Anávatos und Avgónyma

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Seit 1822 ein “Geisterdorf”: Anávatos
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Von der bergigen, bewaldeten Westküste von Chios hielt man sich von jeher fern. Im Mittelalter hatten die genuesischen Herrscher dort lediglich eine Kette von Wachtürmen errichtet, deren Wächter das Meer nach Piraten absuchten. Jede Schiffsbewegung auf dem Wasser wurde über Land schnell in die Hauptstadt im Osten gemeldet, schneller als das entdeckte Schiff in den Sund zwischen Insel und Festland einlaufen konnte.
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Der größte Teil des Geländes gehörte zum Kloster von Nea Moni, und man vermutet, daß seit spätbyzantinischer Zeit auf den Bergkegeln von Anavatos und Avgonyma Siedlungen von Holzfällern und Köhlern angelegt wurden, die im Laufe der Zeit befestigt wurden und zu kleinen Lokalzentren heranwuchsen. Aber … hier wurde “nur” gearbeitet, und nicht repräsentiert, und so ist über die Geschichte der Orte kaum etwas Bemerkenswertes erhalten. Bis zum Jahr 1822 jedenfalls, als die rachsüchtigen Armeen des Ali Pasha über die Insel zogen, um nach dem griechischen Aufstand alle orthodoxen Inselbewohner zu massakrieren.
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In ANÁVATOS kamen ihnen die 400 Bewohner zuvor. Sie steckten angesichts der heranziehenden türkischen Marodeure ihr Dorf in Brand und sprangen alle zusammen von der steilen Felswand im Westen des Dorfes in den Tod …! So will es jedenfalls die Legende wissen. Das Dorf, das damals in seiner wirtschaftlichen Blüte stand, ist seitdem nie wieder besiedelt worden. Am Rande des Ruinengeländes bearbeiten heute ein paar Kleinbauern Wiesen und Weiden, da gibt es auch eine Einrichtung, die als Kafeneion und Taverne zählt.
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Dort gibt es auch Parkraum (für die Touristen) und eine großzügige Serpentinenstraße hinauf zum Dorf. Die Straße gibt es schon seit Ewigkeiten … aber das Witzige ist, in meiner brandaktuellen “Terrain” Karte Chios 1:60.000 ist diese Straße nicht eingetragen! Ja, Terrain, das ist die Firma, die ich sonst so überschwenglich für ihre Genauigkeit lobe! Gut, jeder macht Fehler, besonders auf Wanderkarten, aber eine vollgültige jahrzehntealte Asphaltstraße vergessen …
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(Copyright: Terrain Chios 1:60.000, my blue dots mark the missing road) Die blaugepunktete Linie ist von mir, hier verläuft die Straße. Sie beginnt direkt an der Dorfausfahrt von Avgónyma. Sie dürfen den Verkehrsschildern ruhig glauben:
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Aber vielleicht ist das ja auch eine erzieherische Maßnahme von der Kartenfirma! Sie WOLLEN, daß wir die Forststraße im Osten benutzen: Die Strecke, die den grünen Rand hat (also: landschaftlich reizvoll ist). Und landschaftlich reizvoll ist diese Strecke auch. Hier haben Sie von Avgónyma nach Anávatos zwar zehn Kilometer vor sich statt vier, und einen normalen Pkw können Sie definitiv vergessen (teilweise starke Erosionsschäden), ein Jeep ist jedoch brauchbar, aber zu Fuß ist es natürlich am reizvollsten. Leider müssen Sie von Avgónyma zunächst 1,5 Kilometer bergauf auf der Landstraße, aber der Weg ist auch nicht unschön …
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Blick auf Avgónyma vom Forstweg, im Hintergrund die Ägäis
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Nur mal so dahinfotografiert im Märchenwaldtal … acht Kilometer lang ist mir niemand begegnet. Einzige Ausnahme: An einer Stelle sortierte ein Ziegenhirt seine Herde, zweihundert Meter unter mir. Ich hätte seinen Toyota-Pickup klauen können. Versperrte mit offener Tür den Weg, die Ladefläche voll mit Heu und Kräutern.
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Übrigens, Wegmarkierungen gibt es keine. Nur am Weganfang und am Ende je ein rotes Pünktchen. Dazwischen acht Kilometer nichts. Und irgendwann kommt man dann kurz vor Anávatos doch auf die Asphaltstraße:
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Durch die tiefe Schlucht, die den Ort im Süden von der Welt trennt, gibt es keinen anderen Weg als diese Asphaltpiste, eine Sackgasse, die jemand so angelegt hat, daß an jeder Stelle zwei Tour-Busse problemlos aneinander vorbeifahren können. Hier ist für den touristischen Autoverkehr unglaublich viel Fläche versiegelt worden … viel mehr, als das komplette Ruinendorf Anávatos selbst überhaupt belegt! Und diese banale gigantische Verkehrsfläche nimmt dem eher bescheidenen Ziel “am Ende der Welt” auch viel von der nostalgisch-geheimnisvollen Atmosphäre. Schade.
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Viele Bereiche des Dorfes sind zur Zeit “offiziell” gar nicht begehbar, oder bestenfalls auf eigenes Risiko. Allerdings war auf keiner der für das Publikum geschlossenen Baustellen, die der Erhaltung des Ist-Zustandes dienen, irgendwo jemand bei der Arbeit.
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Suizidale Neigungen? Kommen Sie nach Anávatos …
