Mastix für Methusalix?

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Die Gassen von Pyrgi sind an einem hellen Septembertag noch immer der beste Ort, um die letzten Krümel der Mastixernte 2011 zu sortieren und mit der Nachbarin dabei über Gott und die Welt zu diskutieren. Da ein Gramm von der Genossenschaft mit 8 Cent bezahlt wird, lohnt sich die Feinarbeit.
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“Der Mastix wird im Orient so hoch geschätzt, daß den Mastixbauern besondere Vorrechte eingeräumt worden sind. Sie dürfen wie die bevorzugten Türken, die dem Kultus angehören, den weißen Turban tragen, sie zahlen sehr niedrige Steuern und haben das Recht, in ihren Dörfern die Glocken läuten zu lassen.”
(Paul Lindau: “An der Westküste Kleinasiens”, Berlin 1900)

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Was Chios schon zur Türkenherrschaft wirtschaftlich bedeutete, zeigen die Steuereinnahmen. Um 1822 zahlte Chios – trotz der von Sultan Selim II. gewährten Steuererleichterungen für die Insel – einen relativ hohen Steuer-Betrag: “… Chios paid to the Gate (Constantinople) a tax of 220.000 grossi, when Crete paid 300.000 and the whole Peloponnese paid 338.000.”
(“Mastiha Island”, Dr. Christos Belles, Chios 2007 – ein lesenswertes Buch über die Geschichte der Insel und die Mastixproduktion, aus dieser Quelle stammen auch die meisten Zahlen in diesem Text, und die griechischen Fachbegriffe!)
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Ja, wenn man bedenkt, daß die Insel neben den Zitrusfrüchten im Durchschnitt lediglich 200 Tonnen Mastix pro Jahr produziert, und trotzdem zwei Drittel der Steuereinnahmen des gesamten Peloponnes aufbrachte … das war schon was! Und das lag nicht daran, daß die Leute hier ehrlicher waren gegenüber den Steuer-Beamten … 🙂 …
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Unter den Mastixbäumen ist schon gefegt für die Ernte im Spätsommer.
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Manchmal sieht es auch so aus unter den Bäumen. Kalziumkarbonat, also (wasserunlösliche) Kreide (asprohoma) ist ausgestreut. Die darauf fallenden Mastixtropfen werden geschmeidiger, trocknen schneller und lassen sich leichter vom Boden lösen.
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Die vorbereitenden Arbeiten unter den Bäumen – Boden reinigen, störende Zweige wegschneiden – müssen vor dem 15. Juli erledigt sein. Die Genossenschaft der Mastixbauern hat per Verordnung genaue Termine festgelegt für den Anschnitt der Rinden der Baumstämme: 15 Juli bis 15. Oktober. Mit einer scharfen Stechahle (kentitiri) werden die Stämme geritzt:
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Bei einem jungen Baum fängt man mit etwa 10 Schnitten an, bei einem alten Baum können es bis zu 100 sein. Die waagerechten Schnitte in der Rinde sollten nicht länger sein als zwei Zentimeter und nicht tiefer als fünf  Millimeter. Wenn man bedenkt, daß auf Chios etwa zwei Millionen Mastixbäume stehen, dann hat man schon genug zu tun. Und … man muß pro Baum die Schnittstellen pro Saison mehrmals leeren und nachkratzen, damit der Harzfluß weiter läuft! Jeder erwachsene Baum bringt im Durchschnitt 100 bis 200 Gramm Mastix hervor. Bei den Preisen von 2003 (Genossenschafts-Ankaufspreis 72 Euro/Kilo) waren das circa 8 bis 15 Euro Ertrag pro Baum. Für viele Bauern reicht das trotzdem nur als Nebenerwerb. Die Produktion ging in letzter Zeit zurück. Die jungen Leute interessierten sich nicht mehr dafür. In den letzten zwei Jahren sollen jedoch mehrere Arbeitslose und Rentner aus Athen wieder angefangen haben, sich um stillgelegte Mastixplantagen in ihrem Familienbesitz zu kümmern (schreibt ekathimerini). 
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Aber der Ankaufspreis ist variabel. Den Spitzenpreis gibt es für die nur gering verfärbte “Tränen”-Qualität (fliskaria), die man direkt vom Stamm abschneidet. Das Harz, das am Boden zusammengefegt wird, und ins Gelbliche spielt, ist etwas billiger.
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Mastixtränen am Baum (fliskaria-Qualität)
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Aber natürlich wird nicht das geringste weggeworfen! Schauen Sie mal auf den kunstvoll zusammengerüttelten Haufen Mastixlaub, den diese Frau mit spitzen Fingern untersucht:
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Übrigens ist Mastix (Pistacia lentiscus) eigentlich ein sehr unscheinbares Gewächs, das merkwürdigerweise in seiner harzspendenden Abart nur auf der Insel Chios gedeiht. Auffallen tut der Mastixbaum im Spätsommer, wenn er Früchte trägt, für die sich jedoch niemand interessiert, und … äh … Moment, es gibt männliche und weibliche Mastix-Pflanzen und es gibt die Pistacia terebinthus, und ich bin doch kein Biologe, soll ich das Foto um der exakten Wissenschaft Willen besser weglassen …? Aber die Früchte sehen doch nett aus … 🙂 …! Aber ich habe das Bild im bergigen (!) Randbereich der Mastichohoria (bei Vessa) aufgenommen. Das ist ein Bereich, wo es schon die dem Mastixbaum ähnliche Pistacia terebinthus gibt:
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Wrauf hab ich mich da wieder eingelassen! Egal. Jedenfalls kommt das Interesse am Harz des Baumes von überall her! Zunächst geht jedoch die gesamte Produktion an die Genossenschaft der Mastixbauern der Mastichochoria, die die Menge vermarktet und die Preise festsetzt. (Der Preis hat sich zwischen 1994 und 2005 verdreifacht.) Jeder Bauer kann 2 Oka (ungefähr 2 Kilo) für den Privatgebrauch behalten. Fast 5000 Mastixbauern bilden die Genossenschaft. (Übrigens, nur 10% der Bauern kommen aus Pyrgi, aber sie produzieren 25% der Gesamtmenge! Das berühmte Dorf Mesta ist völlig unbedeutend in der Mastixproduktion, weniger als 1% der Gesamtmenge stammen hierher.)
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Seit dem Altertum gibt es besonders in der Pharmazie viele Anwendungsbeispiele für das Mastixharz. Es ist gut für den Magen, wirkt gegen Bluthochdruck, ist antibakteriell und antimykotisch. Und krebsvorbeugend sei es auch, heißt es neuerdings. So schätzten es die alten Römer wie der Sultan in Istanbul zur Mundhygiene, so verwandelt sich Mastix-Öl in Schnaps (Masticha-Likör) oder Süßigkeiten (Loukoumia), so nehmen die türkischen Köche Mastix als Zutat zu Eis und Pudding und viele griechische Bäcker Mastix zum Tsoureki zu Ostern und zum Vasilopita zum Neuen Jahr …
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Und Mastixkauen gegen das Zigarettenrauchen? Das haben schon andere versucht … “Im ganzen Orient kauen die Frauen Mastix. Das erhält die Zähne und ist eine geruhsame Beschäftigung. Denn man kaut an einem Stück so etwa eine Woche lang. Man kann es auch ausleihen. Meine persönlichen Erfahrungen damit sind trostlos gewesen. Ich wollte es kauen, um mir das Rauchen abzugewöhnen. Was habe ich rauchen müssen, um den Geschmack des Mastix wieder aus dem Munde zu kriegen!”
(Franz Carl Endres, Schönheit am Mittelmeer, Stuttgart 1929)
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Mehr als die Hälfte des Exports geht heute in den Nahen Osten, ein Viertel bleibt in Europa. Nach Deutschland geht gerade 2% des Exports. Die chemische Industrie hat Mastix, das früher zur Firniß-, Lack- und Klebstoff-Produktion gebraucht wurde, längst durch synthetische Mittel ersetzt.
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Mastix klassisch genutzt: Mastix-Kaugummi aus Chios
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Mastix gesund: Chios-Mastix-Yoghurt (Leider nur 2% Fett …)
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Mastix klassisch verzehrt und nett-altmodisch verkauft: Mastix-Likör in verschiedenen Farben und Prozentstärken im Bazar in Chios-Stadt
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Und wenn sie das ganze Mastix-Programm (Kosmetik, Getränke, Lebensmittel und jede Menge Albernheiten) mal mit Zeitgeist-Rahmen und Top-Design wollen: Den ultracoolen “mastihashop” gibt es nicht nur in Chios-Stadt, sondern u.a. auch in Athen, Thessaloniki, Jeddah, Paris und New York. Vergessen Sie Ihre Kreditkarte nicht …
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Ja, Mastix macht Sie eben alt wie Methusalem … 🙂 … Paul Lindau trifft 1898 einen Überlebenden des Chios-Massakers von 1822, den trinkfesten 98jährigen Prior des Klosters von San Minos (Nea Moni): “Erst holte er aus dem Wandschrank eine Schüssel grüner Mandeln, dann schleppte er Mastixschnaps und einen Wasserkrug herbei, dann in Zucker eingemachte Rosenblätter und schließlich ganz ungewöhnlich ungespülte Gläser, über die sich eine graugrüne Schicht gelagert hatte – ein Überzug, der den Sonnenstrahl in den Farben des Prismas reflektierte. In bescheidener Weise machten wir ihn darauf aufmerksam, daß wir Ausländer das Glas lieber durchsichtig haben, und er gestattete uns gern, die Gläser am Brunnen zu reinigen. Er ließ es sich aber nicht nehmen, den Mastix mit seinen grauschwarzen Händen selbst einzugießen. Er trank einen gehörigen Schluck, und wir mußten ihm Bescheid thun. Er trank ihn ungemischt, wir verdünnten ihn mit Wasser.”
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Paul Lindau: “An der Westküste Kleinasiens”, Berlin 1900)
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… und hilft Mastix auch gegen Erdbeben? Nur fünf Dörfer hatten das verheerende Erdbeben von 1881 einigermaßen unbeschädigt überstanden, das die ganze Insel Chios zerstörte. Fünf Dörfer in der Mastichohoria: Patrika, Kalamoti, Olimpi, Mesta und Pyrgi.
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WEITER MIT  PYRGI UND HENRY FORD …
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WEITER MIT  DIE FABRIKA VON VOLISSOS
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WEITER MIT  AGIA MARKELLA UND ALI PASHA
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WETER MIT  ANÁVATOS UND AVGÓNYMA
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10 comments

