Patmos

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Mit einer gewissen Vorbelastung habe ich mich der Dodekanes-Insel Patmos genähert. Patmos erinnerte mich leider sehr an meinen Religionsunterricht. Ich will an dieser Stelle jedoch nicht weiter darauf eingehen.
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Patmos besteht (wie Astypalaia oder Skyros) eigentlich aus zwei Inseln, die durch eine schmale Landbrücke miteinander verbunden sind. Vom Dach des Klosters (Moni Ioannis Theologos) in 190 Metern Höhe sind die drei Dutzend Quadratkilometer der Doppel-Insel fast total zu übersehen. Das Panorama des Dodekanes-Archipels gibt es gratis dazu (wenn es nicht gerade mal wieder neblig ist …).
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Ihr berühmtester Einwohner war einer der ersten christlichen Propheten, der Prophet Johannes (Joanni tou Theologou), der im Jahre 95 hierher verbannt wurde. Er soll hier seine (auch kirchlich umstrittene) “Apokalypse” verfaßt haben. Kaum ein Christ hat den Text der Apokalypse wirklich gelesen (oder verstanden) … steht ganz hinten im Neuen Testament … aber die Insel wurde dadurch weltbekannt. Sie blieb durch die Kirchenspaltung und das Mittelalter hindurch ein religiös fixiertes Zentrum. Ihr Grund ist zum großen Teil Kirchenbesitz.
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Das Kloster, eine massive Burg über den noblen Herrenhäusern
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Als der Mönch Christodolous im 11. Jahrhundert hier eintraf, beschrieb er die Insel als “verödet und brachliegend”. Heute leben hier 3000 Menschen. Christodoulos gründete 1088 das Kloster auf den Mauerresten eines alten Artemis-Tempels. Um das Kloster herum entstand Stück für Stück der Ort Chora. Nach der Auflösung des Byzantinischen Reiches 1453 kamen zahlreiche Christen aus Konstantinopel und gründeten am befestigten Kloster den Stadtteil Allotina. 1669 flüchteten viele Kreter hierher, nachdem auch Kreta in türkische Herrschaft geraten war (Stadtteil Kritika). Im 18. Jahrhundert reichte der Platz innerhalb der alten Befestigungen nicht mehr aus, die inzwischen zu Wohlstand geratenen Kapitäne von Patmos gründeten vor den Toren der Befestigung den Stadtteil Aporthiana. Die Stadtteile sind schwer zu bestimmen, denn Chora ist wie ein typisches Kykladendorf in übereinanderliegenden, labyrinthischen Etagen aufgebaut. (Am Hafen in Skala, wo sich heute das Leben abspielt, wohnte früher wegen der Piraten fast niemand.)
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Am Beginn des 18. Jahrhunderts wurden in Chora 800 Häuser und … sage und schreibe … 250 Kirchen gezählt. Für Mystizismus und Aberglauben seien die Bewohner von Patmos traditionell empfänglich, schreibt Christos Jakovidis 1985.
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Interessant ist eine Bevölkerungszählung von 1827. Die (männliche) Bevölkerung wurde nach dem Beruf aufgeführt: 52 Händler, 25 Werkstattbesitzer, 10 Kapitäne 1. Klasse, 25 Kapitäne 2. Klasse, 252 Matrosen, 21 Töpfer, 68 Bauern, 20 Hirten, 4 Kupferschmiede, 3 Maler, 5 Sänger und Musikanten, 3 Ärzte, 2 Lehrer.
Drei Viertel der Einwohner lebten vom Meer! (Die Priester und Bewohner des Klosters wurden offensichtlich nicht mitgezählt, aus Datenschutzgründen … 🙂 … oder darum, weil sie nicht steuerpflichtig waren …)
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“Maultiertreiber drängen sich bei der Ankunft jedes Schiffes auf dem Platz, begierig, Leute nach Chora hinaufzuführen. Ein holperiger Maultierpfad steigt rasch den Berg hinauf; daneben führt auch eine Autostraße in Windungen hinauf, auf der dich das einzige Vehikel der Insel, ein Jeep, fahren wird, wenn er gerade betriebsfähig ist.”
Robert Liddell, 1951
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Mich hatte bei meinem Besuch weniger das Kloster angezogen als die Herrenhäuser von Chora. Enttäuschung: Das Kloster war zu besichtigen, die Wohnhäuser aber nicht. Robert Liddell beschreibt ausführlich die Schätze des Klosters, besonders die Handschriften der Bibliothek: “Der wertvollste Schatz ist der Codex Porphyrus des Evangeliums – sechs Blätter dieses Buches liegen im Vatikan, zwei in Wien, vier im Britischen Museum und 182 in Petersburg: die 33 Blätter in Patmos enthalten das Markusevangelium. Dieses schöne Buch wurde im 5. Jahrhundert auf purpurgefärbtes Pergament geschrieben.” Ich erinnere mich gut an den Besuch des Klosters, aber nicht im geringsten an die ausgestellten Gegenstände.
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Aber ich erinnere mich, an einem dunstig-windigen Junitag lange durch die verwinkelten Gänge, Gassen und Treppen von Chora gelaufen zu sein. Es war alles verschlossen, still und abweisend. Die Häuser zeigen den Gassen ihren kalten Rücken. Das Sortiment der Türklopfer war einladend, aber hier hätte man überall vergeblich geklopft. Ganz selten ein Blick aufs Meer zur Orientierung. Die ausgestorbenen schlauchartigen Gänge weckten ein Gefühl, als irrte man in einem Text von Hans Henny Jahnn oder Kafka herum …
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Ich hätte gerne mal eine alte Inneneinrichtung gesehen wie hier im Malandraki-Haus von 1674, samt dem romantischen Fernblick aus dem Fenster:
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Malandraki-Haus, kalospiti (repräsentatives Wohnzimmer) (aus “Patmos”, Melissa-Verlag)
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Blick auf die doppelte Bucht von Skala und Merika, vom oleanderumwucherten Fußweg nach Chora aus
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Doch der Geist der Apokalypse hatte definitiv auch was übrig für leicht mißgelaunte Ungläubige wie mich: Anders als an die Schätze des Klosters erinnere ich mich an einen paradiesisch gutsortierten Schnapsladen in Skala … ja, eine “Kirche” einer anderen Art, den Geist der Verwandlung der Welt zu wecken … 🙂 …

