Delphi Wagenlenker 1896


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Oben auf dem Stapel: Unter der Sonne Homers (Erlebnisse und Bekenntnisse eines Dilettanten) von Wolfgang von Oettingen (Grunow/Leipzig, 1897)
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Ein paar biographische Daten über Wolfgang von Oettingen finden Sie auf der oben genannten Seite. Ich will mich hier nicht allzu sehr in die Details dieses Buches vertiefen. Ich will mich auf zwei Kapitel beschränken: (A) Der Tag, an dem Oettingen zufällig Zeuge wird, daß der Wagenlenker von Delphi gefunden wird, und (B) eine Skizze seines Tagesbesuchs auf Samothrake, das soll reichen.
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Oettingen besucht eben Orte, die viele andere frühe Griechenland-Reisende auch besucht haben, und er breitet nebenbei gerne sein philologisches Wissen aus – um eben NICHT als Unwissender bzw. Dilettant zu erscheinen. Dilettant ist er nur auf dem Fachgebiet der Archäologie. Das ärgert ihn, denn ein Reisender in Griechenland hat für ihn auf diesem Gebiet kompetent zu sein … denn so etwas wie “Erholungs-Tourismus” gibt es für ihn nicht.
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Oettingen hat jedenfalls einmal ganz großes Glück gehabt: Er war im Frühjahr 1896 rein zufällig an dem Tag dabei, als der heute weltberühmte Wagenlenker in Delphi auf dem Gelände des Apollon-Tempels geborgen wurde.Von Anfang bis Ende kann er bei der Arbeit zuschauen! Er behauptet das jedenfalls in seinem Buch, man kann sich heute kaum vorstellen, daß Archäologen eine solche Ausgrabung in so kurzer Zeit vornehmen würden!
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Delphi, das Gebiet des Apollon-Tempels ist noch größtenteils überbaut vom Dorf Kastri (Foto Mahaffy ‘Rambles in Greece’ 1900). Seit 1892 wurde hier unter der Leitung von Théophile Homolle ausgegraben. Das Dorf wurde komplett umgesiedelt.
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Die Stelle aus Mahaffys Foto, von mir 1993 fotografiert, jedoch vom Standort des Schatzhauses der Korinther, wo oben noch die Bauernhäuser stehen. (Die Säulen der Stoa der Athener stehen im Foto jetzt also rechts statt links.)
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(A) FUND DES WAGENLENKERS IN DELPHI
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Zeitgenössische Bilder des Wagenlenkers um 1900 habe ich nicht gefunden – nicht einmal ein Erwähnung des Fundes! (Übrigens: 1896 hatte Delphi oder Arachova auch noch keine gewerbliche Übernachtungsmöglichkeit.) Heute ist die Bronzefigur so berühmt, daß ich mir schon gar keine Mühe mehr gegeben habe, sie zu fotografieren, als ich in den Jahren 1993 und 2000 im Museum war.
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Wolfgang von Oettingens Text von 1896 habe ich etwas gekürzt – ich denke, die Stellen seiner größten feierlichen Ergriffenheit werden Sie nicht unbedingt vermissen:
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“Ein Zusammenlauf der grabenden Arbeiter zog uns zu einer Stelle, wo zwischen tief verschütteten Mauern die Reste einer durch Erdbeben oder den Zusammenbruch von brennenden Gebäuden zerschmetterten Wasserleitung freigelegt wurden. Da hatte man soeben aus den festgebacknen Lehmschichten, unter zwei Marmorblöcken, die das Glück zu einer Art von Überdachung gegen einander geschoben hatte, die Zehen eines lebensgroßen, offenbar männlichen Bronzefußes hervorragen gesehen. Dort lag also, unwürdig begraben, ein Gott oder ein König oder sonst ein Held, und die feierliche Stunde seiner Auferstehung war gekommen.
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Die die Ausgrabung leitenden Herren gestatteten uns, nach Bequemlichkeit heranzutreten, und befahlen alsbald ihre erprobtesten Leute an die Stelle. Mit sanftem, tastendem Angriff räumten jetzt Hacken und Pickel noch einige Steine fort; dann faßten die Hände selbst in den Schutt.
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Da liegt der eine Fuß vollständig am Tage; nackt, trotz seiner Decke von Edelrost und Schmutz schon kenntlich als ein scharf geformtes, realistisches Kunstwerk von hohem Wert und hohem Alter. Dicht daneben, fast parallel zu ihm gestellt, findet sich der zweite, und gleich über den Knöcheln setzen die regelmäßigen Falten eines rockartigen Gewandes an. Als wäre sie ein neugeborenes Kindlein, so sorgfältig fährt nun der Vorarbeiter in seiner Behandlung der Statue fort. Die eisernen Werkzeuge kommen schon gar nicht mehr zur Anwendung, die Finger, allenfalls kleine Hölzchen müssen genügen, um den Boden ringsum weiterzulockern und wegzuschaffen.
