Ein Jahr100 Mytilene

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Kafeneion in Agiassos 1985. Damals standen die rußschwarzen Helleniko-Kännchen noch im Holzkohlefeuer.
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Das gleiche Kafeneion 2011. Heute arbeitet die Kaffeemaschine. Kurz nach uns kommen zwei US-Amerikaner und bestellen zwei Cappuccino. Gibt es auch. Cappuccino. “If today is Friday, this has to be Greece. Or Italy. Whatever.” Wenn es hier nicht so ein doofes Bergdorf wäre, hätte man wohl nach Latte Macchiato gefragt.
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Lesbos war meine erste Griechenland-Erfahrung. Das war 1985. Im Herbst 2011 war ich zum dritten Mal dort. Diesmal war es nur ein sehr kurzer Besuch: Zum dritten Mal nachgeschaut, ob bei Marianne und Stamos die Palme vor dem Küchenbalkon noch steht, einen Tag in Agiassos (fast) ohne Touristen erlebt und einen “streng authentischen” Rembetiko-Abend am Hafen in Mytilini erlebt, auch ohne Touristen. Das Rembetiko-Lokal war allerdings keine verräucherte Drogen-Huren-Hafenmalocher-Kneipe, sondern ein gutbürgerliches Speise-Etablissement. Wenigstens war die Fischsuppe echt authentisch, wenn auch ihr Geruch die Nasen der Damen in meiner Begleitung beleidigte. Ein Foto zum Beleg? Hier bitte:
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Gut, keine eigenen Geschichten diesmal, ich beschränke mich hier einfach auf ein paar Bild-Impressionen; und was den Text angeht … da waren doch schon andere Reisende auf der Insel vor hundert Jahren! Lassen wir doch mal einen oder zwei von ihnen zu Worte kommen! Vielleicht spiegeln die Fotos von heute auch noch einen Hauch von der Zeit von damals …
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Was notiert zum Beispiel Dr. Wilhelm Endriß in “Streifzüge durch die Türkei” nach einem Besuch in “Mytilene” im Jahr 1906? Endriß, Professor am Realgymnasium Stuttgart, war sechs Jahre lang Oberlehrer für Naturgeschichte an der Deutschen Oberrealschule in Pera/Istanbul. Und er nutzte seine Zeit in der Türkei ausgiebig für kleine und große Ausflüge, immer mit Wanderschuhen, Rucksack, Skizzenblock, Kamera und Geologenhammer. “Unsere deutschen Landsleute am Bosporus sind eben diejenigen, die am meisten Sinn für Natur und Wandern haben …”, schreibt er. (Seite 15)
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Wandern auf Lesbos 2011: Der uralte Fußweg von Pigi Karini nach Agiassos zerlegt die neue Fahrstraße nach Asomatos, nicht umgekehrt, wie sonst üblich! Ist es nicht toll, wie das alte Naturstein-Pflaster messerscharf durch den Asphalt geht? Wer hat dafür nur gesorgt? Steht der alte Weg unter Denkmalschutz? Oder war es bloß eine patriotisch-trotzige Guerrilla-Aktion der Straßenbauer?
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Endriß ist gerade auf dem Weg nach Lesbos, aber er hat Schwierigkeiten mit der türkischen Polizei in Aktschai (Akcay), die noch nicht weiß, daß das Teskere, der osmanische Inlandsreisepaß, soeben offiziell abgeschafft wurde. Die Polizei läßt Endriß nicht auf die Mitternachts-Fähre nach Mytilini. Seine Identität soll zunächst telegraphisch aus Istanbul bestätigt werden. Mitten in der Nacht wird er in Adramyti (Edremit) in ein von Griechen (!) geführtes Hotel zwangseinquartiert:
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“Ich bekam das schönste Zimmer in dem Hotel und zwar ganz umsonst, so sehr ich mich auch sträubte. Weiter mußte ich die neue, große und prächtige Kirche und die Schule besuchen, bei vielen Handwerkern, Webern, Drehern usw. in die Werkstatt eintreten und dabei zahllose Tassen Kaffee und Limonade trinken. Abends wurde ich zu einer Hochzeit in ein recht sauber aussehendes griechisches Gasthaus geschleppt, wo Unmengen von Wein und Mastika vertilgt wurden und es im Gegensatz zu türkischen Gasthäusern äußerst lebendig und fröhlich bei den tadellos nach europäischer Mode gekleideten Leuten herging.” (Seite 124)
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Endriß kann am nächsten Tag nach Lesbos weiterreisen. Seine Identität ist telegraphisch geklärt: “Ich hörte gegen 10 Uhr, das Antworttelegramm sei gekommen, und ich machte mich alsbald auf den Weg zum Hükimet, dem Regierungsgebäude. Eben waren Polizisten und Schreiber daran, in den Korridoren, wo sie bis in den hellen Morgen hinein geschlafen hatten, Matratzen und Bettzeug aufzuräumen.” (Seite 124) Aber es reicht jetzt auch schon, daß er sich mit dem türkischen Stadtkommandanten auf deutsch unterhalten kann. Der hatte nämlich vier Jahre in Deutschland verbracht. Er kann sich aus seiner Position heraus über die ganze Bürokratie hinwegsetzen und genehmigt höchstpersönlich die Weiterreise von Akcay über Ayvalik nach Mytilini.
