6 Jazz + Pool an Bord 1927

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Die Bord-Jazzband spielt, Hans Eckinger dichtet …
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Ja, auch die frühen Individualreisenden des 19. Jahrhunderts benutzten in Griechenland oft ein ähnliches Reisemuster. Es gab Dinge, die man eben “sehen mußte”. Einige Strecken, die man nicht umgehen konnte. Die Pauschalreisenden kriegten ihre Tour später jedoch als Gesamtleistung präsentiert. Das Abhaken der Höhepunkte – die die Autorität ‘Reiseveranstalter’ bestimmt hatte – war fast obligatorisch, wurde kaum einmal in Frage gestellt. Wie es immer noch so ist …

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Bei aller Konformität des Reisens … der Drang, seinen persönlichen Reisebericht zu veröffentlichen, ist jedoch geblieben. Doch … irgendwann mußte man beim Zusammenspinnen seines Seemannsgarns aufpassen, daß nicht in der Nachbarkabine auch jemand reiste, der fleißig sein Reisetagebuch füllte … und zwar ebenfalls für die Öffentlichkeit!
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Ein schönes Beispiel (Foto siehe unten) kam mir zufällig in die Finger: Felix Emmels “Die rasende Landschaft” und Hans Eckingers “Martin Fröhlichs Orientreise”. Ich habe die beiden Bücher im Abstand von einigen Jahren gelesen (das von Felix Emmel zuerst), und erst beim Erlebnis der Rettung des Ertrinkenden in Konstantinopel (bei Hans Eckinger)  fiel mir auf … Mensch, das hast du schon vorher mal gehabt! Aber wo …?
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Und tatsächlich … die Reisegeschichte, die Felix Emmel 1930 in “Rasende Landschaft” als gefahrvoll-riskannte Individualreise verkauft hatte (im reizvollen futuristischen Schreibstil), die hatte Hans Eckinger 1928 in der Schweiz längst veröffentlicht! Als Schmunzel-Reportage einer mehr oder weniger gemütlichen Pauschalkreuzfahrt im Jahre 1927 …! Hier ist er, der Rettungsbericht:
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Eckinger, Seite 91: “Ein türkischer Schiffsarbeiter war im Gedränge irgendwo ins Wasser gestoßen worden. Jetzt schwamm der Unglückliche schon weit draußen im nassen Element, streckte seine Arme in die Höhe und schrie jämmerlich um Hilfe. Signalpfeifen schrillten. Doch die Kollegen des mit dem Tode Ringenden zuckten nur die Achseln und hätten den Armen elendiglich umkommen lassen. “Wenn Allah will, daß er ertrinkt, nur wohlan, so sei es”, schienen diese Fatalisten zu denken.
Wieder ein Schrei! Ein wackerer Polonese (Passagier der Polonia) hatte sich in voller Kleidung tollkühn in den Bosporus geworfen und schwamm nun rasch auf den Ertrinkenden zu. Im letzten Augenblick erwischte er den Zappelnden noch am Kragen und vermochte ihn über Wasser zu halten, bis ein patroullierendes Polizeiboot herannsauste und die beiden aufnahm. Ein tausendstimmiges Hurrahrufen belohnte die Heldentat. Jetzt hättet ihr sehen sollen, wie der arme Teufel von Moslem dem tapferen Christen für die Rettung dankte! Für den Retter selber hatte das Bad ganz fatale Folgen. Seine Brieftasche samt Inhalt – mehrere hundert Mark, Paß und Schiffsbillette – lag auf dem kühlen Grunde des Bosporus.”
