Tinos: Nordische Gefühle

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Tinos Relief
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Wo bin ich? Kykladen? Nordisches Hochland? Von wem ist das Relief an dieser Kapelle? Venezianisch? Normannisch? Von den Wikingern? Von Edvard Munch?
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„Seit mehr als sieben Tausend Jahren wird also dieses Meer befahren. Sie wohnten in Siedlungen aus Stein, deren entferntestes Nachbild auf den Orkney-Inseln ausgegraben wurde. Sie weideten Herden, hielten Kühe, Schafe und Ziegen, säten Korn und ernteten es (…)“
(Johannes Rüber: Das Tal der Tauben und Oliven, Freiburg 1979)
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Freitag. Gestern noch hatte ich den Tag auf Tinos mit Johannes Rübers Nachbarn verbracht. Feiern und Futtern auf dem Panigiri, Kaffee auf der Terrasse mit Meeresblick. Heute will ich den Tagesablauf alleine bestimmen. Und das Wetter sorgt dafür, daß ich fast alleine bleibe. Eben Orkney-Wetter …
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Von der Wallfahrtskirche im Hafenort geht es zu Fuß hinauf nach Tripotamos, mitten hinein in die bleigrauen Wolken. Die Burghöhe von Exembourgo? Heute ist nichts zu sehen von dieser Felsformation. Sie müßte hinter der Kirche steil aufragen:
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Tinos Exembourgo Nebel
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Tinos Exembourgo
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Exombourgo (Xobourgo), an einem klaren Tag, die Kirche ganz rechts.
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Erlkönigswetter. Aber hier scheint auch bei schönem Wetter niemand unterwegs zu sein. Der Wanderweg 3 ist kniehoch zugewuchert. Oft kann man ihn nur ahnen, mit Hilfe der parallel laufenden Terrassenwände:
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Tinos Wanderweg 3
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Und manchmal dankt man den (leider nicht gerade zahlreichen) Schafen, daß sie ein Stück des Weges freigeweidet haben:
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Tinos Schafe
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Vom Grün sprühen bei jedem meiner Schritte kleine Tropfenfontänen. Ich war nie auf den Orkneys, aber ich kenne die schottischen Highlands und ihre nordwestlichen Inseln. Skye oder Mull. So wandert man dort auch im Frühsommer, naß bis zum Oberschenkel. Aber Johannes Rüber, der in Griechenland (auch über die Steinkreiskultur hinaus) an den Norden denkt, hat Tinos sicher auch bei jeder Art Wetter erlebt …
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Die freigeweideten Wegstrecken sind nun natürlich überall verdauungsendproduktbedeckt (auf deutsch: zugeschissen). Kein Benehmen, diese Schafe. Ich schließe ab und zu ein weg-sperrendes Gatter nicht hinter mir, damit Shaun und seine Schafskollegen sich über ein neues Stück blühendes Grün hermachen können. Manche der rostigen Drahtgitter-Wegsperren liegen ohnehin flach am Boden … tückische verborgene Fußfallen im verfilzten Kräuterdickicht. Eine intensive Bewirtschaftung findet an vielen Orten ja nicht mehr statt.
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„(…) während wieder einmal Geschichte schließt und eine Kultur zu Ende geht: die Felder verkrümeln, die Terrassen zerfallen, die Taubentürme sind leer. Längst sind die Windmühlen ihrer Farben, Dächer und Flügel beraubt: dunkle Ruinen, Burgtürme einer vergessenen, allenfalls Legende gewordenen Zeit. (…) Doch eher noch als in Attika läßt sich der Anblick der Insel wiederherstellen, so wie er vor dreißig Jahren war: Wege statt Straßen, Pfade statt Wege.“ (Johannes Rüber, 1979)
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Rüber hat recht: Über Attika – wo auch die Landwirtschaft überall verdrängt wird – wächst die Beton-Alu-Glas-Wüste der Großstadt Athen hinweg. Die Insel Tinos fällt jedoch, wenn die Felder verlassen werden, „in ihren irdischen Zustand“ zurück!
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Tinos Volax
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Tal von Volax
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Unterwegs bin ich in Richtung Volax, vorbei am gespenstisch stillen Dorf Koumaros. Und was die Bauern im kykladischen Winter in Volax tun, hatte ich ja schon im Beitrag „Tinos-Winter-Volax“ beschrieben: Sie pflegen das Korbflechten.
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Diesmal stehen vor zwei oder drei Häusern sogar ein paar  Exponate zum Verkauf:
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Tinos Volax Korbflechter