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Ein letzter Blick auf Anávatos. Auf der bei Terrain nicht existierenden Straße geht es nun zurück zur Basis. (Irgendwas hat mich die allzubreite Asphaltpiste in der Schlucht südlich vom Dorf nicht fotografieren lassen, trotz der schönen Felswände – keine Ahnung warum …) Jedenfalls: Die Rundwanderung ist 14 Kilometer lang. Man kann also gemütlich nach einem langen Frühstück beginnen …
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AVGÓNYMA nebenan ist ein Dorf, das noch “lebt”, aber hier ist es sehr still! (Hierher fährt auch kein Bus.) Der Rough Guide von 1995 gab übrigens für Anávatos 5 Dauer-Einwohner an, und für Avgonyma 7 … sehr viel geändert hat sich nicht. 1995 hatte Avgonyma jedoch noch keine Übernachtungsmöglichkeit.
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Wenn Sie sich die Wanderung sparen wollen, können Sie Anavatos natürlich mit dem Mietwagen oder auf einer Bus-Rundfahrt auch so “mitnehmen”, ansonsten bietet Avgónyma heute einige Übernachtungsplätze, sogar ein richtiges Hotel (da war aber niemand Ende September). Im September war eigentlich nur noch die Familie Delios aktiv, die auch die Taverne “Pyrgos” im Ort betreibt (sonst gibt es in Avgónyma gar nichts, auch keinen Laden). Das Pyrgos hat sieben komfortable Apartments anzubieten, teils im Dorf verteilt, samt voller Kücheneinrichtung.
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Nur, was soll man mit der Kücheneinrichtung, wenn es 25 Kilometer zum nächsten Laden ist … nein, da sitzt man doch lieber morgens oder abends an der Platia auf der Tavernen-Terrasse, läßt sich bedienen und schaut, wer noch so auftaucht! Mal sind es türkische Türsteher-Typen auf gigantischen Honda-Maschinen, die Riesen-Portionen Ziege und Salat verdrücken, mal zwei Franzosen, die aussehen wie Wolfram Siebeck (ja, weiße Haare, gelbes Leinen-Jackett und schrilles Hemd) und Gattin Barbara (ja, sie fotografiert ihn auch beim Essen) …
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Die Taverne Pyrgos in Avgónyma
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… und heute abend kommt tatsächlich ein einsamer Wanderer an. Er kommt aus Volissos, ein Belgier, mit 11 Kilo Gepäck auf dem Rücken. 33 Kilometer Tagesleistung. Nach Volissos will ich doch morgen! Und morgen streiken die Taxifahrer! Aber die Zeiten, in denen ich selbst mit dem Rucksack unterwegs war, sind lange vorbei. Und 33 Kilometer mit dem Rollkoffer, das ist nicht meine Art von Masochismus …
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Wir teilen uns einen Tisch und quatschen noch, bis dem Belgier die Augen zufallen. Mehr als eine Flasche Malamatina schafft er nach so einem Wandertag nicht, seufzt er. Und der Wirt vom Pyrgos besorgt mir einen Privatfahrer für morgen. Der nimmt mich mit nach Chios-Stadt. Von Chios-Stadt fährt zweimal wöchentlich ein Bus nach Volissos: Montag und Donnerstag. Morgen ist Donnerstag …
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My home is my castle: Oben links, mein Apartment mit unberührter Küche und großzügiger Waldsicht-Terrasse (übrigens, bei Gewitter hatte das Dorf Stromausfall, und ohne Strom gibt es auch kein Wasser …)
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NACHTRAG 19.11.11:  Aus “Das Mittelmeer” von Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld, Herder/Freiburg, 1888
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Die meisten der anderen 55 Illustrationen im Buch scheinen der Realität zu entsprechen, beim Bild von Anavatos durfte dem (ungenannten) Illustrator mal ein bißchen die Phantasie durchgehen. Machte ja nichts, da kam ja eh keiner hin …
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Und was schreibt Schweiger-Lerchenfeld über das Dorf auf Chios? Das hier: “Manches Dorf gleich einer kleinen Festung, so Anabato, das von einem mächtigen Turmfelsen übers Meer schaut. (…) Beim ersten Aufstandsversuche (1822) stiegen 60 000 türkische Soldaten ans Land und mordeten buchstäblich die Insel aus. Sultan Mahmud II. selber hatte befohlen, alle männlichen Einwohner über zwölf, alle Kinder unter zwei und alle Weiber über 40 Jahre niederzusäbeln. (…) In der Ebene war das Rachewerk leicht vollbracht. Man erkennt dies noch immer an den in Ruinen liegenden Landhäusern, an versiegten Brunnen und verwilderten Gärten. Schwerer war die Henkerarbeit im Gebirge. Auf der Höhe des Felsens von Anabato hatte man sich zur Verteidigung eingerichtet. Aber die Bewaffnung war ungenügend, so daß die Türken trotz der Unzugänglichkeit des Felsens auf drei Seiten, den Adlerhorst im Sturm nahmen und alles, was sich nicht ergab, von der Höhe hinabwarfen.”
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Also doch nicht der gerühmte kollektive Selbstmord …?
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WEITER MIT  DIE FABRIKA VON VOLISSOS
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WEITER MIT  MASTIX FÜR METHUSALIX?
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WEITER MIT  PYRGI UND HENRY FORD …
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WEITER MIT  AGIA MARKELLA UND ALI PASHA

