1929 – Herr Lindbohm ist dann mal weg

Unterlagen im Einbanddeckel
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Wenn Sie NUR an Reisen in Griechenland interessiert sind, können Sie jetzt noch schnell die Seite wechseln … 🙂 … wenn Sie am REISEN AN SICH interessiert sind, können Sie gerne bleiben …
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Aus den anderen Kapiteln auf theopedia sehen Sie, daß ich alte Reiseführer und Reisebücher und individuelle Reiseberichte sammele. Auf jeder eigenen Reise führte mich in den Vor-Internet-Zeiten mein Weg überall und jederzeit in die lokalen Antiquariate.
Sie werden nicht glauben, was man (zum Beispiel) alles in Finnland auftreiben konnte! Die Finnen sind ein äußerst lese- und reisefreudiges Volk. Und der so polyglotte wie reisefreudige Finne las englische, französische, russische und deutsche Texte.
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Text BaedekerAlte Baedekers Reiseführer sind über die ganze Welt verstreut. Was Sie nie finden, sind die losen Einbanddeckel, mit denen Sie die blockweise zertrennten Baedeker-Bände locker in ihre Jackentasche schieben konnten. Das war besser, als das schwere Reisebuch überall mitzuführen.
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Die Einbanddeckel wurden bis zum ersten Weltkrieg angeboten. In einem Antiquariat in Helsinki fand ich gleich fünf davon, in bestem Zustand, und habe damals zusammen umgerechnet 10 Euro dafür bezahlt. Das war schon echt günstig.
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Vier habe ich bei ebay wieder angeboten und verkauft. (Eine Auktion endete mit einem Phantasiepreis – 3000 Euro – weil gleich zwei Last-Minute-Bieter schafften, das Komma in ihrem Bietbetrag falsch zu setzen. Ja, ich habe die Auktion annullieren lassen, was nicht einfach ist, da ebay die ordentliche Verkaufsgebühr gerne kassieren wollte.)
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Eine der Buchdeckeltaschen war mit Reisemitbringseln einer Europa-Tour von 1929 gefüllt. Diesen Deckel habe ich auch behalten (Foto oben). Anhand der Quittungen und Belege konnte man einen Teil der Reise des Diplom-Ingenieurs Lindbohm nachempfinden.
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Ich habe keine Ahnung, wer dieser Herr Lindbohm war und wo er im europäischen Norden zu Hause war – der Name klingt schwedisch, aber er ist in Finnland offenbar häufiger anzutreffen als im restlichen Skandinavien (>Google).
Die erste Quittung führt einen jedoch nach Oslo, in die Pension „Ritz“. Die Pension Ritz wird in keinem Reiseführer der damaligen Zeit erwähnt, aber sie hatte sogar eigene Ansichtskarten – mit einer flotten Benzinkutsche vor der Tür (wohl ein Volvo P4):
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Ritz Oslo
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Hier übernachte Herr Lindbohm nur einmal, vom 26.04. auf den 27.04.1929, bezahlte aber zweimal Frühstück (frokost) und zweimal Mittagessen (middag).
War er da noch in Begleitung …? Hatte er da für 5 Kronen (= 6,50 Mark) vielleicht noch ein Doppelzimmer?
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Ich faltete das Papier auseinander, und schon war meine Neugier erwacht … 🙂 …
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Rechnung Ritz
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Die Fähre von Oslo nach Kiel ging nachmittags. Mitten in der Nacht konnte man in Kiel in den Schnellzug nach Berlin umsteigen, wenn das „täglich verkehrende Dampfschiff“ keine Verspätung hatte (>Storms Reiseführer ‚Norwegen, Island und Spitzbergen‘ von 1927). Bei Herrn Lindbohms Reise war das Schiff pünktlich. So landete unser Reisender nach seiner Nachtfahrt am 28.04.1929 in Berlin, im Alexandra-Hotel, und blieb dort bis zum 30.04.1929:
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Hotel Alexandra Berlin
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Baedeker ‚Berlin‘, 1927: “In der Mittelstraße: Nr. 16/17, Alexandra-Hotel, 120 B. zu 3,50-8
(4 Z. mit Bad zu 8-11), F. 1,90, P. 11-14 Mark, mit Restaurant, gut.”