  1. Unglaublich, was so ein bißchen Mastix für eine Wirtschaftskraft hat.
    Also Theo, beim nächsten Treffen leihst du mir mal Deinen Kaugummi…

  2. “Beinahe alle Männer trugen schwarze Pelzmützen oder einen Hut, wogegen ein Fez nur selten zu sehen war. Und fröhlich ging es unter ihnen zu, wozu freilich der genossene Alkohol sein Teil beitrug. Das Lieblingsgetränk der Palikaren ist der Mastika, ein mit Mastix, dem Harz von Pistacia lenticus versetzter Schnaps. Bestellt man sich einen solchen, so schreit erst der Kellner mit Stentorstimme zum Schenktisch: enna mastika! und bald bekommt man ein großes Tablett, auf dem eine Menge Sachen stehen. Einmal zwei Gläser, ein großes und ein kleines. Im großen ist Wasser, im kleinen der wasserhelle Branntwein. Gießt man Wasser zu ihm, so bekommt man eine milchig trübe Flüssigkeit, da das Harz in verdünntem Alkohol nicht löslich ist. Außerdem sind auf dem Tablett noch vier Tellerchen mit je einem Bissen Brot, Käse, einer Sardelle, einigen Radieschen, spanischem Pfeffer oder sonst einer scharf schmeckenden oder Durst erzeugenden Speise. Und fragt man nach der Schuldigkeit, so wundert man sich nicht wenig, daß man die ganze Herrlichkeit für 10 Para, d.h. 4 Pfennige, bekommt.”
    Das schreibt Wilhelm Endriß in “Streifzüge durch die Türkei” nach einem Besuch in Mytilini/Lesbos 1906. (1906 kostete ein halber Liter Bier oder eine Tasse Kaffee in einem Berliner Café etwa 30 Pfennig.)

  3. KORREKTUR: Das o.g. Kloster, das Paul Lindau “San Minos” nennt, ist nicht Nea Moni, sondern Aghios Minas, in der Nähe von Neohori. Das im 16. Jahrhundert gebaute Kloster war bis 1932 ein Mönchskloster, es wurde 1932 zum Nonnenkloster. 1822 kam es hier zu einem Massaker, bei dem 3000 Chioten, meist Frauen und Kinder, die sich ins Kloster geflüchtet hatten, ermordet wurden.

  4. Das Feuer hat nach 4 Tagen fast 13.000 Hektar Land verbrannt. Und es brennt immer noch: “Effectively, half the island has been burned,” the island’s deputy prefect, Constantinos Ganiaris, told Skai TV. (ekathimerini von heute)
    Ungefähr die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche für Mastix ist weg. Neugepflanzte Bäume brauchen 5 bis 7 Jahre, bis sie wieder Harz produzieren:

    http://www.ekathimerini.com/4dcgi/_w_articles_wsite1_1_21/08/2012_457561

    Es war auch ein extrem heißer Sommer in Griechenland. Der Juni und Juli waren im Schnitt 4°C wärmer als sonst. Ab übermorgen soll es wieder eine fünftägige Hitzewelle mit Temperaturen über 40°C geben.

