Tinos: Nur so ein Weg …

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Tinos Granit
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Schädel und Schaf. Eine geradezu biblisch anmutende Szene, am Feldweg zwischen Falatadhos und der Panagia Kakia Skala.
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Es gibt gewisse unauffällige Wege auf namenlosem Gelände, die eigentlich nirgendwohin … nein, ich fange anders an.
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Tinos Feldweg Xirokambos
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Was würden Sie hier schon erwarten, bevor sie in diesen Feldweg hineinfahren? „Soll ich hier wirklich weiter, über die Hochebene über dem Kafkaria-Tal, und mein Auto beim Vermieter heute abend vielleicht ohne Auspuff abgeben? Da ist doch nichts zu entdecken, oder?“ Würden Sie das denken? Dann stellen Sie Ihr Auto in den Schatten, und gehen Sie zu Fuß weiter. Die Piste führt durch ein kleines geologisches Wunderland …
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Wunder … nein, hier wartet auf Sie kein touristisches Weltwunder, hier ist nicht der Bryce Canyon, mit bizarren Felsnadeln (und einer Million Jahresbesuchern), hier ist kein kappadokisches Erosionstal, mit Höhlenkirchen, die in Zuckerhüte aus Vulkangestein hineingekratzt sind. Auf den nächsten fünf Kilometern, auf diesen namenlosen Hängen, kommt Ihnen also auch keiner entgegen. Jedenfalls keiner Ihrer Artgenossen …
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Also: Wenn Sie Ihr Auto in Falatadhos geparkt haben, oder wenn Sie mit dem öffentlichen Kleinbus dort aufgetaucht sind, wandern Sie durch die Gassen bis zum obersten Dorfrand. Hier finden Sie ein asphaltiertes Sträßchen, das sich (im Frühjahr blumenumrankt) ins Land dreht.
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Tinos Dreschplatz Tsiknias
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Hier oben wächst noch Wein, und hinter Ihnen, hinter dem zugewucherten Dreschplatz, ruht die Tsiknias-Kette, die Bergkette, die den für die Segler so tückischen Wind erzeugt.
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Tinos Dreschplatz am Weg
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Bald geht es links ab, runter vom Asphalt, hinunter in einen kleinen Talkessel. Ja, Dreschplätze gibt es auch hier, und noch ein paar volax-übliche Granitkugeln dazu. Sie schauen sich um, fragen sich: “Bin ich aus meinem Maßstab gefallen? Ist das hier vielleicht Gullivers Golfplatz?“
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Mir fiel da ein, was Johannes Rüber (aus Triandaros) über den Braunschweiger Professor Fritz Rogowski geschrieben hatte. Rogowski war der Meinung, die „Dreschplätze“ seien trigonometrische Punkte gewesen, eingerichtet von Wissenschaftlern aus der Vorzeit. Steinkreise, die später von ahnungslosen Bauern besetzt wurden, um darauf ihr Korn zu dreschen.
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Man könnte meinen (wenn man so naiv ist wie ich), die Plätze für die Dreschplätze wurden nach Lage der Getreidefelder und den örtlichen Windverhältnissen eingerichtet, an den strategisch bestmöglichen Orten. Aber nein, sie gehörten nach Rogowski zu einem übergeordneten Raster, das sich um derart banale Dinge nicht kümmert. Im Kreis geführte Maultiere, die mit Hufen und Dreschschlitten arbeiten, Spreu, die im Wind verweht …? Ach was!
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Auch die Positionen der Tempel der Antike gehörten angeblich, auf höherer Ebene, zu einem solchen Raster. Auch Theophanias Manias aus Athen vertrat diese Theorie (siehe unten). Der glaubte, die bedeutendsten Exponate der ganzen antiken Welt waren auf den Eckpunkten von gleichschenkligen Dreiecken aufzufinden!
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Gut, auf Tinos gibt es mehr Kapellen als Navigationshilfen für antike Raumfahrer … äh, Dreschplätze. Aber wer weiß, nach welcher höheren theologischen Ordnung die Kirchen ins Land gesetzt wurden …
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Tinos Panagia Theoskepasti
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Die Kapelle der Panagia Theoskepasti ist das einzige sakrale Gebäude hier oben. Sie hat eine bevorzugte Lage. Sie überblickt das ganze Tal von Volax, und hat die katholische Kirche Panagia Kalaman weit unter sich. Und dann dieser blaue Tempel-Giebel …
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Die Panagia Theoskepasti ginge fast als Einsiedlerkloster durch. Sie hat gerade erst ihre österliche Dekoration verloren. Vorgestern wehten hier oben noch die Fähnchen. Neben den Opferkerzen liegt geschnittenes Brot. Ob das für die hungrigen Wanderer gedacht ist? Hat es der Pappas geweiht? Ich bin weder fromm noch hungrig und teste es nicht auf Genießbarkeit oder höheren Segen.