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Doch mich treibt es umgehend in die „Taverna Volax“. Schließlich bin ich seit vier Stunden unterwegs. Zeit für den ganz hervorragenden honiggelben Hauswein, Keftedakia, Patates frites und „Melitsana Volax“, mit Tomaten und Käseflocken überbackene Auberginenscheiben. Die Terrine kommt gerade ofenheiß aus der Küche. Für kalte Salate ist es heute zu ungemütlich:
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Tinos Taverne Volax
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Nein, die Kykladen haben nicht die sommerliche Hitze, die ich vorige Woche, Anfang Mai, auf Hydra erlebt hatte. Nach dem Essen kraxele ich noch den Hügel hinauf Richtung Panagia Theoskepasti am Feldweg nach Falatadhos. In Falatadhos ist dann um 17 Uhr 30 natürlich nicht mehr auf einen Bus zu hoffen. Die dekapende Evro fürs Taxi sind gut investiert (zehn Kilometer bis zum Hotel am Hafen).
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Montag. Nochmal hinauf in die Berge. Mit dem Bus, bis Falatadhos (1,70 Euro). Das Wetter ist mal wieder wechselhaft. Zuerst zieht von Norden eine heftige Gewitterfront über die Hochfläche unter dem Burgberg. Zwei Schweizer sind mit raufgefahren, denen ich (im prasselnden Regen) den versteckten Fußweg nach Volax erkläre. Der Weg sei aber nicht optimal bei dem heutigen Wetter, lasse ich sie wissen. Ach … die helvetischen Gemsen winken lässig ab …
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Ich nehme die (fast unbefahrene) Straße, als die Gewitterfront im Süden versinkt. Ist ein Umweg. Aber sicher ist sicher. Auf den Friedhof von Volax kommt man noch früh genug …
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Volax Friedhof
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Ich nehme mir heute jedoch wenigstens ein paar Minuten Zeit für einen (vorübergehenden) Friedhofsaufenthalt. 🙂 Hier, im Beinhaus, findet man so manchen Namen, der im Buch von Alekos Florakis („Volaxian Basketweavers“, 2010) unter den besonders kunstfertigen Korbwebern noch genannt wurde. Großvater Andreas Sigalas zum Beispiel:
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Tinos Volax Sigalas
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Oder Ioannis Piperis:
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Volax Piperis
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Oder Antonios Fyrigos. Der liegt noch draußen im Kirchhof, unter der Marmorplatte! Ja, sie waren alle schon tot, als das Buch über sie erschien:
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Tinosd Volax Fyrigos
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Zwei Wandergruppen erreichen heute die Taverna Volax. Eine davon kommt von Norden, talaufwärts. Gleich mit zwei griechischen Führern, und mehrheitlich im total überzogenen Designer-Trekking-Outfit. Ja, da tappt man nun tausendfach geschnürt und gehakt und klimabeschichtet herbei, mit zwei Walkingstöcken, aber mit bloßen Waden, und mit einer tiefschwarzen Hut-Augenschirm-Kombination mit aufgeklemmter Retrostyle-Sonnenbrille.
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Quer durch die Taverne bis zum Stuhl, und Madame läßt sich fallen. Ohne zu grüßen. Aber mit beleidigten Blicken nach links und rechts. Wo ist das Personal, um mir den Rucksack abzunehmen? Hat man ja sonst nicht im Kreuz, so ein Objekt. Nehmen Sie mir das doch mal ab, Sie da! Hat denn hier niemand Manieren …?
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Wieso eigentlich nur zwei Walkingstöcke? An die unterschiedlichen Bodenverhältnisse muß man sich doch unterwegs anpassen …! Beim Golf hat man doch auch ein ganzes Sortiment Schläger dabei …! Da hat das Marketing der Sportartikel-Industrie bisher versagt …
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Die andere Gruppe (sinnvoll ausgestattet, ohne Führer) zieht nun ab, nordwärts. Also ebenfalls in meine Richtung, bzw. noch ein ganzes Stück über mein Ziel (das Dorf Agapi) hinaus. Sie wollen zur Bucht von Kolybithra. Sieben Extra-Kilometer für sie. Wir wünschen uns ein gutes Ankommen.
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Tinos Volax Artischocken
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Tinos Volax Artischocken 2
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Mein Kellner von vorvorgestern läßt sich durch den plötzlichen Andrang (20 Gäste) nicht stören. Die schafft sein Kollege auch alleine. Er sitzt am Nebentisch und putzt mit Engelsgeduld Artischocken, und übt sein Englisch. Sigalas? Ja, Andreas Sigalas, den Taxifahrer, kennt er, klar. Die Laden-Werkstatt von Sigalas sei doch gleich nebenan, heute, am Montag, aber geschlossen.
