Tournefort: Kreta-Reise im Jahre 1700

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Rethymnon (Retimo) im Jahr 1700. Zeichnung von Claude Aubriet, der wie der Arzt Andreas von Gundelsheimer den Botaniker Joseph Pitton de Tournefort auf seiner Reise begleitete (09.03.1700 – 03.06.1702).
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Kreta war die erste Station auf Tourneforts langer Reise im königlichen Auftrag, die zum größten Teil durch das Osmanische Reich führte. Reisende Franzosen waren im Reich des Sultans durchaus willkommen. Ludwig XIV. hatte ja die türkische Belagerung von Wien gebilligt und sich nur aus “Höflichkeit” (mit ein paar hundert Freiwilligen) im Kampf um die Insel Kreta eingemischt. Daß ein im Regierungsauftrag reisender Wissenschaftler im Lande nicht ausschließlich zur Bestimmung von Pflanzenarten unterwegs war, das nahm man im Serail hin.
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Und Tournefort interessierte sich für alles mögliche: Die Steuereinahmen, die Religion, die Bevölkerungsanteile eines Bezirks, die (oft fehlende) Präsenz eines Beamten- oder Militärapparates am Ort, die Qualität der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, der Umfang des Handels, die Sitten und Gebräuche. Aus den (verborgenen) Stärken und Schwächen eines potentiellen Gegners konnte man viel lernen.
Wenn man 1645 in Venedig nur geahnt hätte, wie sehr die unterdrückten Griechen auf Kreta dem Überfall der Osmanen den Erfolg gönnten! Sie rührten für das verhasste Regime der Venezianer freiwillig keine Hand.
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Zuerst ein etwas längerer Rückblick, den man ggf. auch überspringen kann 🙂 :
Die politisch äußerst unruhige Zeit des 17. Jahrhunderts war um das Jahr 1700 in einer relativ ruhigen Phase. Mit dem Frieden von Karlowitz endete soeben der „Große Türkenkrieg“ (1683-1699).
Vorher, 1618-1648, herrschte der Dreißigjährige Krieg. Mehrfach griffen die Osmanen das Territorium der Habsburger an (1683 stehen sie vor Wien), 1645 attackierten sie die Dalmatische Küste und die Insel Kreta, die zum venezianischen Herrschaftsraum gehörten.
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Ab 1523 wurden auf Kreta die Festungsanlagen von Candia (Iraklio) errichtet, ab 1536 die Stadtmauern von Canea (Chania), ab 1540 die Festung von Retimo (Rethymnon), ab 1573 das Inselkastell von Souda. 1579 kam die Inselfestung von Spinalonga dazu, 1584 Gramvoussa im Westen. Dazu wurde eine Reihe von kleineren Anlagen verstärkt, an der Südküste zum Beispiel Ierapetra und Frangokastello.
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Die Streitkräfte der Venezianer bestanden (im Mannschaftsrang) zum großen Teil aus Söldnern und Zwangsverpflichteten. Und am Ende des Dreißigjährigen Krieges war das Angebot auf diesem „Markt“ sehr groß. Die Fürstentümer des Nordens verkauften gleich kontingentweise ihre überflüssigen (und zum Teil bereits marodierenden) Soldaten in venezianische Dienste; gleich 30.000 davon kamen aus Norddeutschland.
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Im Juni 1645 begann die türkische Kreta-Invasion. 60.000 Soldaten hatte die türkische Flotte zur Insel gebracht. Zunächst war der Widerstand nicht groß, Canea (Chania) wurde bereits im August 1645 erobert. Auf dem Landweg ging es ohne Eile ostwärts (Landkriege waren ja nichts für Venedig), im November 1646 ergab sich die Festung von Rethymnon.
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1648 begann die Belagerung von Candia (Iraklio), und die sollte am Ende 21 Jahre dauern, bis 1669, und es wurde ein ungewöhnlich brutaler, „dreckiger“ Krieg. Auf türkischer Seite starben mindestens 120.000 Mann, mindestens 30.000 auf venezianischer Seite. Zwangsrekrutierte Griechen und Sträflinge in Zwangsarbeit wurden wohl gar nicht erst mitgezählt.
Die Türken konnten oft nicht verhindern, daß Nachschub für die Stadt den Hafen erreichte. Trotzdem wurde in Candia gehungert, man starb an Seuchen, die medizinisch nicht behandelt werden konnten. Auf der anderen Seite war es nicht besser: Die Venezianer überfielen den türkischen Menschen- und Material-Nachschub oft schon in der Enge der Dardanellen.