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Bei Emmel klingt das so (Seite 85, ja, hier schreibt der Profi …): “Weisende Finger. Geballte Gruppen. Krimstecher. Im Objektiv: Der Schädel eines ertrinkenden Menschen. Auf taucht er und nieder. Aus dem Mund fließt Wasser. Die Augen qualverzerrt.  (…) Vor der Schiffsmannschaft steht ein leicht ergrauter, deutscher Ingenieur. Er spricht mit federnden Gebärden. Die Bootsleute stehen zaudernd. Zucken die Achseln. Zeigen auf die Strömung. Noch einmal fragt der Ingenieur. Dann wirft sich sein sehniger Körper in voller Kleidung – mit federndem Absprung – in die aufgewühlte Flut. Aufgeregte Rufe. Wellenzerteilende Arme. Ein steigender, ein sinkender Kopf auf dem Wasser. Atemverschlagende Spannung. Da zerbricht die Wasseroberfläche. Auftauchen schwarze hängende Glieder – von Wasser tiefend. Zwei kräftige Arme heben den Schiffbrüchigen hoch. (…) Zwölf lange nie endende Minuten. Bis das herankommende Boot beide Körper mühsam birgt.
Der Ingenieur wird abgetrocknet. Man schüttelt seine Hände. Er greift an die Brust. Erbleicht: Die Brieftasche mit seiner ganzen Barschaft ist fort. Ein satanischer Lohn.
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Solche Parallelen finden sich in beiden Büchern reihenweise. (Möglicherweise war der “Typhusverdächtige” nach dem Verlassen des Hafens von Piräus, den Eckinger erwähnt, sogar unser Herr Emmel! Er war jedoch – nach seinen eigenen Worten – krank geworden durch die Eislimonade in Athen … und da half “Opium und Abstinenz”, Wärme und Bettruhe …)
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Beide Autoren arbeiten ihre Reise chronologisch ab. Überhaupt … hier wird sehr viel Wert auf den gebotenen Reisekomfort gelegt. Oder das, was entgegen der Ankündigung des Reiseveranstalters zu vermissen oder sonst zu kritisieren ist … zum Beispiel die mangelhafte Unterbringung in den engen Kabinen oder der sogenannte Swimmingpool an Bord. Das klingt alles sehr neuzeitlich:
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Eckinger: “Das sogenannte ‘Schwimmbad’, ein Bassin von nicht einmal 25 Quadratmeter Fläche und etwas mehr als einem Meter Tiefe – manchmal auch weniger – verdiente diesen hochtönenden Namen kaum.”
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Emmel: “Begierig sucht man das Schwimmbad; denn man hatte verheißen, der Dampfer würde ‘einem schwimmenden Seebade’ gleichen. Wahrhaftig, da ist es, eine Holzkiste von Zimmergröße, mit einem Wasserplan ausgelegt. (…) Eine Kiste mit lärmendem Menschenfleisch – versandfertig für die Hölle.”
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Das Bordschwimmbad
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Und Hans Eckinger lernt das heutzutage berüchtigte “Badetuchplazieren-am-Hotelswimmingpool-Spielchen”, aber im Speisesaal: “Bei den ersten Gongschlägen eilte Fröhlich in den Saal, um sich einen guten Platz zu sichern. O heilige Einfalt! Er kam längst zu spät; die meisten Gedecke waren schon reserviert, indem die ganz Schlauen stundenlang vorher ihre Visitenkarten auf die Teller gelegt hatten.” (Nebenbei: Der Decks-Liegestuhl, den er für die Schiffreise an Bord gemietet hatte, wird ihm alsbald geklaut …)
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Ansonsten üben sich die 700 Fahrgäste oft in Geduld, widerstrebend: Lange Wartezeiten schon bei den Ausflügen nach Neapel und Pompeji. Den 350 Pompeji-Besuchern bleibt eine (!) Stunde Zeit zur Besichtigung. Anschließend gibt es eine Stadtrundfahrt mit 80 (!) Automobilen in Kolonne. Bis in Syrakus 200 (!) Kutschen und Automobile besetzt werden, geht wieder enorm viel Zeit verloren, “was wieder eine allgemeine Nervosität auslöste” (Eckinger). Dazu verträgt man die reichhaltige dänisch-nordeuropäisch geprägte Küche in der Mittelmeerhitze nicht, und die Hygiene im Schwimmbad läßt zu wünschen übrig. Dazu dier Sonnenbrand! Die Seekrankheit hält sich jedoch in Grenzen …
