe fesselte sie sehr.“
Und später, nachdem er auf dem Rad eine Rinderherde unabsichtlich in eine panische Flucht getrieben hatte: „Wie mir die Dörfler hier erzählten, war ich der erste Mensch, der auf dem Fahrrade durch ihr weltabgeschiedenes Dorf kam.“

Die Landschaftsaufnahmen Sokolowskys sind qualitativ nicht überzeugend (siehe Nachtrag am Ende der Seite).

Aber nicht alle Bergstrecken sind mit dem Fahrrad zu bewältigen. Oft ist eine ‚Straße‘ nur ein Ziegenpfad, stufig, schmal und überwuchert. Das berühmte Rila-Kloster in den Rhodopen kann Sokolowsky 1908 nicht erreichen. Und „die Glut der Sonne war allmählich unerträglich geworden“.

Und den Belastungen hält das Fahrrad auch nicht immer stand: „Die Besichtigung dieser Gegend wurde mir leider durch einen unterwegs nicht ausbesserbaren Luftschlauchschaden vereitelt, der mich zwang (…) die Eisenbahn bis Sarajewo zu benutzen.“

Die deutschstämmige Wirtin in Sarajewo serviert Beefsteak, Bratkartoffeln, Salat und Bier, will wissen, warum ihr Gast unterwegs ist. Antwort: „Ich reise nur zu meinem Vergnügen.“ Kann sie nicht verstehen: „Wenn i an Vergnügen haben will, fahr I net in anderer Herren Länder umher.“ Nachdem er die Teller restlos geleert hat, räumt sie zufrieden ab und grinst: „Schaun’s, dös nenn i ein Vergnügen.“

Als er eines Morgens losfährt, überholt ihn ein Offizier auf dem Motorrad. Aber kurz darauf holt ihn unser Radfahrer schon ein. Ein spitzer Stein hat „ein gewaltiges Loch in die Laufdecke des Hinterrades des motorisierten Renners“ gerissen, dazu zwei Löcher im Luftschlauch.
Sokolowsky: „Glücklicherweise führte ich für derartige Fälle stets große Stücke einer alten Laufdecke bei mir. Mit vereinten Kräften besserten wir erst den Schlauch aus. Dann unterlegten wir mittels eines größeren Mantelstücks das Loch in der Laufdecke. Als der Luftschlauch wieder aufgepumpt war, zeigte es sich, daß man dem Rade eine weitere Fahrt getrost zumuten konnte.“

Sokolowsky  interessiert sich für den Alltag und die Gegenwart viel mehr als für die Geschichte, die Antike. (Deswegen lenkt er sein Fahrrad auch nicht vorrangig ins klassische Griechenland!) Das hat einen großen Vorteil für uns Leser: Er schreibt nicht seitenweise aus dem Reiseführer Texte über Sehenswürdigkeiten ab – wie es so viele andere Autoren tun!
Aber er notiert akribisch amüsante Kleinigkeiten, die man natürlich hier nicht alle nennen kann.
Beispiel: An den Frauen „der katholischen Bosniaken“ fällt ihm die allgegenwärtige Tätowierung auf, am Arm, an der Hand, auf der Stirn, häufig im Brustausschnitt:
„Ich kann aber nicht gerade behaupten, daß die Zartheit der weiblichen Brust durch diesen barbarischen Schmuck gehoben würde.“

09.04.2021 Nachtrag zu den Fotos:

Sokolowsky fotografierte angeblich mit einer (Glas-)platten-Kamera. Das ist extrem unpraktisch, wenn man unterwegs ist, denn die Ausrüstung und das Negativmaterial sind ziemlich schwer. Es mag Glasplatten mit verschieden großen Formaten gegeben haben, vielleicht gab es damals auch eine Minimal-Ausrüstung, die man sogar auf dem Fahrrad mit sich führen konnte. Aber ich kann es mir kaum vorstellen, denn 1908 war die Kodak-Box-Kamera mit Rollfilm schon weit verbreitet …

Zur gleichen Zeit war auch der Schweizer (Profi-)Fotograf Fred Boissonnas in Griechenland und auf dem Balkan unterwegs. Er benutzte ebenfalls eine Plattenkamera, und er hatte gewöhnlich Assistenten dabei. Es gibt ein Foto von 1913, das zeigt, wie sein Team auf einem Feldweg bei Konitza mit dem Auto unterwegs ist. Seine Aufnahmen waren immer gestochen scharf und konnten großformatig abgezogen werden.
Im umfangreichen Katalog der Ausstellung “Images of Greece” (2001/2002 Rizarios Foundation) sind viele Fotos so großformatig abgebildet, daß sie mein Scanner nicht erfassen kann (Abbildungen bis zu 40 cm Breite, mein Scanner schafft nur DIN A4).
Fragen Sie mich nicht: “Kriegt man den Katalog noch igendwo?”
Die Antwort wäre: “Das ZVAB bietet zur Zeit nur ein einziges Exemplar an, für knapp 300 Euro.”
Originalpreis war 52 Euro.

Boissonnas war auch auf Kreta, auf einer seiner Rundreisen. Hier das Ergebnis dieser Reise, in 10 kindersarggroßen Holzkisten, fotografiert im Hafen von Chania, kurz vor dem Verladen aufs Schiff:


> WEITER ZUR ZWEITEN FAHRRAD-REISE (1909)
> WEITER ZUR DRITTEN FAHRRAD-REISE (1911)
< ZURÜCK ZUR STARTSEITE

Leave a comment