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Nein, der Laden war definitiv nicht für den lokalen Bedarf gemacht, er sorgte, wie mehrere andere Läden am Hafen, für den im Sommer passierenden Yacht-Verkehr. Äußerlich war der Laden völlig unscheinbar.
Mehrere hintereinanderliegende kleine Räume waren jedoch zum Bersten gefüllt mit einer Weltklasse-Auswahl an internationalen Spirituosen. Und auch das griechische Angebot war hier scheinbar komplett vertreten.

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Die Inhaberin des Ladens saß hinter einem ordinären Küchentisch mitten im ersten Raum… alterslos, vielleicht sechzigjährig, nachlässig gekämmt, in einer bunten Kittelschürze, aber souverän und unnahbar … Wir kauften nur einen kleinen Abendvorrat Wein, und eine kleine Flasche griechischen Geist zum Aufwärmen …
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Es gab offensichtlich auch keine Registrierkasse. Auch keinen Notizblock und keinen Bleistift. Beim Bezahlen zog die Dame die prall gefüllte Küchentischschublade auf, wischte meinen Drachmenschein hinein und griff mit gespreizten Fingern mitten hinein in den Geldhaufen, um das Wechselgeld zu finden. Die Schublade war mit Geldscheinen gefüllt wie ein Altpapierbehälter. Nein, da gab es nicht nur Drachmen … in den gängigsten anderen Währungen der Welt hätte es auch passendes Wechselgeld gegeben. Während ich mein verknittertes Wechselgeld von der abgewetzten Tischplatte aufsammelte, wurde die Schublade kommentarlos wieder zugeknallt.
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Ich habe mich lange im Laden aufgehalten, um mich umzuschauen. Der Blick der Inhaberin wurde schon mißtrauisch. Sie war nicht unfreundlich, doch definitiv die personifizierte Abweisung. Ich hätte mich nie getraut, zu fragen, ob ich sie (mit der offenen Schublade, klar!) mal fotografieren könnte. Das bedaure ich noch heute …

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Plan von Chora, 1 = Alloteina, 2 = Kritika, 3 = Aporthiana
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Nebenbei: Patmos ist kein Mönchsterritorium wie Athos. Auf Patmos ist auch Platz für den universalen Strandtouristen, der sich um die religiös bestimmte Geschichte der Insel nicht kümmern muß. Wenn Sie von Samos, Kos oder Kalymnos einen Ausflug dorthin machen können, dann sollten Sie es tun! Und gehen Sie zu Fuß zum Kloster hinauf. Petros, der Fischer, bereitet am Hafen zwar seine Netze vor, aber das ganz ohne missionarischen Eifer … 🙂 …
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Patmos Chora, Paul Lindau 1900
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NACHTRAG: Im Jahr 1900 veröffentlichte Paul Lindau das Buch “An der Westküste Klein-Asiens, eine Sommerfahrt auf dem Ägäischen Meere” (Allg. Verein für Deutsche Litteratur, Berlin). Hier ein paar Zitate vom Klosterbesuch auf Patmos im Jahr 1898:
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Die Bibliothek ist dem fremden Besucher, wenn überhaupt einmal ein Besucher hierher kommt, nicht mehr zugänglich. Uns wurde das sonst so fest verschlossene Thor zu dem Heiligtum durch eine warme Empfehlung des ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel an den Prior freundwillig geöffnet. (…) Unten in der Kapelle ist in der Vorhalle der aus getriebenem Metall gefertigte Sarg aufgestellt, in der die einbalsamierte Leiche des Stifters des Klosters, des heiligen Christodulos, ruht. Uns zu Ehren wurde der Deckel geöffnet, und es bot sich uns der nicht sehr erfreuliche Anblick auf den mumifizierten Kopf des frommen Mannes dar. (…) Die Bibliotheksräume sind nicht groß, nicht besonders gut erhalten und recht schlecht gelüftet. (…) Das Kloster war übrigens sehr sauber gehalten, und auch die (30) Mönche schienen den weltlichen Tand der körperlichen Reinigung nicht zu verschmähen. Sie überschütteten uns mit Freundlichkeiten aller Art. Nach warmer Verabschiedung von den frommen Vätern, von denen die  meisten in den kräftigsten Mannesjahren standen, kletterten wir, jetzt zu Fuß, im Sonnenbrande zwischen Geröll und boshaft zackigen Steinen zu dem befestigten Bau am Abhange (Johannes-Grotte) hinab, gefolgt von der Dorfjugend, die uns freundliches Geleit gab. (…) Ein bildhübsches kleines Mädchen schenkte uns Nelken, die einzigen Blumen, die wir in diesem Felsenneste gesehen hatten.


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