Der Stellungskampf um Candia wurde oft unter die Erde getragen. Von beiden Seiten wurde unzählige Stollen in mehreren Ebenen unter die Festungswerke oder Belagerungs-Camps getrieben, um am Stollenende Minen explodieren lassen zu können. Um die Sicherung der Arbeiter kümmerte sich niemand. Die im Untergrund agierenden Soldaten und Minenarbeiter wurden oft verschüttet. Sie erstickten, verdursteten,  verhungerten, ertranken im Grundwasser.
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Nebenbei: Unter den hier arbeitenden Festungs-Ingenieuren war der Deutsche Georg Rimpler, der sein Wissen bei der späteren Belagerung von Wien (wo er starb) anwenden
konnte.
Er war entsetzt über den hinterhältig-brutalen Krieg um Chania.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Candia

„Die Söldner vegetierten in Erdlöchern und zerschossenen Ruinen. Problematisch war der Hunger in den Zeiten schlechterer Versorgung durch Venedig. Der Sold wurde durch Inflation auf einen Bruchteil seines Wertes reduziert, und die notwendige Nahrung konnte damit nicht mehr bezahlt werden. Bald brachen Skorbut, Pest und andere Seuchen aus. Wer krank oder verletzt war, hatte kaum eine Überlebenschance.“
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„Der Nachschub an Essen war unzureichend und teuer. Man half sich mit der Zubereitung von Ratten und Mäusen und aß offensichtlich auch Menschenfleisch, so dass dies bei Todesstrafe verboten werden musste. Das ausgelassene Fett der Gefallenen fand als ‚Türkenschmalz‘ zum Einreiben der Füße Verwendung.“
Kaum ein Söldner kam wieder nach Hause zurück.
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Georg Rimpler (1636-1683) hatte als Kind noch von den letzten Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges erfahren, den die adeligen hohen Offiziere der Barockzeit als sportlich-ehrgeizigen Wettkampf erlebt hatten.
Über den Kampf um die französisch besetzte Festung Philippsburg (Nähe Karlsruhe) im Jahre 1676 schreibt er: „Am 31. Juli ist der blutigste Angriff. Er kostet allein den Deutschen 800 Tote und viele Verwundete. Am Ende wird ein Waffenstillstand von morgens bis nachmittags geschlossen. Während die Toten und Verwundeten weggeschafft werden, treffen sich die Offiziere auf der Glacis und machen sich bei Wein und Pasteten gegenseitig Komplimente. Dann beginnt der Kampf heftiger als vorher.“
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Und: „Die Besatzung, die noch aus etwa 1500 Mann besteht, erhält einen ehrenvollen Abzug. Die ganze deutsche Generalität hat sich zwischen Festung und Rhein versammelt. Markgraf Hermann von Baden begrüßt den abziehenden französischen Kommandanten und überreicht ihm zu Abschied im Namen des Kaisers einen mit Diamanten reich besetzten Degen. Man gelobt sich gegenseitig seiner Tapferkeit und dann geleitet Graf von Styrum die Franzosen mit 600 Reitern über Landau und Weissenburg nach Hagenau.“
Ja, so schön kann Krieg sein – wenn man vom Offizierszelt auf dem Hügel mit dem Fernglas zuschaut, und noch genug Champagner vorrätig ist …
Quelle: Festungsbaumeister Georg Rimpler und die
Zweite Türkenbelagerung von Wien anno 1683
© Kurt Rumpler 2012
https://www.yumpu.com/de/document/read/17937972/festungsbaumeister-georg-rimpler
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Tournefort sieht 30 Jahre nach dem Ende der Belagerung von Candia (Iraklio) immer noch nur ein bizarres Trümmerfeld, um das herum sich eine große türkische Garnison angesiedelt hat.
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Iraklio (Candia) im Jahre 1661
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Chania (Canea) im Jahr 1700
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Ende des Rückblicks. Zurück zu Tournefort: Er landet auch – nach einer 13tägigen Überfahrt von Marseille – in Chania und folgt von da aus dem früheren Weg der osmanischen Invasionsarmee nach Osten. (Ja, gut, er ist ein bißchen schneller … 🙂 ) Anfangs hatte er noch Vorbehalte gegen den türkischen Teil der Insel-Bevölkerung. Aber er konnte es kaum besser wissen.