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Großvater Andreas sei ohnehin tot. Ob er den jüngeren Andreas mal anrufen solle? Ob ich vielleicht ein Auto wolle, zurück zur Stadt? Um Himmels Willen, danke nein, ich will zu Fuß nach Agapi. Da rufe ich mir dann selbst was!
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Tinos Wegweiser
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Der Weg am schattigen Hang des stillen, tiefen Tales in Richtung Agapi ist wunderbar, von den ständigen April-Regenschauern mal abgesehen:
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Tinos Regen Wandern
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Was soll‘s, ein weiterer Tag Schottland-Wetter eben. Aber es gibt hier so viel zu sehen. Bis kurz vor den Doppel-Ort Sklavochori und Agapi sind die massiven Granitbälle von Volax gerollt. Hier ein echtes Monstrum im Weinfeld, so groß wie der Taubenturm rechts:
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Tinos Agapi Felsen
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Und die Taubentürme? Von Sklavochori steigt man auf einem Treppenweg (Nr. 5) ins dschungelgrüne Tal hinab, links geht der Blick nach Komi, rechts nach Agapi, und an einer Stelle lassen sich gleich neun solcher Türme abzählen! Hier nur ein Teil davon:
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Tinos Agapi Taubentürme
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Agapi ist ein weltvergessenes, malerisch-hübsches Örtchen, das am Talende am Hang klebt. Ja, αγάπη ist das altgriechische Wort für „Liebe“:
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Tinos Agapi
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Ein namenloses Kafeneion am schmalen Tunnelweg durchs Dorf. Ein halbes Dutzend alter Männer sitzt hier vor dem Fernseher, nachmittags um fünf. Freundlich einladend starren sie mich an – he, ein Besucher aus der Ferne, an einem Regentag! Raki oder Birra? Einer lobt mich für meinen Schirm. Ja, ein Schirm ist hier das beste beim Laufen (solange es nicht stürmt), die Luft ist nämlich relativ warm, man würde sich unter meinem Regen-Cape totschwitzen.
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Ich sitze lieber draußen auf der kleinen überdachten Terrasse, alleine. Der Kafeneion-Balkon ist ein Falken-Nest, tief unter mir das Tal. Ich genieße den Fernblick, während gerade wieder die Sonne auftaucht, um meine Hose abzutrocknen. Von meiner eiskalten Flasche Fix tropft das Kondenswasser. Erzgemütlich hier, obwohl einige der vor dem Fernseher Sitzenden wohl unter Schwerhörigkeit leiden. Zwei Frauen bedienen. Den einheimischen Gästen ist es draußen zu ungemütlich, und sie können das ja jeden Tag haben.
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Tinos Agapi Cafe
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Und, falls Sie mal hier sein sollten, besuchen Sie die sanitären Anlagen im tiefsten Keller, über die engste und steilste Stahlwendeltreppe, die ich je an solchen Orten gesehen habe … aber machen Sie mich nicht verantwortlich, wenn Sie irgendwo steckenbleiben … 🙂 …
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Alles im Dorf Agapi ist steil und eng, supereng. Kleine Sturzbäche fließen die Gassen entlang, tragen vom Regen abgeschlagene Frühlingsblüten davon. Das Taxi holt Sie von der Platia ab, auf der anderen Talseite. Zehn Minuten Fußweg zwischen Kafeneion und Platia müssen Sie einplanen. Und etwa 25 Minuten Wartezeit auf das Auto, das unten am Hafen in Tinos-Stadt startet. Reicht gegebenenfalls noch für ein weiteres Fix …
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WEITER MIT   TINOS: PANAGIRI IN VOLAX
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WEITER MIT   TINOS: NUR SO EIN WEG

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WEITER MIT   TINOS: MARMOR IN PYRGOS
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RÜCKBLICK AUF:  TINOS IM WINTER – VOLAX
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One comment

  1. jassou Theo, das mit den zugewachsenden Wanderwegen(Kalderimi/Monopati) erlebe ich auch immer wieder bei meinen besuchen in GR. Ist ein Trauerspiel, das diese jahrtausend altewunderschöne Kultur an vielen Orten langsam verschwindet. Oft verläuft inzwischen paralell eine Straße, und der Wanderweg wird nicht mehr von den Einheimischen genutzt und wuchert langsam zu.
    Zum Glück gibt es einige wenige Vereine, meißtens von Deutschen die in GR leben, die ehrenamtlich die alten Wege in Schuß halten.

    Schöne Grüße aus Hamburg, kokkinos vrachos

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