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Eine andere Bordküche präsentiert sich, 1935. Nein, den Konsumgewohnheiten des Mittelmeers kommt man besser nicht zu nahe …
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Aber die Unterhaltung an Bord scheint ohne Grenzen. Eckinger: “Bis tief in die Nacht dauerte der Rummel und endigte für die ausdauerndsten Paare, die sich an Black Bottom, Charleston und wie diese verrückten Tänze sonst noch heißen, nicht genug tun konnten, hinter der Champagnerflasche in der Bar.”
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Ja, die Bord-Band ist im Voll-Einsatz, bis zur Selbstaufgabe. Emmel: “Vom Hinterdeck schallen gedämpft die Töne einer kleinen Jazzkapelle. Aber das Schlagzeug selbst klingt müde …”
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Die ‘Polonia’ beim Zwischenhalt auf Malta
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Eckinger ist bei jedem Ausflug mit unterwegs, auch wenn das nicht ohne Probleme ist. Die Ägypter an den Pyramiden seien “frecher als die Wanzen”. Aber dafür rechnet er aus, daß sich aus den 2,3 Millionen Steinwürfeln der Cheops-Pyramide eine 2 Meter hohe Mauer rund um die Schweiz bauen ließe. Hm …
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In Piräus gibt es wieder Wartezeiten, weil einem Passagier an Bord ein kostbares Fernglas entwendet wurde. Der Kapitän droht, alle Kabinen durchsuchen zu lassen. (Das ist aber eine Bagatelle, gegen die Kriminalität, die in Kairo auf die Pauschalreisenden wartet …) Nachdem der Kapitän dann doch auf die Durchsuchung verzichtet, werden die Ausflügler eilig in Autos und Zugabteile verteilt (nachdem sie im Hafen beim Geldwechseln noch ein wenig übervorteilt wurden …), Eckinger teilt sein Auto mit “drei reichsdeutschen Jünglingen und einer Polin”. Der Fahrer, ein ehemaliger russischer Fliegeroffizier, legt die Strecke vom Hafen in Piräus bis zur Akropolis “in einer Viertelstunde” (oh …?) zurück.
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Parthenon-Pilger der Polonia unterwegs (bitte das Gerüst beachten – die Spuren der mangelhaften Restauration der 1920er Jahre wurden erst kürzlich beseitigt)
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Die 300 Polonia-Ausflügler drängen sich durch “Bettlerinnen, Blitzfotografen und Briefmarkenhändler” zu den Propyläen hinauf. Wie immer ist die Führung viel zu schnell vorbei, und als Eckinger und die Dame aus Polen zu spät zum Auto zurückkommen, ist die Gerüchteküche schon im Gang: “Witterten sie doch ein abgemachtes Techtelmechtel!” (Eckinger). Von der Küche beim pauschalen Mittagessen im Hotel in Athen kriegt Eckinger dafür kaum etwas ab, er teilt sich den Tisch mit sechs Engländern, die “die Platten plünderten, als ob sie Löwen wären”. Eckinger erfreut sich dafür ganz alleine an der Flasche Griechenwein des Tisches, die abstinenten Briten begnügen sich mit Limonade.
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Am Nachmittag wird eilig der Rest der Athener Sehenswürdigkeiten abgefahren, Eckinger staunt über die allgegenwärtigen schreienden Zeitungsverkäufer, kann dreimal der Armee der Schuhputzer nicht entkommen, und verbringt den frühen Abend am Kaffeehaustischchen am Strand von Phaleron. Und erfreut sich an den sich dort entspannenden Athener Damen, “wahrhaft klassischen Schönheiten mit edlen Profilen”, und an den jungen Mädchen, “Menschenkinder von schlankem Wuchs und großem Liebreiz”.