„Ihr (der Türken) ganzes Leben ist fast nichts anders, als ein immerwährender Müßiggang. Reis essen, Wasser trinken, Tabak schmauchen, Caffee trinken – ist alles, was der Muselmann thut.“ (Band I., Seite 8)
Später, nach eher überraschend positiven Erlebnissen (II. Band, 14. Brief), hatte er eine
differenziertere Meinung.
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Canea (Chania) ist „der zweyte Ort auf der Insel“. Dort wohnen 1500 Türken, 2000 Griechen, 50 Juden und 12 französische Kaufleute. Als die osmanische Invasionsflotte 1645 die Stadt besetzte, nach zehntägiger Belagerung, gab es im Ort nur 200 bewaffnete Verteidiger. Tournefort schätzt, daß zwei gut ausgerüstete Fregatten schon verhindert hätten, daß der Hafen vom Wasser aus erobert werden konnte.
Ein kleines Fort am Leuchtturm schützt den Hafen nur ungenügend. „Wenn man am Leuchtthurm vorbey ist, trift man eine ziemlich schöne Moschee, mit einem niedrigen und runden Dache an. (…) Die Häuser zu Canea sind, wie in der ganzen Levante, durchgehends sehr schlecht.“ (I., S.12/13)
Tournefort beschreibt die Anordnung der Fenster, die je nach Bedarf den starken Nord- wie den Südwind abhalten: „Denn diese (Süd-)Winde sind manchmal so heiß, daß sie die Menschen auf freyem Felde ersticken.“ (I., S.14)
Das Umland der Stadt ist fruchtbar, wird aber nicht vernünftig genutzt: „Ausser den Olivenwäldern, giebt es in der Gegend von Canea viele Gärten, die, wie alle andere in der Türkey, ohne Ordnung, ohne Symmetrie, ohne Pracht sind. In diesen übelgewarteten Baumgärten tragen die Bäume nichts, als elende Früchte.“ (I., S. 16)
Tournefort schwärmt von der Gegend um Lissabon und von Andalusien, die er von früheren Reisen gut kennt. Aber hier auf Kreta weiß man zu wenig von dem, was hier so reichlich wächst. Beispiel: „Diese Citronen sind schöne Früchte; allein sie taugen nicht zum essen, woferne man sie nicht einmacht; damit aber können die Candioten nicht umgehen.“ (I., S. 18)
SS124-Kreta-Sfakia_450Dabei wird im Sommer sogar Schnee von den Weißen Bergen geholt. Welche Chance für einen Limonadenverkäufer!
Tournefort hat keine Chance, die schneebedeckten Lefka Ori und die Gegend von Sfakia am Meer aus der Nähe zu sehen. Und die berühmt-berüchtigten Busreisen zur Samaria-Schlucht gab es ja noch nicht … 🙂
Später wird Tournefort jedoch den Gipfel des Ida erklettern!
Er weiß, daß man von der Höhe der Weißen Berge Chora Sfakion sehen kann, eine der ältesten Städte der Insel. Und er weiß zu seinem großen Bedauern, daß in den entlegensten Gegenden die seltensten Pflanzen zu finden sind. Aber leider „muß man sich immer gewisse Gränzen setzen“.
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SS23-Kreta_Tuerkengraeber_450Was Tournefort aber nun gar nicht gefällt bei seinen Spaziergängen im Umland der Stadt Canea, ist die Gewohnheit der Türken, ihre Toten an den Landstraßen zu begraben. Durch „den abscheulichen Gestank dieser Kirchhöfe“ fühlt er sich „sehr belästiget“. (I., S. 19)
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Bald geht es weiter, zunächst nordostwärts. Am 12. Mai übernachtet man im Kloster Aghia Triada (auf der Akrotiri Halbinsel), eine halbe Tagreise von Canea entfernt. Das Kloster wird von fünfzig Mönchen bewirtschaftet, die Öl, Wein, Weizen, Hafer, Honig, Wachs, Vieh, Käse und Milch erzeugen, und weit mehr Oliven, als sie selbst verbrauchen können. Man wird dort großzügig bewirtet, und hinterläßt eine großzügige Spende, „ … mehr als man daselbst verzehret hat; doch hat man auch den Vortheil, daß man bey Christen ist.“ (I., S.30)
So so …
Die steilen „hundert und fünf und dreyßig“ Treppen zum verlassenen Kloster von Aghios Iannis (Katholiko) steigt er natürlich auch hinab. Mit seiner ergiebigen „Pflanzenbeute“ kehrt er zunächst nach Canea zurück. Von dort bricht er am 24. Mai in Richtung Retimo (Rethymnon) auf.
