Thomas Münster und Kreta

50er Jahre: Kretische Hirten beim Mittagessen
Quelle: Alle Fotos aus “Reise nach Europa”

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Reise nach Europa – Ein Bericht aus Kreta
Thomas Münster
Verlag Ludwig Auer Cassianeum/Donauwörth

undatiert (1961)

Der Titel verspricht einen Reisebericht. Ja, ist anfangs auch einer. 🙂 Anfangs  erinnert Thomas Münster sich an seine erste Kreta-Reise im Jahre 1931 (da war er 19), aber er schreibt den Bericht erst 25 Jahre später. Dafür, daß er darum Dialoge „frei nachempfinden“ muß, bittet er die Leser um Entschuldigung.

Münster ist fast ohne finanzielle Mittel unterwegs, meist zu Fuß, er übernachtet gerne im Freien. Das Ticket für die Nachtfähre „Theseus“ von Piräus nach Kreta kann er sich nicht leisten, aber für einen Bruchteil des Preises versteckt ihn ein Besatzungsmitglied im Laderaum. Zunächst in einer Art „Besenkammer“. Nach zwei Stunden wird oben die obligatorische Passagier-Ticketkontrolle durchgeführt. Danach wird ihn der Zahlmeister nicht einmal mehr mißtrauisch ansehen. Münster kann raus, kriegt übriggebliebenes Abendessen und Wein aus der Bordküche, wie der Rest der einfachen Matrosen, und übernachtet in einem Rettungsboot.

In Souda verläßt er das Schiff und macht sich auf nach Süden. Glaubt er jedenfalls. Schon bald wird er „eingefangen“ durch die Gastfreundschaft eines Bauern, Michaly. Der macht ihn mit seinen zukünftigen Schwiegereltern und mit den Dorfältesten bekannt. Münster freut sich, daß sein Schul(alt)griechisch hilft, sich zu verständigen. Und er lernt schnell dazu. Bald hat er Einladungen für mehrere Tage, die er nicht ablehnen darf, ohne die Gastgeber zu beleidigen.

Bis auf einen kurzen Ausflug nach Chania kann er sich aus der Dorfgemeinschaft nicht lösen. Hier ist die Malaria noch nicht besiegt. Viele Bauern glauben, ihre Insel sei das Zentrum der Welt, aber sie kennen sich nur aus bis zum nächsten Nachbardorf.
Es gibt Ausnahmen, wie Münsters neugewonnener Freund Mino. Mino, der ein paar Tage später am Malariafieber stirbt, weil er sich weigert Chinin einzunehmen.
Von Mino stammt der Satz: „Diese Insel ist mehr als
irgendeine Insel – diese Insel ist Europa.“

Nach der Trauerfeier kann Münster weiterziehen. Es gibt kaum befahrbare Straßen, keine Orts- oder Wegweiser, also verläuft sich Münster – ohne Kompass und Karte – auf seinem Weg „nach Süden“ und landet irgendwann im Südosten, nicht weit von Rethymnon.

Unterwegs auf Hirtenpfaden, trifft Münster kaum jemanden. Wenn ihm mal Frauen oder Kinder begegnen, drehen sie um und rennen schreiend davon. Beim ersten Mal ist Münster irritiert: Haben sie Angst vor ihm? Sieht er etwa aus wie ein Straßenräuber…?
Doch als er durch das nächste Dorf kommt, da steht auf der Platia der von den Frauen alarmierte Dorfälteste, eine Frau hat ein Tablett in der Hand: Raki und Rosinen.
Was jetzt? Doch nicht schon wieder durch die Gastfreundschaft verhaftet werden …?

Münster: „Und es gab keinen Zweifel, die Frau hielt ein Brettchen – ein Tablett – in der Hand. Ohne daß ich es mit einem schnellen Blick erkennen konnte, wußte ich, daß sie darauf ein Glas Raki und ein paar Rosinen trug. Man hatte mich also begrüßen wollen, aber ich war vorbeigegangen, weil ich mich gekränkt fühlte. ‚Da habt ihr selbst Schuld‘, sagte ich vor mich hin, ‚warum seid ihr auch so unbeholfene Leute.‘ Ich wußte in diesem Augenblick noch nicht, daß ich selbst es gewesen war, der sich wie ein Holzklotz benommen hatte. Nicht aus bösem Willen zwar, sondern weil ich das Volk hier noch zu wenig kannte und mir nicht erklären konnte, warum man schreiend vor einem Fremden davon laufen muß.“

Der Vorgang wiederholt sich. Münster lernt: Er muß (wenigstens manchmal) so tun, als verstehe er weder die freundliche Geste, noch die Worte zur Begrüßung. Einfach weitergehen. Es ist manchmal besser, für einen Idioten gehalten zu werden …

Münster erinnert sich daran, wie ihm Mino mit einfachen Worten die widersprüchliche und phantastische Geschichte der griechischen (also im lokalen Sinne kretischen) Sagen erläutert hat: Die Festlandsgriechen waren ja längst nicht zu so früher Zeit so kultiviert wie die Kreter (die Minoer), die im Zentrum des östlichen Mittelmeers lebten und Verbindungen in alle bekannte Welt hatten und deren vielfältige Kultur absorbiert hatten …

Nebenbei: Ich hatte mir als Kind – zu meinem zehnten Geburtstag „Die griechischen Heldensagen“ gewünscht, Bertelsmann Lesering, edles Halbleder, dicker als das Telefonbuch – und hatte nichts davon verstanden.
Wer waren diese Helden und wie viele waren es, in wie vielen Erscheinungen existierten sie gleichzeitig, was hatten sie gemeinsam …? Die Welt der Mythen und Sagen blieb mir verschlossen.