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2011. Noch eine Tradition auf der “roten Insel”: Die KKE verewigt sich mitten auf dem Fußweg im Nirgendwo. Nachdem der Hammer schon abgetreten ist, sieht die Sichel jetzt aus wie ein Fragezeichen. Wie sinnig …
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“Nach meinem Ausflug durch Anatolien kam ich mir in dem damals noch türkischen Mytilene wie in einer anderen Welt vor. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, als sei ich nicht mehr in der Türkei, sondern schon in Griechenland, so wenig fiel das Türkentum einem auf. (…) Schnell kam ich durch die Sperre und war nach ein paar Schritten in dem dicht am Strand liegendem Hotel Makallu. Darin sah es wirklich ganz ordentlich aus, die Zimmer waren ziemlich rein, und die Mahlzeiten konnte man in einem schönen Raum an weißgedeckten Tischen mit sauberem Besteck einnehmen; alles Dinge, die in einer Türkenherberge meist anders sind.” (Seite 126)
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2011. Den Keramikkünstlern auf Lesbos ist der lokale Pelzmützenträger immer noch darstellenswürdig! (siehe unten)
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“Dazu war das Volk, das ich nachher beim Abendschoppen in den am Ufer in langer Reihe nebeneinander liegenden Kaffehäusern fand, fast rein griechisch. Beinahe alle Männer trugen schwarze Pelzmützen oder einen Hut, wogegen ein Fez nur selten zu sehen war. Und fröhlich ging es unter ihnen zu, wozu freilich der genossene Alkohol sein Teil beitrug. Das Lieblingsgetränk der Palikaren ist der Mastika, ein mit Mastix, dem Harz von Pistacia lenticus versetzter Schnaps. Bestellt man sich einen solchen, so schreit erst der Kellner mit Stentorstimme zum Schenktisch: enna mastika! und bald bekommt man ein großes Tablett, auf dem eine Menge Sachen stehen. Einmal zwei Gläser, ein großes und ein kleines. Im großen ist Wasser, im kleinen der wasserhelle Branntwein. Gießt man Wasser zu ihm, so bekommt man eine milchig trübe Flüssigkeit, da das Harz in verdünntem Alkohol nicht löslich ist. Außerdem sind auf dem Tablett noch vier Tellerchen mit je einem Bissen Brot, Käse, einer Sardelle, einigen Radieschen, spanischem Pfeffer oder sonst einer scharf schmeckenden oder Durst erzeugenden Speise. Und fragt man nach der Schuldigkeit, so wundert man sich nicht wenig, daß man die ganze Herrlichkeit für 10 Para, d.h. 4 Pfennige, bekommt.” (Seite 126) (1906 kostete ein halber Liter Bier oder eine Tasse Kaffee in einem Berliner Café etwa 30 Pfennig.)
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2011. Die γιαγιά wundert sich, was mich an dem verrammelten alten Laden interessiert. Ja, die spinnen, die Touristen …
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“Hier in Mytilene verstärkte sich mir der Eindruck, daß die Griechen gegenüber den Türken das wirtschaftlich tüchtigere Volk sind, obwohl die letzteren nicht nur politisch das Heft in den Händen haben, sondern sich auch überhaupt als ein Herrenvolk fühlen, das auf die Rajah heruntersieht.”
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“Sie (die Griechen) haben nicht nur zahlreichere und bessere Schulen, sondern sie unterrichten auch in ihren höheren Schulen so, daß die jungen Leute Fühlung nehmen können mit der Kultur Westeuropas. Sie sind weiter diejenigen, die wie die Armenier im Osten der Türkei hier im Westen Industrie und Handel fast ganz in Händen haben. Selbst die Griechen der Dörfer beschäftigen sich weniger mit dem Anbau von Getreide, der mehr den Türken überlassen wird, als vielmehr mit Wein- und Gemüseanbau, Oliven- und Seidenzucht und verstehen auch besser mit den Produkten Handel zu treiben. Damit verdienen sie aber viel mehr als die Türken, und ihre Dörfer machen darum meist einen wohlhabenderen Eindruck.”
