Morte a Venezia

Palazzo Grassi, am Canal Grande, Eingang am Campo San Samuele

Wenn man nicht zum ersten Mal in einer touristisch ganz einzigartigen Stadt unterwegs ist, kann man gut auf die weltberühmten Attraktionen verzichten. Man hat gewöhnlich ganz eigene Ziele … das nehme ich mal an. 🙂  Für mich war es die große Tinguely-Ausstellung im Palazzo Grassi.
 > Jean Tinguely, 1925-1991

Jean Tinguely hat unglaubliche Skulpturen geschaffen, aus Bauteilen, die man sich kaum zusammen an einem Ort in einem Objekt vorstellen kann. Der unvermeidliche (geplante?) Verschleiß seiner kinetischen Objekte und Maschinen mit ihren absurden Funktionen schafft für Restaurateure einen vielseitigen und dauerhaften Arbeitseinsatz.
Kinetische Kunst ist eine Ausdrucksform, in der die Bewegung als integraler ästhetischer Bestandteil des Kunstobjekts Beachtung findet.“ (wikipedia)
Aber Tinguely ist hier nicht das Thema – trotz seiner Affinität zu Tod und Vergänglichkeit.

Tinguely: Fata Morgana (1985) Foto: Solothurner Zeitung, 2016

Die Ausstellung war faszinierend und amüsant, den bleischweren Katalog gab es im Karton-Schuber mit Schultergurt (!). Praktisch für meinen Spaziergang am Nachmittag.

Ja ja, ich weiß, wenn ich keine langen Nachträge zu meinen Texten verfasse, dann zu lange Einleitungen. Oder beides. Macht nichts, meine Beiträge über Italien liest eh keiner.


Nach dem langen Aufenthalt in der gut besuchten Ausstellung brauchte man erst mal Ruhe. Und Ruhe findet man sogar in Venedig, an einem spätsommerlichen Oktobertag. Sicher nicht überall. Wenn, dann eher auf der westlichen Seite des Canal Grande, wo es nicht so viele repräsentative Ziele gibt.
Also über die ‘Accademia’-Brücke zur anderen Seite des Kanals. Und sich dort nach rechts wenden, nicht nach links zur Kirche Santa Maria della Salute.

.

Hier gibt es Plätze, wo die Venezianer noch (fast) unter sich sein können. Hier gibt es gut getarnte Bars, die erst abends öffnen, wenn die Tagesgäste die Stadt verlassen haben. Hier können die Wassertaxis mal einen Gang zulegen, denn hier sind kaum mal Touristen-Gondeln im Weg:

.

So streune ich also durch das eher gewöhnliche Viertel (Tourismus-Attraktivität B-minus) bis zu dem stillen Platz, wo der Rio de San Pantalon und der Rio de la Muneghele aufeinander
treffen (beide Wasserstraßen schmal, ohne großen Durchgangsverkehr).
Hier könnte an einer Hausfront einer der weniger begabten Schüler Tinguelys am Werk
gewesen sein:

.

Tauben gibt es hier genug – können ja nicht alle auf dem Markusplatz sein. Und bald auch ein paar Besucher.

.

Da hinten an der breiten Treppe landet gerade eine festlich ausstaffierte Gondel mit einem Brautpaar und einem Fotografen. Da würde ich mich mit meiner Kamera gerne einmischen. Aber von rechts taucht eine ältere Dame auf, mit einer großen Plastiktüte voller Brotreste. Sie verteilt das Taubenfutter, ohne auf das Brautpaar zu achten. Es ist wohl ihre Tagesroutine.
Aber das Paar hat sie und die aufgeregt durcheinanderflatternden Tauben bald bemerkt. Wäre das nicht ein beschwingter ortstypischer Hintergrund für ein Hochzeitsfoto?

.
.
.
.

Und noch andere Besucher sind aufgetaucht. Vierbeinige. Der rote Kater strich schon von Anfang an um die Beine der alten Dame. Man konnte ihm die Vorfreude auf den nichtveganen Mittagsimbiss glatt ansehen. Daß da auch noch ein kleiner Junge hockt zum Katzenstreicheln, interessiert ihn nicht im geringsten:

.

Die Tauben gehen ihm zwar aus dem Weg, denken aber nicht daran, wegzufliegen, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich weiß nicht mehr, wie lange der Kater auf seine Beute lauern mußte. Es mußte ihm nur eine der Frischfutterportionen mal etwas zu nahe kommen, und dann …

.

… schlägt er zu. Merkwürdig, daß die anderen Tauben die Aktion völlig ignorieren, mit einem Hauptsache-es-hat-nicht-mich-erwischt-Blick.
Mittlerweile scheint auch langsam das Jagd-Interesse der anderen Katzen zu erwachen. Also schnell weg hier. Taube to go gewissermaßen …

.
.

Es hat eine Zeitlang gedauert bis zum dramatischen Finale. Das Brautpaar hatte sich längst wieder abgesetzt. Aber ihre Gondel taucht plötzlich wieder auf, aus dem Rio de la Muneghele! Sie ist jetzt fahrgastlos. Für die beiden Gondolieri ist Feierabend. Noch dem motorisiertem Gegenverkehr kurz ausweichen und anlegen:

.
.

Und auf dem Platz herrscht nun völlige Ruhe. Als wäre nichts gewesen:

.

Nichts mehr zu sehen. Auch nicht vom Satelliten aus:

Foto: Google Earth

Morte a Venezia. Finito. Bagatelle oder Tragödie? Ist Ansichtssache.
Wie?
Ja, ich weiß, es gibt bereits einen anderen „Tod in Venedig“. Aber Thomas Mann war ja eher ein bourgeoiser Langweiler, habe ich mir sagen lassen … 🙂 … ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Heinrich.

> WEITER MIT: REISEN IN ITALIEN
> WEITER MIT: VERHARREN IM DIESSEITS, CAMPOSANTO STAGLIENO, TEIL 1 – 6
< ZURÜCK ZUR STARTSEITE

One comment

Leave a comment