Bulgarien-Tour zur Wendezeit – 3

Wahlkampf Plovdiv 1
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Hier ist richtig was los. Wahlkampfveranstaltung der SDS in Plovdiv.
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30.05.1990. Unsere nächste Station ist Plovdiv. Noch schnell dieser Dollar-Kaffee vor der Abfahrt. Unser „guide“ Zornitsa, die weiß, was 6 Dollar hier wert sind, geht ungern mit uns ins Hotel-Café. Sie findet es schon etwas obszön, hier zu sitzen, wo ein Espresso einen örtlichen Tageslohn kostet. (Freiwillig sagt sie uns das jedoch nicht.)
Die Autobahn Richtung Südosten ist fast leer, aber unseren 300D überholt sowieso niemand. Solange Stephan am Steuer sitzt.
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Wahlveranstaltung Plovdiv
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Aber der Wettergott wählt wohl eine andere Partei …
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SDS Victoryzeichen 1
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… egal, die SDS-Fans sind siegessicher …
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SDS Victoryzeichen 2
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… und mit dem Victory-Zeichen erkennt man sich im Wahlkampf überall.
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Plovdiv – seit 8 Jahrtausenden als Siedlungsort existierend, 341 v.Chr. von Philipp II. von Makedonien erobert und unter dem Namen Philippopolis neu begründet, 72 v.Chr. von den Römern erobert und in Trimontium (als Hauptstadt der Provinz Thracia) umbenannt. Gut hundert Jahre dauerte die byzantinische Herrschaft über die Stadt, bis die Slawen im 6. Jahrhundert die Region übernahmen – die Stadt hieß nun Paldin.
1364 begann die osmanische Herrschaft. Aus Paldin wurde Filibe. Um 15. Jahrhundert etablierte sich der Begriff Plovdiv – der Ort war nun ein wichtiges Wirtschafts- und Handelszentrum mit zahlreichen Bevölkerungsgruppen (Türken, Griechen, Armenier, Juden, Bulgaren usw.). Für die Bulgaren wurde die Stadt zu einem Zentrum für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen im 19. Jahrhundert. 1839 wurde hier die erste bulgarische Schule errichtet.
Nach dem russisch-türkischen Krieg 1877/1878 wurde das Bulgarien der Neuzeit gegründet und Plovdiv wurde zur Hauptstadt der inzwischen russisch geprägten Region, doch kurz danach wurde das Land zweigeteilt, und Plovdiv wurde wieder mit der Region Ostrumelien Bestandteil des Osmanischen Reiches. Erst am 6. September 1885 wurden am Ende des Freiheitskampfes die bulgarischen Provinzen als Fürstentum vereint und von den Großmächten unabhängig.
Heute ist Plovdiv mit 370.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der früheren Volksrepublik Bulgarien. Antike Funde, z.B. das nur teilweise freigelegte römische Stadion und das römische Theater (7.000 Zuschauerplätze), rein zufällig unter einer 15 Meter hohen Erdschicht entdeckt, und eine mittelalterlich geprägte Altstadt bestimmen das Stadtzentrum. Plovdiv ist ein wichtiges Verkehrszentrum und Messestadt.

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Unser Eindruck von der Stadt? In Plovdiv ein kurzer Museumsbesuch (Ethnographisches Museum), ein Besuch in einem Altstadthaus, um die traditionelle Einrichtung zu bewundern, ein kurzer Altstadtspaziergang (mal wieder Regenwetter), ein Blick ins antike Theater (darf gerade niemand hinein, es werden Kulissen montiert) und ein Blick in die spärlich sortierten Geschäftsstraßen, am Spätnachmittag die Wahlkampfveranstaltung der SDS (in blauen Wolken) (Joan hat inzwischen einen SDS-blauen Regenschirm gekauft) und zurück ins Hotel Trimontium (in den 60er Jahren laut Baedeker-Autoführer in der „Luxusklasse“ geführt, 1990 eher etwas angestaubt).
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Plovdiv Römisches Theater
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Plovdiv, das römische Theater im Stadtzentrum wird gerade mit einem Kulissenhintergrund ergänzt.
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Plovdiv Römisches Theater
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Im Trimontium-Hotel hatte ich wenigstens ein bis heute beeindruckendes Erdbeben-Erlebnis. Gut, der Schwerpunkt des Erdbebens war am 30.05. zwar im Norden, in Rumänien, in den Karpathen nördlich von Bukarest, aber die heftigen Erdstöße reichten bis Plovdiv.
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Plovdiv Trimontium Hotel
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20:26 ist es, der Wein zum ersten der vier Gänge wird serviert (Schopska-Salat Trimontium-Spezial …). Die Wir-können-alles-aber-nichts-leise-Band spielt ihre ersten Titel (zuerst „Six days on the road“, einen Country-Klassiker, dann „Sultans of swing“ von den Dire Straits).
Da bebt, ja „schwingt“ plötzlich der Fußboden, „Triss!“-Rufe von den Nebentischen.