Der Weg, immer in der Nähe der Nordküste, ist beschwerlich, und die meisten Wirtshäuser können nichts zum Essen anbieten.
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Rethymnon heute, Blick vom alten Hafen auf die Neustadt
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„Retimo erstreckt sich über den Hafen hinaus, und schien uns weit angenehmer zu seyn, als Canea, ungeachtet der Ort viel kleiner und mit einer Mauer umgeben ist, die sich besser schickte einen Thiergarten einzufangen, als eine Stadt wider feindliche Anfälle zu beschützen.“ (I., S.37)
Und die Festung, und der Hafen? „Dieses Fort ist gegenwärtig zusammen gefallen, und der Hafen fast völlig eingegangen.“ (I., S.38)
Immerhin besticht die lokale Landwirtschaft: Es gibt Seide, Wolle, Honig, Wachs, Ladanum, Öl, Kirschen – und alles fördert ein reicher Brunnen südlich der Stadt. Auf dem Weg dorthin findet Tournefort eine Moschee, in deren Hof ein von einem Türken gestiftetes Wirtshaus (ein „Caravan Sarai“) steht, das Reisende, die erst nach dem abendlichen Schließen des Stadttores von Retimo eintreffen, kostenlos beherbergt und verpflegt.
Eine Enttäuschung muß Tournefort hinnehmen: Den Malvasier-Wein von Retimo, der zu Zeiten der Venezianer berühmt war, kann ihm niemand mehr anbieten, auch nicht der französische Vizekonsul Patelearo, ein griechischer Christ, der in Padua Jura studiert hatte. Bei ihm können die Reisenden logieren. Man bleibt nicht lange, am 26. Mai geht es weiter nach Osten. Am 28. Mai trifft man in Candia (Iraklio, damals türk. Kandiye) ein.
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Candia (Iraklio)
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SS147_Candia-Verfall_450Candia hat sich von der 21jährigen Belagerung noch nicht erholt. Die Stadt liegt noch in Trümmern. Aber die Festungsmauern sind oberirdisch noch gut erhalten.
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Das sei noch das Werk der Venezianer bei der Belagerung gewesen, meint Tournefort, die Türken würden sich heutzutage mit der Restaurierung der Schäden keine Mühe machen.
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SS146_Candia-Hafen-Dia_450800 Griechen leben in Candia, 200 Armenier und 1000 Juden. Das ist fast nichts gegen die Garnison der Türken, mit etwa 9000 Angehörigen in verschiedenen Truppenteilen. Die Zahl der zivilen türkischen Bevölkerung ist scheinbar nicht erfaßt. Zahlten sie dem Sultan keine Kopfsteuer?
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SS149_Candia-Moscheebau_450Gerade läßt der türkische Vizekönig, ein früherer „wollüstiger Minister“, von zwangsverpflichteten Griechen eine neue Moschee errichten.
Er ist gerade genesen von einer Krankheit „die sich ohne Quecksilber nicht heilen läßt“.
Ein irischer Wundarzt hatte ihn geheilt – die Behandlung, eine „Speichelcur“, war so brutal, daß der Patient ihn
zwischendurch schon hinrichten lassen oder wenigstens zu 200 Stockschlägen verurteilen wollte.
Über den Grund der Krankheit dürfen Sie gerne spekulieren …
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„Wir befanden uns eben in der Stadt Candia, am Vorabend des kleinen Bairam, das ist, am Vorabend des Tages, an welchem die Caravane der Pilgrime zu Meccha ankommt.“ (I., S.51)
Diese Feier – das Kurban Bayram, das Opferfest – dauert drei Tage. „Man schlachtete an den Thüren der vornehmsten Häuser, Schaafe und Lämmer.“ (I., S.51)
Allein vor der größten Moschee werden 50 Schafe und Lämmer gebraten und an die bedürftigen Bewohner verteilt. Tournefort: „Wir hatten das Vergnügen, zu sehen, wie sich der türkische Pöbel herumschlug, wer am ersten etwas von den Gerichten verzehren oder davontragen konnte. (…) Ich muß es gestehen, daß uns alle diese Lustbarkeiten äußerst verdrießlich waren.“ (I., S.52/53)
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Am 31. Mai können die Reisenden das Feiertags-Chaos verlassen und orientieren sich in Richtung der Südküste, Richtung Ierapetra. In Trapsano, dem noch heute für seine Töpferkunst bekannten Dorf, wird zum ersten Mal übernachtet. Schon damals gab es dort „eine große Fabrick von irdenen Kochtöpfen und großen Oelkrügen“.
