Ganz Europa ist von IKEA besetzt …

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… nur ein kleines unbeugsames Dorf auf Karpathos leistet noch Widerstand!
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Nur zwei Wochen nach meinem Besuch in der Wohnung von Nikos`Mutter gab es zwischen Rhodos und der türkischen Küste bei Ölü Deniz ein Erdbeben, Stärke 6. Da muß es hier in Olympos auf Karpathos noch leise geklirrt haben an den Wänden. Unwillkürlich trat man selbst ja schon nicht allzu feste auf, nachdem man in die Wohnung eingelassen wurde, und man hielt seine Ellenbogen nah am Körper. Ja, besser immer schön v-o-r-s-i-c-h-t-i-g …
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Dimitris Philippidis, “Griechische Traditionelle Architektur: Karpathos”, Melissa Athen 1985: „An den Wänden gab es ursprünglich ein Bord und einige „paloúkia“ (Holzhaken), die später durch weitere Borde ersetzt wurden, die mit bunten Tellern und Bechern, die die Auswanderer mitbrachten, geschmückt wurden.“
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Nun ja, die Eigentümer der Wohnung waren ja eine Familie, die ständig zwischen den Kontinenten hin und her unterwegs waren. So war das Erbe in Keramik und Porzellan und Glas wohl immer größer geworden.
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Die Souvenirs vermehrten sich wie die Karnickel, sozusagen …
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Jedoch, wie ich es erhofft hatte, entspricht die Wohnung dem klassischen Einraum-Haus, wie es auf Karpathos üblich war.
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Zeichnung: Dimitris Philippidis „Griechische Traditionelle Architektur: Karpathos“
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Philippidis: „Im Hausinnern finden wir, gewöhnlich dem Eingang gegenüber im Hintergrund des Hauses, einen erhöht angeordneten Zwischenboden aus Holz, den souphás.“
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„Drei hohe Stufen führen auf den souphás, (rechts im Bild) der etwa zwei Meter breit ist und ein Meter über dem Fußboden liegt, während ein Teil von ihm, das panossoúphi, noch höher liegt (links im Bild).“
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„Der souphás dient der Familie als Schlafbereich, abends werden dort die Matratzen ausgebreitet, damit alle, einer neben dem anderen, schlafen können. Das panossoúphi dient vor allem zur Aufbewahrung von Wäsche und Bettzeug, obwohl es manchmal ebenfalls zum Schlafen benutzt werden kann.“
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„Der Raum unter dem soupás dient als Abstellraum – kleinere Gegenstände unter dem souphás, die großen Tonkrüge dagegen unter dem panossoúphi, das auch über einen separaten Eingang in der Vorderfront der Holzkonstruktion verfügt.“
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Hier muß man einschränkend sagen: Die in den Fotos dargestellte Wohnung wird nicht von einer Familie genutzt, sondern von einer verwitweten, älteren Frau. Und der zentrale Raum dient ihr zwar zum Schlafen und zur Repräsentation, aber in der Regel hält sie sich in den Nebenräumen des Hauses auf, also in der Küche und im Hof. Das „klassische Zimmer“ ist hier nur noch die selten genutzte „Gute Stube“ des Hauses, darum kann sie auch mit Dekorationen überladen werden. Es handelt sich auch nicht um einen Bauernhof, sondern um eine kleinstädtisch-bürgerliche Wohnung. Wo sich die Bewohnerin im Alltag aufhält, da sieht es nüchterner aus. Der Hof ist peinlich sauber aufgeräumt, fast leer und fast völlig schmucklos – da reicht die schöne Aussicht über den Olympos-Ortsteil Exo Kamára und das Meer im Westen:
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Philippidis: „Der Hof gestattete ebenfalls die Spezialisierung der Räume, so daß das eigentliche „spíti“ (Haus) die Funktionen des Schlafens und des Empfangs von Gästen bei Feierlichkeiten beibehielt, während die übrigen Funktionen nebeneinander, zum Hof ausgerichtet angeordnet wurden. Der erste Anbau war die Küche (kellós), wohin auch der Kamin zum Kochen verlegt wurde.“
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„Da zentrale Freiräume in den traditionellen Siedlungen von Karpathos fehlen, finden fast alle Feiern in den Häusern statt. (…) Außer als Ausstellungsraum dient der souphás bei Feiern als „Frauengemach“, wo die unverheirateten Mädchen sitzen und schweigend die Unterhaltung auf dem patós, d.h. auf dem Boden des Hauses, verfolgen, wo die Männer an den „távles“ (Tischen) sitzen.“
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Das ist natürlich ein Blick in die Sozialgeschichte. Und Feiern dieser Art finden bei griechischen Witwen eben kaum noch statt.
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Und fragen Sie auch nicht, ab welchem Lebensalter Frauen den Spiegel so weit oben an der Decke aufhängen …
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„Rechtwinklig zum souphás gibt es den eingebauten pángos, in dessen Innern ebenfalls Getreide aufbewahrt wird. Das freie Ende des pángos ist der Ehrenplatz für einen Besucher. Ursprünglich enthielt das Haus keine weiteren beweglichen oder eingebauten Möbel, und die Besucher saßen direkt auf dem Fußboden.“
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Die möbellosen Zeiten sind natürlich auch längst vorbei. Die Bank existiert auch in der Wohnung von Nikos’ Mutter noch, aber natürlich werden keine Vorräte mehr drin aufbewahrt.
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„Verschiedene Wandnischen bieten sich ebenfalls zum Abstellen von Hausgerät an. Eine dieser Nischen ist die stamnothoúka für das „stamni“ (den Wasserkrug).“
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Die Nische mit dem Wasserkrug ist erhalten geblieben. Obwohl der Wasserkrug natürlich nur noch zur Dekoration dient.
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Den riesigen Schlüssel hat bestimmt noch der Dorfschmied hergestellt. Er ist groß genug, um damit einen Einbrecher niederzuschlagen.
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Vor einigen Jahren habe ich auf Skyros in einer traditionellen Wohnung gewohnt. (Ihre Eigentümerin war allerdings bereits in einen Neubau unterhalb des Hauses umgezogen.) Auf Skyros richtete man sich in ähnlicher Weise wie in Karpathos ein und sammelte Keramik, Glas und Küchengegenstände, die nach ganz bestimmten Prinzipien an der Wand ausgestellt werden.
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Solche großen handgefertigten Kupferpfannen und –teller, wie sie unsere Vermieterin Maria auf Skyros hatte, vermisse ich hier. Sie waren durch Alter und alltäglichen Gebrauch richtig geadelt. Hier sind viele Dinge „reine“ Dekoration, von der Herstellung her für nichts anderes gedacht als zum Anschauen. Ich will Nikos nicht zu einem Kommentar provozieren. Ich will auch nicht fragen, wo denn „der Küchenkram“ ist. Nikos schweigt, seit wir hier sind. Wir schweigen beide. Hätte er mich nach einem Urteil gefragt und auf die Wände gezeigt, hätte ich ihm höchstens höflich gesagt, die Wohnung seiner Mutter mache mich … äh … etwas nervös …
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Alle Zitate aus:
„Griechische Traditionelle Architektur: Karpathos“
Dimitris Philippidis
Melissa-Verlag, Athen, 1985
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Ron Walkey, emeritierter Architektur-Professor aus Vancouver, der auf Tinos lebt und arbeitet, im Mai 2012: „Ach, der Dimitris Philippidis, der ist auch schon längst im Ruhestand, aber es gibt keine zwei Wochen, wo er nicht was Neues publiziert!“
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WEITER MIT   WENN ICH MAL GROSS BIN …
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2 comments