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Rechnung Alexandra Hotel
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Die Rechnung ist etwas unübersichtlich: Herr Lindbohm hatte hintereinander die Zimmer 129 und 131! Aha. Warum hat er das Zimmer gewechselt – wo das zweite Zimmer doch 50% teurer war? Bettwanzen? Das Bett an der Wand zum Hotelaufzug?
Zweimal Frühstück (4,80 plus obligatorische „10% für den Kellner“) kosten mehr als eine Übernachtung. Und Eier zum Frühstück kosten 50 Pfennig, das ist 1/8 des Zimmerpreises im Zimmer 129 …
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Herr Lindbohm checkt aus. Lesezimmer, Restaurant und Biergarten des Hotels halten ihn nicht. Auch nicht das Brandenburger Tor. Gut, in der nächsten Nacht spart er wieder.
Er nimmt den Nachtzug nach München. Nimmt den Liegewagen. Das kostet ihn aber doch 2,50 Mark für ein „komplettes Bettzeug“, zusätzlich zum Fahrpreis.
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Mitropa Quittung
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Am 01.05.1929 trifft er in München ein. Sein Hotel dort hat sogar ein Baedeker-Sternchen, ist also „empfehlenswert“!
Baedeker ‚München und Südbayern‘, 1928:* Schottenhamel, Ecke Luitpold- und Prielmayerstraße, mit besuchtem Restaurant, 135 B. zu 3 1/2 – 5 Mark”
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Hotel Schottenhamel
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Das altehrwürdige Hotel existiert nicht mehr. Für die Familie Schottenhamel war es ohnehin nur eine Nebenerwerbsquelle. Die Schottenhamels sind seit Generationen in erster Linie aktiv als Wiesnwirte und Gaststätteninhaber. Das Haus wurde in den 70er Jahren abgerissen und durch einen Neubau ersetzt (links). Dort erwartet einen jetzt – neben dem Oberlandesgericht  – u.a. die Targo-Bank (Foto Google Earth):
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Luftbild Prielmayerstrasse
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Ein Besuch bei der Bank war bei Fernreisen in den 20er Jahren des öfteren nötig. Da zahlt Herr Lindbohm in München für die Übernachtung 3,50 Mark – und hat Nebenkosten von 4,70 … alleine 1,50 für die Badbenutzung. Und gleich 0,60 für die Eier zum Frühstück … bei 15% Trinkgeld und der „höflichsten“ Bitte, wenigstens eine Hauptmahlzeit im Hotel einzunehmen. Ha! Herr Lindbohm pfeift drauf.
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Schottenhamel Quittung
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Lindbohm war im Grunde ja eher bescheiden. Top-Hotels kosteten in München damals 6-14 Mark, mit Bad sogar 15-24 Mark (im Bayerischen Hof)!
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Am 02.05.1929 reist Herr Lindbohm ab, nach Zürich. Er bleibt dort zwei Nächte:
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Limmathof
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Baedeker ‚Schweiz‘ 1930: “Zürich / Limmathof, bei der Bahnhofbrücke, 90 B. zu 4 1/2 – 6 1/2, F. 1 3/4, M. A. 3 1/2 fr.”
Das Hotel Limmathof Zürich existiert heute noch, das EZ kostet im Juli 2016 onlinegebucht 132 Euro, ist “gut” bewertet von den Hotelgästen.
„Gut“ ist in den heutigen Zeiten eigentlich nur „ausreichend“ …

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Siehe da: 2 x Einzelzimmer = 8 fr., mit Nebenkosten und Verzehr 25,95 fr.! Schon das Mittagessen ist teurer als eine Übernachtung. Gepäcktransport zum Bahnhof kostenpflichtig, und lieber keine Eier zum Frühstück …
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Limmathof Quittung
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img781_TelegrammAlex2_A333Dann verlieren sich Lindbohms Spuren in Italien. In Rom erhält er ein Telegramm aus Berlin, aus dem Hotel Alexandra. Ein Einschreibebrief sei unterwegs. Aha. Hatte Herr Lindbohm plötzlich gemerkt, daß er etwas Wichtiges in Berlin vergessen hat? Vielleicht seine Travellerschecks?
