Istanbul: Impressionen 1986 – Teil 1

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kızarmış balık – der Backfisch-Imbiss am Goldenen Horn
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Man sagt, die „echte Vergangenheit“ sei geschichtlich die Zeit, bevor man selbst auf der Welt war. Eine Zeit, die man als „Gegenwart“ nicht mehr miterlebt hat.
Also: Wer 1948 geboren wurde, empfand 1968 den 2. Weltkrieg als „echte Vergangenheit“ – dabei war das Ende des Krieges „nur“ 23 Jahre her.
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Mein erster Besuch in Istanbul – im März und April 1986 – ist auch „nur“ 35 Jahre her. Aber wenn ich mir die alten Fotos ansehe – besonders die vom Alltag in den Straßen und dem damit verbundenen Kleingewerbe … da ist so viel wirklich restlos vergangen!
Die Bauindustrie und die millionenfache Zuwanderung aus allen Landesteilen haben diese Stadt in 35 Jahren so nachhaltig verändert, daß ich sie lieber nicht mehr sehen möchte.
Eine explosionsartige Anpassung an die Moderne. Jedenfalls wenn man die politischen Schatten ignoriert …
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Das Zentrum der Stadt war im Jahr 1986 die 1912 gebaute Galata-Pontonbrücke und die Uferzone auf beiden Seiten des Goldenen Horns. Hier mußte jeder durch, hier lagen die Bosporusfähren. Die Brücke war 1986 für Autos noch mautpflichtig! Unterhalb der Verkehrsfläche gab es eine Ebene mit Restaurants, Cafés und Geschäften.
Diese Brücke wurde 1992 ersetzt durch eine breitere Stahlkonstruktion, ist aber weiterhin der Engpass  für den Autoverkehr zwischen der Altstadt und Beyoglu (Pera).
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Ja, Leben am Wasser. Da zieht es einen einfach hin. Es war noch winterkalt, über der ganzen Stadt der Rauch von altmodischen Kohleöfen, so wie ich es in alten Zeiten im Ruhrgebiet noch erlebt hatte.
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KLEINGEWERBE 1:  Der Fisch, den man nicht vergißt …
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Der Backfisch-Imbiss an der Galatabrücke schaukelte im Wellengang wie verrückt, aber die Besatzung ließ sich davon nicht beirren:
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Es war kaum zu glauben, daß das flüssige Backfett nicht aus der Pfanne schwappte:
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Aber die Gefahr für die Kunden lag woanders. Man mußte nur genau hinschauen. Direkt neben dem Backfischboot breiteten Fischhändler ihr Angebot aus. Auch der Backfisch-Imbiss bezog seine Fische von dort.
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So fangfrisch das Angebot auch sein mochte – es mußte auch frisch aussehen! Also hatten die Händler Eimer und Kanister bei sich, mit dem sie regelmäßig das Wasser aus dem Goldenen Horn schöpften und über die Fische schütteten.
Hier wäre jeder Mitarbeiter eines europäischen Gesundheitsamtes in Ohnmacht gefallen:
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Aber die Imbisskundschaft störte sich nicht im Geringsten daran.
Es schmeckte wohl großartig, ob im üblichen Hocksitz oder im Stehen:
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Da ließ sich auch meine Freundin hinreißen, die sonst (im Nebenjob) höchste Hygieneansprüche erfüllen mußte. Sie war gewöhnlich viel mißtrauischer als ich.
Doch alles war plötzlich total vergessen … Heißhunger …!
Wir waren vier Wochen herumgereist und hatten die türkische Küche und die türkischen Sanitäranlagen auf dem Land überstanden – was sollte jetzt, am letzten Reisetag, noch passieren?
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Ja, es ist offenbar echt lecker – wie man am Gesichtsausdruck sieht!
(Ich hatte trotzdem auf den Fisch verzichtet.)
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Und nun? Was war die Folge? Hat da einer gesagt: Kleine Sünden straft der Gott des Genusses sofort …?
Nein, Typhus war‘s nicht, Cholera auch nicht, aber es war eine meldepflichtige Krankheit, die der Patientin vier Wochen lang jegliche Tätigkeit in der ambulanten Altenpflege verboten hat. Obwohl sie mit diesem Job ihr Studium finanzieren mußte.
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Am frühen Abend traten schon die ersten Symptome auf. (Gut, beweisen konnte man nicht, daß der Fisch Schuld daran war, aber alles sprach dafür.)
Unser Hotel lag etwas abgelegen in Zeytinburnu. Laut Taxifahrer ein iranisch geprägtes Viertel. Die Patientin wollte aus gutem Grund in der Nähe der sanitären Anlagen bleiben, sie war appetitlos und fiebrig. Ich sollte alleine essen gehen.
OK, noch ein Foto aus dem Hotelzimmer (oben) und los!
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Eine unruhige Nacht folgte. Aber mit ihrer gut sortierten Reiseapotheke hatte die Patientin sich bis zum Morgen in einen flugreisefähigen Zustand versetzt. Der Taxifahrer zum Flughafen akzeptierte auch D-Mark. Unsere letzten Lira-Bestände entsprachen etwa sieben Mark und reichten längst nicht mehr:
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Siehe auch:
> Post aus Saloniki: Kleingewerbe
> Kleingewerbe in Griechenland, um 1930

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