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Langsam, langsam, unter wachsender Spannung aller Zuschauer rückt die Befreiung vor; an den strengen, starren Rockfalten aufwärts ist jetzt der Gürtel erreicht. Wird auch die obere Hälfte des Rumpfes, werden Arme und Kopf erhalten sein? Da, ein Aufschrei des Bedauerns! Gleich oberhalb des Gürtels, wo der Leib seine schmalste Stelle, setzt das Erz in scharfem Bruche ab, und die leider halbierte Statue, ein trauriger Anblick, läßt sich mühelos aus ihrer Gruft heben.
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Da lehnt sie dann an der nächsten Mauer, und während die Archäologen sie photografieren, messen, charakterisieren und einzuordnen versuchen, haben die Arbeiter ihr Graben an der Fundstelle wiederaufgenommen. Erfahrung und Überlegung leiten ihre Spaten; und siehe! nicht gar weit von dem Lagerplatze der Beine in ihrem Faltenrock findet sich auf einmal der übrige Körper der Figur, und bis auf eine Hand ist er unverletzt! An seinen breiten Schultern sitzen sehnige Arme, die sich gleichmäßig vorstrecken wie die eines Wagenlenkers, und der Hals trägt einen Kopf mit reichen, schön geordneten Haaren, und auch er blieb verschont, und der volle Blick seiner aus Onyx und Smalto eingesetzten Augen und sein fremdes, unbeschreibliches Lächeln begrüßen die goldene Sonne, die ihn vor Hunderten und Hunderten von Jahren zuletzt bestrahlte.
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Kaum je in meinem Leben habe ich so tief die Gewalt empfunden, die von einem auf realistischer Grundlage stilisierten Kunstwerke ausgehen und die getrenntesten Generationen auf das ihnen Gemeinsame führen kann.”
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Chora, der Hauptort von Samothrake
(Foto Anfang 20. Jahrhundert, Antoine Bon)
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(B) TAGEBUCHSKIZZE – TAG IN SAMOTHRAKE
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Wolfgang von Oettingen war einer der wenigen Reisenden, die um 1900 die Insel Samothrake besuchten. Eine gekürzte Textskizze aus Oettingens Reisetagebuch:
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“Den 12. Mai 1896. In den Booten kamen wir ans Land; ein türkischer Soldat (Samothrake gehört seit 1457 zum Osmanenreiche) beobachtete unsere Ankunft und erklärte für notwendig, uns in den Ort, den einzigen bedeutenderen auf der Insel zu begleiten, wo sein Offizier uns abfertigen werde. Während dieser Verhandlung kamen einige Maultierttreiber mit Reittieren eiligst herbei, um einen Verdienst einzuheimsen. Strammer Marsch im Maultiertempo, für die Fußgänger, zu denen ich gehörte, lästig. Zunächst nach der kleinen Fischeransiedlung Kamaris. Holzhütten, nordischen Heuscheunen ähnlich, standen auf dem Sande; fremdartig schönes Volk, halb griechisch, halb türkisch gekleidet, schlanke, sehnige Kerle von lässigen Bewegungen, starrten uns an – fast nie kommen Fremde auf diese abgelegene Insel.
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Ohne Aufenthalt weiter in die kahlen Berge; nur Buschwerk; alpine Grundformen und Felsbildungen. Nach einer Stunde erreichen wir das Dorf, Chorion oder Kastro genannt. Es steigt steil aus einer Schlucht empor, Haus über Haus; die meisten Häuser haben flache Lehmdächer, nur wenige sind mit Ziegeln gedeckt. Eine große griechische Kirche und das Fehlen einer Moschee bezeugen die Naturwidrigkeit der türkischen Herrschaft auf der Insel. Der Eindruck des Ganzen ist ziemlich ärmlich, doch haben einige Häuser Glasfenster, Läden und sogar Vorhänge.
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Wir rasteten vor einem Wirtshause unter blühenden Oleanderlauben, bei dem Bezahlen stellte sich jedoch heraus, daß keiner sich von uns mit türkischem Gelde versehen hatte, und griechisches wurde hier nicht mehr genommen. Schließlich half uns die menschliche Thorheit: der Wirt ließ sich deutsche Nickelmünzen gefallen, weil sie ihm neu waren und imponierten.”
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Rein zufällig findet noch eine (türkische) Hochzeit im Dorf statt, zu der die Samothrake-Zufallsgäste natürlich auch eingeladen werden. Der Literaturwissenschaftler und Goethe-Fachmann Oettingen geht gerne hin, obwohl die Zeit knapp wird, denn er will noch “zum Heiligtum der Kabiren, von denen niemand mehr wußte als Goethe, vgl. Faust, II. Teil, in der Klassischen Walpurgisnacht”. Oettingen steht auch auf dem Ausgrabungsfeld, findet es “malerisch, aber ziemlich unbedeutend”.
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Letzte Zeile des Tages in Oettingens Tagebuch: “Um acht Uhr hungrig aufs Schiff gekommen, bald und todmüde zu Bett.”
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