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Telegramm Alexandra
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In Italien zugestelltes Telegramm, ohne voll identifizierbares Datum. Vom Eingangsstempel ist “Roma … 5 29” übriggeblieben.
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Weiter ging es nach Frankreich, wenigstens ein kleines Stück über die italienisch-französische Grenze, nach Juan-Les-Pins an der Riviera. Das Seebad existiert eigentlich erst seit Mitte der 1920er, in der Nähe von Nizza und Cannes. Fängt hier – in unmittelbarer Casino-Nähe – der Vergnügensanteil dieser Reise an? Lindbohm ist dort im Postamt am 25.05.1929
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Juan les pins
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… und gibt eine Internationale Zahlungsanweisung in Auftrag (Auftragssumme = 35,10 Franc, Gebühren 1,79 Franc). Ein Empfänger ist auf der Quittung nicht verzeichnet. Hatte Lindbohm irgendwo vergessen, sein Hotelzimmer zu bezahlen? Hat er seinen Casinogewinn an seine Gattin überwiesen … 🙂 …?
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Und dann? Dann ist Herr Lindbohm einfach mal weg, endgültig. Und wer würde sich an ihn und seine Europa-Tour erinnern, wenn nicht ein Romantiker (wie ich) an diesem Tag dieses Antiquariat in Helsinki besucht hätte … um eine Handvoll alte leere Buchdeckel zu kaufen, die die Ladeninhaberin unter der Theke deponiert und fast vergessen hatte.
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PS. Was individuelle Reisen angeht … als ich die Seite über die Abiturreise des Freiherrn Edmund von Speth-Schülzburg veröffentlicht hatte (im Jahr 1901, nach Griechenland), meldete sich später seine Enkelin bei mir.
Vielleicht kennt ja jemand auch die Familie des Diplom-Ingenieurs Lindbohm? OK, meine Texte werden in Finnland und Norwegen nur ganz selten gelesen …
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AK Griechin VorderseiteNACHTRAG 23.07.2016:
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Reiserinnerungen findet man an den abwegigsten Orten, in den verschiedensten Zuständen und Ausführungen. Ich habe zum Beispiel ein Reisehandbuch von Neuseeland von 1893 (von F.W. Pennefather), mit dem der Autor der neuen Auflage (J.B. Clarke-Thornhill) 1902 durchs Land gereist ist. (Gefunden auf dem Flohmarkt in Amsterdam.) Dabei hat der Autor für die Redaktion von Murray’s Handbooks alle Aktualisierungen mit feiner schwarzer Tusche am Rand der alten Ausgabe notiert. Alle Texte, die bleiben sollten, sind mit einem senkrechten Strich am Rand markiert.
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Das Vorwort beginnt mit: “A few years ago, tourists were almost unknown in New Zealand. This has now changed.”
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AK Griechin RueckseiteEs kann aber auch bloß eine einfache Postkarte sein, die man irgendwo findet: Was hat eine Dame, die Alexandrine hieß, bewegt, einem namenlosen “Monsieur” in Frankreich am 10.03.1921 diese Karte mit dem Portrait einer griechischen “Balkan-Schönheit” zu schicken? Aus der Donaustadt Roustchouk (heute Russe) in Bulgarien?
‘Monsieur’ hatte sich überraschenderweise aus Versailles gemeldet. Alexandrine beneidet ihn, denn das Leben in Roustchouk ist sehr monoton. Sie spielt ständig Klavier, um die Zeit totzuschlagen. Und da ist auch noch eine gewisse ‘Rachel’, die dem ‘Monsieur’ für irgendetwas echt dankbar ist. Da können wir mal unsere Phantasie spielen lassen …
Dafür hat Alexandrine von einem gemeinsamen Bekannten seit Anfang des Jahres nichts mehr gehört. Er habe sie wohl vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn …
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Nun, ist das die Inspiration für einen kleinen historischen Roman?
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Immerhin, der Schriftsteller Elias Canetti (Nobelpreis 1981) stammt aus Roustchouk … der war im März 1921 aber erst 15 Jahre alt, und auf einem Internat in der Schweiz.

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