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“Von den Quälereien, denen die Griechen dabei oft von seiten der Behörden zur Zeit Abdul Hamids ausgesetzt waren, macht man sich kaum einen Begriff. Um die selbstverständlichsten Dinge mußte gestritten, für alle möglichen Fälle mußte Bakschisch gegeben werden.” (Seite 127) (Abdul Hamid II., 1842-1918, türk. Großsultan 1876-1909)
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Agiassos 1985: Bild von der Beerdigung eines Metropoliten von 1958, in einem Schaukasten. Herrliches Foto! Was für ein toller Leichenwagen, ein Opel Olympia Kombi, Baujahr etwa 1952, und diese Riesen-Bischofskrone auf der Motorhaube und der Bischof als Dachladung! Das Metro-Mobil …?
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Es ist nicht deutlich, wann Endriß seinen Text aus den Reisenotizen in die endgültige Buchform überträgt, definitiv erst nach der Absetzung Abdul Hamid II. im Jahr 1909, aber wahrscheinlich erst um 1915/1916. Seine politischen Überlegungen auf Lesbos schließt er jedenfalls so:
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“Sehr wahrscheinlich ist, daß nun, wenn durch die neuen Verhältnisse derartige Geschichten unmöglich und der Industrie die Wege geebnet werden, davon hauptsächlich die Griechen und die Fremden gewinnen werden. Fast möchte ich das im Hinblick auf die Türken bedauern, denn ihrem Charakter nach sind sie mir viel sympathischer als die Griechen.” (Seite 128) (1912 wurde Lesbos von griechischen Truppen besetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es durch die Verträge von Sèvres (1919) und Lausanne (1923) offiziell zu Griechenland.)
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Grenzübertritt 1985
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1985 arbeitete die türkische Bürokratie noch mit Eifer, als wir von Mytilini aus in die Türkei, nach Ayvalik, wollten. Aber die Grenze zwischen dem anatolischen Festland und den Inseln war immer, auch schon zu osmanischer Zeit, bestens bewacht. Paul Lindau schreibt in seinem Buch “An der Westküste Klein-Asiens” (1900):
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“Der Hauptplatz für den Schmuggel im Norden der kleinasiatischen Küste ist Aiwali, das der Nordspitze von Lesbos genau gegenüber liegt. Die blühende Stadt von 36.000 Einwohnern hat ihren Wohlstand lediglich dem Schmuggelhandel zuzuschreiben. (…) Wollten hier die örtlichen Behörden, die übrigens samt und sonders an dem guten Geschäfte des Schmuggels mitbeteiligt sind, dem unerlaubten Handel ernsthaft zuleibe gehen, so würden sie einfach niedergeschossen werden.”
(Ayvalik, im Altertum Kydonia, war bis zum griechischen Unabhängigkeitskampf 1821 eine fast rein griechische Stadt und besaß ab 1773 im osmanischen Reich eine gewisse Autonomie,  die den orthodoxen Christen einige Freiheiten brachte. Wichtigstes Schmuggelgut waren übrigens Zigaretten.)
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Meine erstes Fährticket innerhalb von Griechenland, 1985: Mit der “Omiros” von Mytilini nach Chios …
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… die Omiros im Hafen von Mytilini, abfahrtbereit.
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Die Eindrücke von Endriß und Lindau überschneiden sich, was Lesbos angeht. Lindau: “So fröhlich und lieblich wie Mytililene hatte noch keine Stadt des Morgenlandes auf mich gewirkt. Vom Hafen aus betrachtet sieht die Stadt allerdings nichts weniger als orientalisch aus, und nichts erinnert in ihrem Wesen daran, daß der Oberherr des Islam über sie gebietet.” (Seite 39)
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Lindau erinnert daran, daß die Hauptverkehrsstraße von Mytilini, der Bazar, in der Antike mal ein Kanal war, der die beiden Häfen unterhalb der Festung verbunden hatte. Der Bazar imponiert ihm nicht, denn es herrsche dort “dieselbe Verwahrlosung und dieselbe Unsauberkeit wie überall. An interessanten Läden ist völliger Mangel. Man findet nicht einmal die üblichen Teppiche, Stickereien oder getriebenen Arbeiten aus Edelmetall, die meist gefälschten alten Münzen und vorgeblich ausgegrabenen Scherben, die sonst nirgends fehlen.”