  5. Fotos aus dem Nordwestrand des Mastixgebiets, bei Lithi und Vessa:
    http://www.dailymail.co.uk/news/article-2190272/Chios-forest-Residents-flee-villages-firefighters-battle-massive-wall-flames-Greek-Island.html
    Hier noch ein Luftbild von der NASA. Wenn man die voll vergrößerte Version anschaut, sieht man, daß wirklich fast das ganze Mastix-Gebiet betroffen ist:
    http://www.nasa.gov/mission_pages/fires/main/world/20120820-greece.html

    Die Seite “Chios 2011” hat einen Link auf ein Video und 2 weitere Berichte!

  6. Die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Connie Philipson schrieb, daß der spezielle Chios-Mastix-Busch früher auch auf Paros und Amorgos heimisch war. Und sie erklärt, warum Mastix in der traditionellen Küche von Chios nicht vorkommt – es mußte ja zu 100% nach Konstantinopel exportiert werden! Es stand die Todesstrafe auf Unterschlagung bei der Ernte. Lediglich die Blätter wurde gebraucht, um den Geschmack von Oliven und eingelegtem Gemüse zu fördern:

    “It has been generally thought that the mastic bush (Pistachia lentiscus Chia or latifolia) grows only on Chios Island, having found a uniquely favourable micro-environment there. But it is certain that similar mastic bushes grew on the islands of Paros and Amorgos, which produced the very same resin. And a bush picked out of the forests of Attica, was grown in a Kallithea garden during the 19th century, producing abundant mastic gum of truly excellent quality. Perhaps the myth of Chian exclusiveness was simply another ruse to discourage possible commercial competition.

    Be that as it may, mastic is inextricably associated with Chios. It is therefore odd that mastic is totally absent from the island’s traditional cuisine. Certainly, it is not a case of indifference, since the leaves are used to impart their subtle aroma to olives and pickles. But the gum, which is easily dissolved in wine, is not used. The question is, why?

    It seems that mastic gum was considered so valuable by the Turkish overlords, that a ban was placed on its use.
    Where the Turks brooked, no alternatives was in the disposal of the mastic gum. Absolutely all of it had to go to the Turkish state. The slightest withholding of the gum incurred the death penalty. Cut or broken branches observed on a bush, resulted in the savage flogging and torture of the responsible cultivator. To ensure obedience to the orders of the Sultan, accurate accounts of production were kept. Thus we know that the production for 1667 was 2585kg (2020 okades).”

    “Chios: Chewing Gum that could have you hung”
    Connie Philipson / Athens News 09.07.2000

  7. Einer der frühen Griechenland-Reisenden im 19. Jahrhundert beschreibt die Mastix-Erzeugung so: Es gibt vier verschiedene Sorten, aber nur zwei (“schinos”) produzieren das transparente Mastix-Harz. Bei der beerenproduzierenden Sorte (“votomos”) ist die Harz-Ausbeute nur gering.
    Dodwell glaubt, daß die mastixproduzierenden Sorten auch anderswo in Griechenland erfolgreich angepflanzt werden können, wenn die Pflege der Anbaufläche so intensiv durchgeführt würde wie auf der Insel Chios.

    Edward Dodwell “Classical and topographical Tour through Greece, during the years 1801, 1805, and 1806”, London 1819, Band 2, S. 498/499:
    “There are in Greece four different kinds of the lentiscus – the schinos, the schinos aspros, the pixari, and the votomos. The two first produce the clear mastic tears, which only come to perfection on the island of Chios, although there is no doubt the same quality might be produced in other parts of Greece, if the cultivation of the tree was attended to with that care and attention which is practised in Chios.
    The votomos is the largest kind of lentiscus, and the only one bearing berries; it resembles the wild lentiscus, and produces very little mastic. The pixari produces the greatest quantity of gum; but it is soft, not clear. The lentiscus is an evergreen; it flowers in March, and the gum is gathered in September.
    The Greeks imagine, and not without reason, that the use makes the breath sweet, and keeps the teeth clean; but they generally masticate it more as an idle pastime, like the turning of their beads, than from any great attention to its utility.”

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