(Tpyc = Tremor bzw. Beben)
Aber alle verlassen den Saal mit Fassung. Keine Panik. Wir stehen nun alle vor der Tür, eine halbe Stunde lang, erleichtert, zum Glück regnet es auch mal nicht. Einige Leute wollen Risse im Putz entdeckt haben (die waren wohl schon vorher da), und liegt da nicht ein Stück Putz? Joan lacht schon wieder, sie hätte angenommen, als alle aufsprangen, das „triss“ sowas wie „bravo!“ hieße und eine Aufforderung zu einer „standing ovation“ für die Band war …!
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Band Trimontium HotelEs fällt auch noch für einige Zeit der Strom aus, das Personal verteilt unzählige brennende Kerzen im Haus. (Ja, auch in den teppichbelegten Fluren des Zimmertrakts stehen sie auf dem Boden, auf Untertassen geklebt … jeder Feuerwehrmann hätte beim Anblick einen Herzinfarkt gekriegt.)
Dann geht es wieder hinein, der Lift ist weiterhin gesperrt, die Küche arbeitet schon wieder unter Hochdruck, das Essen ist sehr gut (Rinderzunge), die Band spielt „Ave Maria“ auf Wunsch eines anwesenden Popen (man beachte das SDS-Poster auf der Bühne …).
Reichlich Rotwein und Wodka für alle, und morgens um halb vier verschlafen wir in aller Ruhe ein heftiges Nachbeben. Der Rest der Hotelgäste stand schon wieder auf der Straße …
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Morgens wird schon wieder der Strom abgestellt. Kein heißes Wasser, aber die Küche hat heißen Kaffee. Stephan hatte gestern ständig für Rotwein-Nachschub gesorgt, nach dem Prinzip: Wer den letzten Schluck aus einer Flasche kriegt, muß sofort die nächste bestellen. Nicht nur er ist heute morgen arg verkatert, doch er bringt uns mit verbissener Laune über den Schipka-Paß nach Veliko Tarnovo.
Der Schipka-Paß in der Balkan-Gebirgskette, wo im Russisch-Osmanischen Krieg 1877/1878 eine bedeutende Schlacht von den Russen gewonnen wurde, ist das Ziel zahlloser Schulausflüge, und es ist heute eisheiligenkalt dort oben. Wir wollen nur weiter. Zornitza fängt ab und zu an, über die bulgarische Geschichte zu dozieren, gibt es aber irgendwann auf. Hört sowieso keiner zu.
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Schipka Pass Kirche
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Die russische Kirche am Schipka-Paß
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Balkan Gebirge
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Quer durch den Balkan auf einem Hauch von Restalkohol.
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In Veliko Tarnovo verabschieden wir uns von unseren Begleitern im 300D. Zornitzas eigenwilliges Englisch werde ich vermissen. Ihre erste erlernte Fremdsprache war nämlich ausgerechnet Schwedisch (!), und das merkte man in Satzbau und Betonung auch im Englischen. Sie hätten uns noch gerne einen bestimmten Friedhof in Sofia gezeigt. Ein jüdischer Friedhof, glaube ich. Zu spät.
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Der Bus vom Goldstrand trifft abends ein, nachdem wir schon eingecheckt haben. Wir können uns im Chaos in der Hotel-Lobby, als der Bus eintrifft, heimlich und alleine in die Altstadt verdrücken, genehmigen uns unterwegs ein Eis am Eiswagen (100 Gramm Speiseeis für 39 Stotinki, also 0,39 Leva) und finden ein gemütliches kleines privates Gasthaus.
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img526_10Leva_A300Mit Händen und Gesten unterhalten wir uns mit dem Wirt … an die bulgarische Bedeutung des Nickens und Kopfschüttelns erinnern wir uns noch rechtzeitig, aber morgen in Gabrovo habe ich das schon wieder vergessen … eine Flasche Rotwein, zweimal Schopska-Salat (nirgendwo zu vermeiden) und zweimal Wurst vom Grill mit Beilagen kosten zusammen 10 Leva. Selten so viel Spaß gehabt für 1,25 Dollar, bzw. 4 Dollar zum Sheraton-Wechselkurs …
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NACHTRAG: Merkwürdig. Ich hatte mir 1990 notiert, daß das Lokal „Hadji Nikoli“ hieß und “am Ende der Handwerkerstraße“ war. Heute gibt es einen edlen Gourmet-Tempel in Veliko Tarnovo, der auch so heißt. (Also 1990 gab es in dem Lokal nicht mal Servietten!) Fragen Sie mich nicht, ob da eine direkte Verbindung besteht:
HanHadjiNikoli
Es gibt heute ein kleines, ebenso edles „guesthouse“, das zum Hadji Nikoli Komplex gehört, möglicherweise war das früher „unser“ kleines Lokal. Über dieses Mini-Hotel steht nämlich auf der website: „The house is located at the end of Georgi Sava Rakovski Street, also known as the Arts and Crafts Street (!) …“
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Karte Schipka Pass
Quelle: wikipedia/Schlacht am Schipkapass
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