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Dann geht’s wieder auf’s Schiff. Ja, Griechenland ganz fix. Um Mitternacht werden die Anker gelöst. Ein paar Inseln sieht man auf der Weiterfahrt noch aus der Ferne, als Schattenrisse. Na, das klingt doch alles vertraut, auch heute noch …
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Felix Emmel baut den kargen Tagesausflug nach Athen noch ordentlich aus mit klassischen Zitaten und einem Rückblick in die Geschichte und Mysterien der Antike. Nun ja, vor Ort wurden die Geschichtsbücher für ihn lebendig, und Texte von Dörpfeld, Winckelmann, Däubler und Nietzsche kreisen um den Dionysos-Kult … und noch ein paar Seiten über die Eleusis-Feiern gibt’s gratis dazu (dabei war Emmel gar nicht in Eleusis) … die 300 Akropolis-Mitausflügler entläßt er dafür völlig aus seiner Geschichte: Ich steige hinan.” “… dann stapfe ich weißbestäubt an die Südseite des Burgfeldes.” “… abends in Piräus treffe ich einen jungen griechischen Ingenieur. Wir sitzen im Ufergarten eines Hotels.”
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Ja, der ernsthafte Buldungsreisende hatte auf einer solchen Reise schon zu leiden, nicht nur unter dem Zeitdruck. Ich habe hier längst nicht alle Trivialitäten und Kontroversen der Orientreise aufgeführt, die sich hartnäckig in der Erinnerung der beiden Autoren gehalten hatten.
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Alles Trivialitäten? Weil die Frustrationstoleranz der meisten Pauschalreisenden nicht sehr hoch war, gab es immer was zu grummeln. Und da so viele Leute auf so engem Raum zusammen waren, wurden jeden Tag kleinere ‘Revolutionen’ geplant. Aber nur selten wurde gegen die Reiseleitung laut protestiert – allerdings verließen bereits im ersten Hafen neun Reisende unter Protest das Schiff und fuhren nach Hause.
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“Zeit und Raum sind gestern gestorben.”
Filippo Tommaso Marinetti, Manifest des Futurismus … 🙂 …
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MARTIN FRÖHLICHS ORIENTREISE MIT DEM DAMPFER POLONIA
(Von Genua nach Neapel, Capri, Syrakus, Malta, Athen, Konstantinopel, Smyrna, Palästina und Ägypten)
Mit 93 Bildern nach Aufnahmen des Verfassers und anderer Reiseteilnehmer
Hans Eckinger
Selbstverlag, geb. Ausgabe, Zürich

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DIE RASENDE LANDSCHAFT: ORIENTREISE
Felix Emmel
Verlag der Merkur-Buchhandlung, Berlin, 1930

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5 comments

  1. “Martin Fröhlich” war nur das Pseudonym von Hans Eckinger. Ein Portrait-Foto existiert im Buch nicht. Die 350 weiteren Reiseteilnehmer sind ab und zu am Rande der Bilder zu sehen, Namen werden nicht genannt. Es gibt auch keine gestellten Guppen-Fotos und keine Passagierliste im Buch.
    Aber vielleicht hat die Baltic-America-Linie (oder ihre Rechtsnachfolger) noch ein Passfoto ganz unten im Archiv, bei den Visumsanträgen …? Eckinger hatte die Kabine 232 … 🙂 …
    Theo
    http://www.worldcat.org/identities/lccn-no2004-123427

  2. Vielen Dank für die Auskünfte!
    Ich bin im Besitz eines Photoalbums mit AK und Photos, die u.a. von einer Mittelmeerreise per Schiff im Mai 1928 stammen, u.U. identisch mit der von Eckinger/ Fröhlich beschriebenen. Ich werde mir zunächst einmal eine Ausgabe des Werkes besorgen. Danach durchfrorste ich dann die Visumsanträge ….

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