  1. Ergänzung, was die “überladenen” Wohnungen angeht: Ich hatte den Text gestern gerade veröffentlicht, da kamen per mail gleich zwei Reaktionen mit Fotos!
    Die Fotos zeigten zwei überladene Wohnungen … einmal eine Wohnung aus Olympos aus der 60er Jahren – mittendrin eine Mutter mit drei kleinen Töchtern (!) (Fotos von Erich Hänssler), und aktuelle Fotos aus einem Bauernhaus in Avlona.
    Im Bauernhaus in Avlona dominieren in der Dekoration nicht so sehr die Keramik-Teller, sondern die Puppen, Plüschfiguren und gestickten Stoff-Objekte … sowas kann dann eher mal von der Wand fallen. Die Fotografin schrieb: “dass dich so ein zimmer nervös macht, versteh ich. ich hab mich gar nicht getraut, dies zimmer hier zu betreten.”

  2. NACHTRAG. Das schreibt Ludwig Roß 1845 in seinen “Reisen auf den griechischen Inseln” über das typische Haus auf Karpathos:
    “Die Häuser auf Kasos und Karpathos sind eigenthümlich gebaut, wie ich sie noch auf keiner anderen Insel gesehen habe. Sie bilden ein länglichtes Viereck, dessen eine Seite, gegen die Straße, die bloße Erde zum Boden hat; hier steht gleich am Eingang eine Art von Kanapé, hier ist der Heerd in Form eines großen Kamins, hier hält sich die Familie auf. Die andere Hälfte hat einen fast mannshoch über den Estrich erhöhten Bretterboden; unter demselben sind die Vorrathskammern, auf demselben stehen die Kisten und Koffer, und schläft die Familie. Unwandelbar führen nur drei sehr hohe und schmale Stufen auf jene Erhöhung. Kein Haus hat ein zweites Zimmer. Zum unerläßlichen Hausgeräth gehören eine große Anzahl bunter Schüsseln, die an den Wänden hängen, und große flache kreisrunde hölzerne Mulden aus Einem Stücke, oft über drei Fuß im Durchmesser, die man aus Konstantinopel bringt, und die zum Brodkneten, als Tische u.s.w. dienen.”
    – Band 3, S. 63
    Roß besuchte Karpathos im September 1843.

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