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Tinos Panagia Theoskepasti innen
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Ich staune, wie sich die Hirten mit dieser wild-archaischen Landschaft arrangiert haben. An den gigantischen Granitkugeln kleben die alten Schafställe:
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Diese einsamen Rundbauten sind mit dünnen Steinplatten gedeckt, die vor Sonne und Winterregen schützen. Vielleicht Marmor aus Pirghos? Als Dach hätte ich hier eher Schilfrohr aus der Gegend von Kolyvithra erwartet. Und manchmal mußte man nur ganz wenig anbauen. Dieser krötenförmige Fels, in der Nähe des Bauernhauses bei den Kletterwänden von Xirokambos, bietet – zwischen seinen „Beinen“ – einen schattigen Schafs-Ruheplatz:
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Tinos Kröete aus Granit
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Einen Schattenplatz bilden, das können die wenigen Bäume, die es hier gibt, jedoch auch! Der Baum auf dieser Weide ist von unten sauber abgefressen, gerade so weit, wie die Ziegen und Schafe sich recken konnten:
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Tnos Baum
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Leider kann ich Sie hier die Stille der Gegend nicht hören lassen, und auf die Panoramaaussicht Richtung Westen und Norden (Exombourgo, Volax, Sklavochori) müssen Sie auch verzichten.
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Aber sicher haben manche Ziegen in diesem Tal ein besonderes Aroma, im Kochtopf. Wenn man sie schon mit blühenden Rosen füttert:
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Tinos Ziegen Rosen
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Die Acker- und Viehbauern leben auf diesen Hängen friedlich nebeneinander. Und sie trennen ihre Areale durch primitive Zäune aus Stahlgitter-Matten:
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Tinos Drahtzaun
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Die Zaunführung ist allerdings nicht immer wirklich funktional. Oft hat ihr Zustand nur symbolischen Charakter. Das bringt Hunde, Hühner, Schafe und Ziegen auf Fluchtgedanken. Und mancher Skilos ist – mit seinen antrainierten Wachhund-Instinkten – auf dem (öffentlichen) Feldweg ein lästiges Hindernis. Ich habe hier mal wieder einen Hund mit Steinwürfen vertreiben müssen. Gutes Zureden, drohend den Wanderstock heben? Half alles nicht, und der aggressiv knurrende und kläffende Köter ist etwa so groß wie ein Setter. Man muß sich auf öffentlichen Wegen ja nicht unbedingt beißen lassen, auch dann nicht, wenn man gerade seine Tetanus-Vorsorge aufgefrischt hat.
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Anmerkung für die Hundefreunde: Man zielt ja am besten immer direkt auf den Hund, bzw. knapp hinter den Hund. Hier auf dem Weg ist der sandige Boden stark zusammengebacken, die losgefahrenen Bruchstücke kann man brockenweise als Wurfgeschoß benutzen. Tut dem Hund nicht wirklich weh, wenn er den Sand abkriegt.
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Ziegen und Drahtzäune … da habe ich in letzter Zeit ja ein paar tragische Dinge gesehen. Hier hatte ich völlig unabsichtlich eine (an den beiden linken Beinen gefesselte) Jungziege aufgeschreckt, die sich durch ein Loch im Zaun auf den Feldweg hinausgearbeitet hatte. Nun, auf der Flucht zu ihrer Mutter, bleibt sie prompt mit einem Knoten des Fesselstricks an einem gebogenen Stück Stahldraht hängen. Da hängt sie nun kopfüber, auf dem abschüssigen Hang hinter dem löchrigen Zaun. Ist zunächst nicht leicht, das panisch meckernde Ziegenkind zu beruhigen.  Jeder Versuch, das Tier hinterm Zaun anzufassen, wird mit hektischem Strampeln abgewehrt. Irgendwann ist es erschöpft, es resigniert, und ich kann den angelhakenförmigen Draht aus der verknoteten Seilschlinge am Hinterbein ziehen. Das Ziegenkind wäre wohl am Ende sonst verreckt.