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Mytilini, Bazarstraße 1985: Metallwarenfachgeschäft, der Chef hat Pause …
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Aber Lindau geht trotzdem gerne zum Bazar von Mytilini, wenn auch die zeittypischen Souvenirangebote fehlen, denn “nirgends, weder in Griechenland selbst noch in einer anderen Ansiedelung der Hellenen an der kleinasiatischen Küste, habe ich einen so schönen Menschenschlag gesehen wie hier.” Aha … (Seite 50)
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2011. Agiassos, frauenlos, herrenlos, hundelos, maultierlos …
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Was die Schönheit und andere Qualitäten angeht, da fällt mir noch eine kleine böse Spruchweisheit aus Mytilini ein, gefunden bei Matt Barrett:
“From Agiassou or Plomari
neither woman nor mulari.”
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Bei Lindau steht dagegen: “Plumari, das wegen seiner schönen Weiber und der Erhaltung des althellenischen Typus berühmt ist …”
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2011. Schlank wie eine Tanne … äh Palme … die besonders schöne Palme unter unserem Küchenbalkon.
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Naja, keine Ahnung, was die inseltypischen Qualitätskriterien angeht für schöne Frauen oder Maultiere … 🙂 … vielleicht muß man sich gerade von den schönen Frauen der Insel ja auch fernhalten. Lindau, Journalist, Schriftsteller und Theaterdirektor, hat darüberhinaus auch noch was über die Männer und über die Hunde auf der Insel zu sagen:
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“Mytilene besitzt nicht nur die kräftigsten und edelsten Männergestalten, sondern auch die verhältnismäßíg besten herrenlosen Straßenhunde des Orients. (…) Die städtischen Behörden sorgen in wohl nützlicher, aber etwas grausamer Weise dafür, daß sich die armen Geschöpfe nicht zu sehr vermehren. (An einem Abend im August) wird durch die ganze Stadt strychninvergiftetes Fleisch auf die Straße geworfen, und alle Hunde bis auf wenige, die durch einen glücklichen Zufall dem Verderben entrinnen, werden getötet. In der Frühe werden die Leichen aufgeladen, auf ein Boot gebracht, aus dem Hafen heraus auf das Meer gefahren und da versenkt, wo es am tiefsten ist.” (Seite 54)
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1985. Was die Hunde in Mytilini so treiben, um nicht auszusterben …
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So, das letzte Wort hat Matt Barrett. Der liebt nämlich Bergdörfer und schrieb (noch in der Vor-Euro-Zeit): “Agiasou is my new favorite village in Greece. (…) For me Agiassou is a revelation. Life on Lesvos is in the mountain villages. While towns like Erressos and Molivos rake in the pounds, marks and dollars, destroying tradition in the process, the mountain villages have thrived in a sensible way and have retained the charm and lifestyle that they have had for hundreds of years, or more.”
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Nein, ein allerletztes Wort noch! Von mir. Was die Türken angeht … sie könnten demnächst zurückkommen. Wegen der Euro-Krise. In der Tourismusbranche. Man las in der griechischen Presse, daß türkische Unternehmer Investitionsmöglichkeiten suchen auf den griechischen Inseln. Die türkische Festlandsküste ist ja inzwischen all-inklusive-zubetoniert …
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So, ein Jahrhundert Lesbos am Ende. Und kein Wort über Sappho …
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Quellen:
Streifzüge durch die Türkei
Wilhelm Endriß, Hartleben/Wien u. Leipzig, undatiert, ca. 1916
An der Westküste Kleinasiens
Paul Lindau, Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur/Berlin, 1900
Matt Barrett’s Lesvos Guide:
Agiassos
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WEITER MIT  LESBOS
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WEITER MIT  LESBOS, DIE “ROTE INSEL”
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WEITER MIT  DIE ERSTE “RESIDENZ”
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3 comments

  1. 39 coffee houses and a barber’s shop

    A series of photos from the old kafeneia (coffee shops) and barber shops in Lesvos Greece. Photographs by Tzeli Hadjidimitriou, music from the CD with traditional music of Lesvos, “Lesvos Aiolis”. All rights reserved CUP, Nikos Dionysopoulos, Tzeli Hadjidimitriou.
    Enjoy the pictures of the old cafe of Lesvos, most of them are already closed years ago. A taste a life, lost long ago…I was lucky to have been able to feel it and capture it with my camera, but mostly with my heart…

  2. Sehr stimmungsvolle Bilder – schade, daß die Video-Auflösung nicht gut genug ist, so daß man sich das in voller Bildschirmgröße reinziehen kann. Bis auf 2 Kafeneia in Plomari und Agiassos hab ich nichts wiedererkannt. Und sooo alt sind die Fotos ja noch gar nicht.
    Theo
    Hab mir keinen Ouzo beim Anschauen angetan, dabei habe ich noch Barbagiannis in der Küche, hatte aber gerade eine Flasche (geschenkten) Retsina aufgemacht. Ging auch …

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