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5 comments

  1. Es wird aber auch bezweifelt, daß Anavatos überhaupt eine mittelalterliche Geschichte hat. Charalambos Bouras schreibt in “Griechische Traditionelle Architektur: Chios” (Melissa, Athen 1984):
    “Anávatos hat keinen zentralen Wehrturm und gehört sicher nicht zu den mittelalterlichen Dörfern, da alle seine Bauten der Spätzeit der Türkenherrschaft angehören und es nicht in genuesischen Quellen erwähnt wird.”

  2. Hallo Theo,
    in Avgónima in der Taverne auf dem Dorfplatz waren wir auch und haben dort den leckeren Ziegenbraten gegessen. Gesehen haben wir Dich dort aber nicht 🙂 Uns hat Chios sehr gut gefallen.

  3. In Avavatos sollen auch Szenen des James-Bond-Filmes “For your eyes only” (deutsch: In tödlicher Mission) gedreht worden sein. Ich hab mir den Film jetzt nur im Schnelldurchgang angeguckt, aber nirgends Anavatos entdecken können. Der Film kam 1981 raus – gab es da überhaupt schon eine Straße nach Anavatos, mit der man das Film-Equipement hatte antransportieren können? Und wieso den Aufwand extra nach Chios zu reisen, wenn man doch auf Korfu und bei dem Meteora-Klöstern schon brauchbare Locations hatte?

    Vielleicht ist das eher so eine moderne Legende zur Tourismusförderung, oder eine Ente des Internet-Zeitalters?

  4. http://en.wikipedia.org/wiki/For_Your_Eyes_Only_(film)

    Ich nehme an, daß du recht hast, Katharina, wenn man in der SEHR ausführlichen Beschreibung des Films das SEHR ausführliche Kapitel über das “Filming” (also: die Drehorte) schaut, absolut kein Wort über Anávatos!

    Die anderen Internetquellen haben auch immer nur (oft wortgleich) diesen einen Satz über Anávatos, den einer vom anderen wohl abgeschrieben hat, ohne einen einzigen Beleg zu nennen.

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