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Die Mutter (wenn sie es ist) schaut unbewegt zu. Ich bin ja immer noch auf der anderen Seite des Zaunes, also keine direkte Gefahr! Bis ich sie anbrülle: „Was bist du für eine blöde Mutter, daß du deine Kinder hier auf der Straße rumrennen läßt!“ Da senkt sie kurz den Kopf, als ob sie sich schämt … 🙂 …
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Ich hab mich allerdings über meine Spontanreaktion mehr erschreckt als sie. Da hatte doch schon früher jemand geschrieben, daß er auf seinen Wanderungen auf der Insel am Ende mit Pflanzen und Tieren sprach …
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Aus „Das Tal der Tauben und Oliven“, von Johannes Rüber,
Freiburg 1979:

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Von anderer Art war Professor Rogowski* aus Braunschweig. Jahr für Jahr ist er in Hellas unterwegs, um den Ursprung der „Tennen“ zu ergründen – jene Dreschplätze aus rund und umzirkelten, kunstvoll ausgelegten Steinplatten, die er Steinkreise nennt und in die jüngere Steinzeit datiert.** Sie, die in den Tälern und an den Hängen wie die Vorformen der Orchestra des griechischen Theaters erscheinen (…).“
* Fritz Rogowski lebte wohl auf Naxos.
** Der Satz ist korrekt übertragen, Rübers Stil ist etwas eigenwillig.
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„Denn einem anderen Professor zufolge, dem Griechen Manias aus Athen, sei nämlich Griechenland von altersher vermessen, und auf jedem trigonometrischen Punkt des Rasters stehe ein Tempel. Alle heiligen Stätten aber stünden im Verhältnis des gleichschenkligen Dreiecks zueinander (…) So bilden Delphi und Olympia mit Athen ein gleichschenkliges Dreieck, das der Form des Tempelgiebels entspricht.“
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Wenn sie einen akademischen Titel haben, dürfen Sie getrost solche verwegenen Theorien aufstellen. Davon lebt die Wissenschaft …
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Aus „Ein geodätisches Netz der Mykener?“ von Dr. Horst Friedrich:
http://alt.geschichte-chronologie.de
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„Es gelang nämlich Rogowski nachzuweisen, daß ganz Griechenland, das Festland wie auch die Inseln einschließlich Kreta, von einem “Netz” vorgeschichtlicher Freilicht-“Tennen” überzogen ist.
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Es sind dies relativ roh gepflasterte, mehr oder minder runde Plätze, die teils bis heute tatsächlich zum Dreschen des Getreides verwendet wurden, oft aber auch in ganz einsamen Gegenden, selbst in den Bergen zu finden sind. Diese “Tennen” sind unter geschicktester Ausnutzung des Geländes so angelegt, daß man von jeder “Tenne” aus stets mehrere andere anvisieren kann. Rogowski hält es für erwiesen, daß damit ein uraltes Vermessungsnetz aus der Zelt vor der dorischen Einwanderung entdeckt worden ist.
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Rogowski erwähnt auch die Arbeiten eines unabhängig von ihm forschenden griechischen Gelehrten (Manias 1969a, 1969b, 1971), der herausfand, daß die alten Zentren der griechischen Frühgeschichte wie Delphi, die Akropolis von Athen, Eleusis, Olympia, Dodona, Knossos etc. eindeutig in gewissen geometrischen Konfigurationen und Verhältnissen zueinander in Beziehung stehen.“
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Tinos Käse
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Na, was denken Sie? Alles Käse? Käse, auf Tinos-Art***?
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Wenn Sie es selber lesen wollen: AGNOSTA MEGALOURGEMATA TON ARXAION ELLENON. (The invisible harmony of the ancient Greek world and the apocryphal geometry of the Greeks.), von Theophanias Manias, Athen 1973. Enthält 240 Seiten im griechischen Originaltext, und eine etwa 30-seitige englische bzw. spanische Zusammenfassung.
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***   Hab ganz vergessen, wie die Taverne an der Agios-Fokas-Bucht hieß, wo wir dieses Käse-Vorspeisen-Arrangement hatten! Mit exotischer Chutneybeigabe. Ja, auf Tinos gibt es Köche mit Lokalbezug und einem gewissen ästhetischen Anspruch … 🙂 …
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So, der Text ist geschrieben. Katharina liest  die Rohfassung. “Wo führt der Weg denn nun hin?” fragt sie. Nun, der Weg führt nirgendwohin. Er führt nur “irgendwovorbei” …
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WEITER MIT  TINOS: PANAGIRI IN VOLAX
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WEITER MIT  TINOS: NORDISCHE GEFÜHLE

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WEITER MIT   TINOS: MARMOR IN PYRGOS
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RÜCKBLICK AUF:  TINOS IM WINTER – VOLAX
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