Hätte ich damals nur mal Minos Erzählung gehört, die Münster interpretierend weiterführt:
Vom Ahnenkult zum Heldenkult und zum Götterkult, wie hinter jeder unerklärlichen Naturerscheinung eine geheimnisvolle übermenschliche „Person“ stand …

Münster: „Der Versuch, das Weltganze zu erklären, schließt zugleich den Versuch ein, auf das Undurchschaubare, Unheimliche und oft sogar Bedrohliche Einfluß zu gewinnen. Denn da die Götter menschenähnliche Wesen sind, so verhalten sie sich auch ungefähr wie Menschen.
(Es ist) eigentlich ganz selbstverständlich, daß Stier, König und Gott bei den getreuen Untertanen zu einer einzigen Person verschmelzen.“

Egal. Griechische Mythen kann/will ich auch heute noch nicht verstehen.

Trotzdem: Das Buch ist voll mit Anekdoten, die man heute, fast ein Jahrhundert später, nicht mehr erlebt. Da ist diese alte Frau, die ihre Ziegen hütet und Münster nach seiner Herkunft und Familie ausfragt: Wie, seine Eltern haben keine einzige Ziege? Was müssen das für arme Leute sein!

Münster: „Da schmolz sie beinahe vor Mitleid. (…) Es war rührend, wie sie sich Sorgen um einen Menschen machte, der keine Ziegen, und also – das ist ja logisch – auch keinen Käse besaß. Wovon ein solcher Mensch wohl lebte? (…) Ob ich denn Käse haben wollte, fragte sie weiter, sie wohnte ganz in der Nähe, und ich sollte ruhig kommen, sie gäbe mir den Käse sehr gerne.“

Nur ein Beispiel von vielen. Gegen Ende des Buches zerfasert der Text leider immer weiter. Da werden Erlebnisse aus der Besatzungszeit der Wehrmacht, Reisen aus der Nachkriegszeit – auch nach Algerien – und die europa-bezogenen Mythen vermischt und kreuz und quer analysiert.
Der erschreckende Text aus dem letzten Kapitel des Buches, den Μάρκος (leicht gekürzt) ins kretaforum überträgt, isoliert ein Erlebnis aus den hungernden Athen von 1941. Das sollte man dort lesen, das muß ich hier nicht wiederholen.

Und es geht wieder zurück zur Reise von 1931, wo Münster noch mit Aquarellfarben statt mit der Kamera unterwegs war. In Knossos trifft er beim Aquarellieren auf überhebliche deutsche Touristen, die ihn für einen Griechen halten.

Münster: „Nu sieh mal“, sagte der Mann zu seiner Frau, „nu sieh doch mal, sowas (!) macht nu auch Bilder. Frag ihn doch mal, warum er nich knipst.“

Frau weigert sich. Fragen ist ihr peinlich. Eine Diskussion entbrennt. Münster schweigt. Es wird ganz peinlich, als Münster plötzlich grinsend offenbart, daß er das lange Gespräch über „sowas wie ihn“ verstanden hat. Daß er noch ein paar Wochen auf der Insel bleibt, und nicht nur fünf Tage, wie die beiden Touris. Das trifft auf bares Staunen: So lange …? Der Mann will Münster ein paar Drachmen zustecken – das Leben auf der Insel sei doch so teuer – aber Münster lehnt ab, er komme ohne Geld aus.

Griechische Post, 50er Jahre: Landung der Deutschen auf Kreta und sofortige Gegenwehr durch Partisanen

Münster wurde Ende der 50er Jahre von einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten gefragt, ob es möglich wäre, die Orte zu besuchen, an denen er damals mit Partisanen gekämpft hatte. Münster beruhigt ihn – die Kreter sähen nach vorne, nicht nach hinten.
Münster kriegt dann einen begeisterten Brief von der Insel:
Da sitzt dieser Ex-Soldat mit seiner Frau in einem Dorf in den Bergen der Sfakia und verbringt den Abend in Frieden und Freundschaft ausgerechnet mit den Partisanen, die einen Teil seiner Einheit getötet hatten  … er hatte sich überwunden und gesagt, daß er im Krieg auf der falschen Seite stand … aber die Kreter
sehen nach vorne, nicht nach hinten.

Münster schließt das Buch mit dem Gedanken: „Nun müssen wir unsere Europareise unterbrechen, ohne ganz ans Ziel gelangt zu sein.“

Wenn Sie mich fragen, ob ich „Die Wanderhirtin Andrea“ (3 Seiten) der „Reise nach Europa“ (262 Seiten) vorziehe, würde ich sagen: ja. Die kurze Form ist Münsters Stärke.
Trotzdem warte ich jetzt darauf, daß ein gewisses Antiquariat in Berlin seine Betriebsferien beendet, damit ich an ein Exemplar von „Kreta hat andere Sterne“
(222 Seiten) komme.


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50er Jahre: Kafeneion auf Kreta, vorne eine bettelnde Mutter mit Kleinkind

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