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SS151_CritsaCadi_450Am „2ten Julius“ (einer von zahlreichen Druckfehlern im Buch: wohl 2. Juni) schauen sie, nachdem sie auf schlechten Bergpfaden „einige grauenvolle Gebirge überstiegen“ hatten, über das Amphitheater der weiten Bucht von Mirabello.
Übernachtet wurde in Plati, wo es nur stark verwässerten Wein gab. Oh je, auch das noch …
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Am Nachmittag des „3ten Junius“
erreichen sie Critza (Kritsa). „Das Dorf liegt auf der Höhe einer sehr fruchtbaren Ebene, an dem Fuße eines steilen Felses, der mit den schönsten Pflanzen bedeckt war.“ (I., S.54)
Der Cadi (Richter) von Critsa erfährt, daß ein Arzt unter den Reisenden ist, und läßt sich von ihm umgehend untersuchen. Obwohl ihm gar nichts fehlt. Dafür fehlt so einiges am Zustand des Hauses, in dem er wohnt …
Agios Nikolaos, heute der Hauptort an der Bucht von Mirabello, erwähnt Tournefort nicht. Der Ort ist zwar sehr alt, aber war nie mehr als eine unbedeutende Hafen-Siedlung für das landeinwärts gelegene Lato.
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SS152_Hirapetra_450Ierapetra inspiriert Tournefort nur dazu, das antike Schrifttum über den Ort auszubreiten. Aber er blickt schon nach Nordwesten, ins Ida-Gebirge.
Je höher die Berge, je steiler die Schluchten, desto häufiger die seltenen Pflanzen. Am 6. Juni geht es weiter, durch die Küstenebene, bei Anatoli. Hm, so wie es dort heute überall aussieht, das hätte Tournefort nicht gefallen:
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(Foto: Google Earth)
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Man übernachtet in Males. Das Dorf liegt schon 500 Meter über dem Meeresspiegel. Und es geht weiter hinauf ins unbewohnte Gebirge. Man übernachtet im Freien, zwischen Herden von wilden Ziegen („Agrimia“) an der Schneegrenze, „in einer fürchterlichen Einöde“, die dem Botaniker aber einiges zu bieten hat:
Bis zur Schneegrenze finden sich wilde Olivenbäume, Steineichen, immergrüne Kermeseichen (Quercus coccifera), Ahornbäume und wilde Pflaumen (Prunus Cretica), deren Früchte nur so groß sind wie „eine weisse Stathelbeere“ (Stachelbeere).
Mal dazu ein lohnender Seitenblick:  https://azalas.de/herbar/Baeume.htm
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Tournefort: „Nachdem wir wacker in dem Schnee herumgelauffen, und alle die Pflanzen, die wir antraffen, gesammlet hatten, stiegen wir von dem Gebirge nach Males herab, und kamen den 9ten Junius nach Hirapetra.“ (I., S. 61) Es geht zügig zurück nach Candia (13. Juni) und nach Chania (17. Juni).
„Den 28ten Junius reiseten wir von Canea ab, in der Absicht, den Berg Ida, das Labyrinth und die Ruinen von Gortyna zu sehen. (…) Den 30sten schliefen wir in dem Kloster zu Arcadi, zwölf Meilen von Retimo.“ (I., S. 62)
SS153_WeinkellerKloster_450Arkadi war das schönste und reichste Kloster  auf Kreta: „Das Kloster Arcadi ist groß und wohlgebauet.“
100 Mönche bewohnen das Kloster selbst, und weitere 200 bewirtschaften die umliegenden Ländereien. Der Wein ist dem Superior des Klosters so wichtig, daß jedes Jahr nach der Weinlese der Keller mit großem Aufwand gesegnet wird. Er hat einen privaten Vorrat, den niemand anrühren darf …
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Am 1. Juli reitet man weiter zum Besteigen des Ida. Über die erste Hälfte der weglosen Strecke (18 Meilen) führen sie zwei ortskundige Mönche. Die Pferde werden an einer Quelle zurückgelassen. Es geht zu Fuß weiter. Man hat Vorräte für drei Tage mitgenommen: „Wir erreichten (den Gipfel) mit vieler Mühe den 3ten Julius. Dieser große Berg, welcher fast die Mitte der Insel einnimmt, hat außer seinem, in der alten Geschichte so berühmten Namen, nichts schönes.“ (I., S. 66)
Es sind einige Hirten mit mageren Schafen und ausgehungerten Ziegen am Berg unterwegs, aber es fehlt an Futter und Wasser.
„Auf der Spitze des Berges Ida, so der höchste Ort auf der Insel ist, siehet man das Meer gegen Mittag (Süden) und Mitternacht (Norden). Allein wozu ist es nöthig, seine Kräfte so grausam anzustrengen, um so weit zu sehen! (I., S. 68)
Nimm das, Reinhold Messner … 🙂
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„Was die Pflanzen anbetrift, so haben wir auf dem Berg Ida keine angetroffen, die nicht auch, mit mehrerer Bequemlichkeit, auf den Gebirgen von Canea gefunden werden.“ (I., S. 70)
LudwigXIV-1701_250.
Aber die Ida-Bergsteiger machen das beste aus der Sache: Mit Gipfelschnee rühren sie aus mitgebrachtem Zitronensaft, Zucker und Wein ein Zitronen-Sorbet an und stoßen an auf die Gesundheit und das lange Leben des Königs!
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Da wird seine Hoheit sich aber gefreut haben:
Ludwig XIV, Portrait von 1701
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Der erste Brief Tourneforts, der an den Grafen von Pontchartrain (der ist seit 1699 französischer Kanzler) gerichtet ist, umfaßt die oben beschriebene Insel-Querreise.
Die Inhalte eines zweiten Briefes zum Thema Kreta sind weniger geschlossen und nicht chronologisch dargestellt. Große Teile sind auch sehr speziell und oft nicht mehr von Interesse. Eine Art Nachtrag liesse sich schon zusammenfassen, und Zeit hat man im Jahre 2020 ja genug … 😦
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> WEITER MIT: TOURNEFORT – ÜBER DIE TÜRKEN IM JAHRE 1700
> WEITER MIT: TOURNEFORT – NAXOS, AMORGOS, KLEINE KYKLADEN 1700
> WEITER MIT: TOURNEFORT – SANTORINI, MYKONOS etc. 1700
> WEITER MIT: IM WINTERSCHLAF – DAS VENEZIANISCHE ERBE
> SIEHE AUCH: FRANK WESTENFELDER – DER KRIEG DER MAULWÜRFE
< ZURÜCK ZUR STARTSEITE
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Joseph-Pitton-de-Tournefort_250“Relation d’un Voyage du Levant”
fait par ordre du Roy
Joseph Pitton de Tournefort
L’Imprimerie Royale, Paris, 1717
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Deutsche Ausgabe:
„Beschreibung einer auf königlichen Befehl unternommenen Reise nach der Levante“
Verlag von Gabriel Nicolaus Raspe, Nürnberg 1776/1777
Band 1, 503 Seiten; Band 2, 516 Seiten; Band 3, 643 Seiten

2 comments

  1. https://www.kretaforum.info/showthread.php?24606-Joseph-Pitton-de-Tournefort-Kreta-Reise-im-Jahre-1700
    Der Kommentator in diesem Forum möchte hier nicht zitiert werden. Er hatte meinen Beitrag auch nur “überflogen” und er will auch kein Gespräch mit jemandem, den er nicht kennt. Wie schade.
    OK – Zitat ist gestrichen! (21.05.2020, 22:13)
    Also das ist nur von mir:
    Allerdings haben die osmanischen Soldaten und Verwaltungsangestellten wohl auch hin und wieder ihre Familien und andere Zivilpersonen auf die Insel gebracht.
    Über die – sagen wir mal – “richtigen” Türken schreibt Tournefort im 14. Brief, nachdem er das Festland der Türkei durchquert hatte.
    Diese Texte wollte ich denen über konvertierte Muslime bzw. Migranten auf Kreta gegenüberstellen. Sind schon gescannt. Kommt später noch …

  2. Gestrichenes Zitat, wie oben. (21.05.2020, 22:16)

    Die Zitate, die ich verwende, sind alle aus der 1. deutschen Originalausgabe von 1777/1778, die 1662 (!) Seiten umfaßt. Und NICHT aus der obskuren gekürzten Edition von hansebooks von 2017, die nur 600 Seiten umfaßt.
    Auch nicht aus den gekürzten Neuausgaben aus Indien und den USA (Wentworth Press). Ja, das digitale Zeitalter produziert auch eine Menge Mist.

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