Ano Meria, das Kapernland

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Blick von Siriga auf die Buchten im äußersten Nordwesten von Syros, vorne Lia, hinten Ghramata, am Horizont die frühere Gefängnisinsel Gyaros
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Die Insel Syros besteht aus zwei ganz gegensätzlichen Hälften: Dem hügeligen Süden, der inzwischen stellenweise wie eine Art ländlicher Athener Vorort wirkt und dem Norden, der Ano Meria. Die Ano Meria (das “Hochland”) ist die menschenleere Gegend hinter den ersten Bergen hinter der Hauptstadt Ermoupoli. In die Ano Meria führt nur eine einzige schmale Straße, die sich in Spitzkehren am Dorf Ano Syros vorbeiwindet. Die Ano Meria ist den Bewohnern von Ermoupoli teilweise so unbekannt, daß mich der junge Taxifahrer (der seit einem Jahr auf der Insel arbeitete) mit offenem Mund anstarrte, als ich ihn im Mai 2010 aufforderte, mich nach Papouri zu fahren. Da war er noch nie. Ich mußte ihm den Weg zeigen. Letztes Jahr wohnten in Papouri noch sieben Leute. Dieses Jahr sind es noch sechs. Einer der letzten Bauern des Dorfes ist im Winter gestorben. Er war 85.
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Die Ano Meria von Syros bietet kaum mehr als Steine und Stürme. Aber in die Schrägen aus Schiefer und Marmor kerben sich enge Täler, in denen frühere Generationen an einigen Stellen mühsam schmale Terrassen aufgeschichtet haben, um Feldfrüchte anzubauen. Aber die letzten dieser Leute sterben jetzt aus. Die Terrassen werden von Disteln und Wildkräutern überwuchert, was von weitem sogar reizvoll aussieht … und die alten Häuser kaufen Nostalgiker aus Nordeuropa. Keine Athener. Die ziehen nach Possidonia oder Vari, in einen Neubau mit Meerblick.
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Wir Nostalgiker aus dem Norden brauchen allerdings nur einen kleinen Garten für ein “naturnahes Leben”, der Supermarkt in der Hauptstadt ist ja nicht weit weg. Die Mauern der bäuerlichen Terrassen zerfallen also mit der Zeit. Die Wurzeln des Wildwuchses lösen die Steine und die Winterregen drücken die schiefen Mauern in die Tiefe. Langsam. In aller Stille.
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Wenn man sich Syros in einer mondlosen Nacht von Piräus aus nähert, und das Signalfeuer im Norden verpaßt hat, merkt man gar nicht mehr, daß der schwarze Schatten des Inselnordens ganz nah an der Fähre vorbeigleitet. Kein einziges Zeichen auf den Bergen verrät sie. Wenn vor der Aghios Dhimitrios Kirche auf dem Kap Armeno schon ein Licht brennt, dann höchstens das an der Müllkippe …
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Das größte Problem im Inselnorden ist jedoch der Wassermangel. Freund Thanasis nutzt zwar Zisternenwasser für seinen Tavernengarten in Papouri, aber das reicht natürlich im Sommer nicht aus. Eines Abends hatte er vergessen, die Wasserzufuhr zu seinem Reserve-Wasserbecken abzustellen, das Wasser floß über und lief in der Nacht einfach den Hang hinunter. Der Wasserpreis auf der Insel ist progressiv gestaffelt, ab dem dreißigsten Kubikmeter zahlt der Privatverbraucher das Dreifache des ersten Kubikmeters … die bis zum nächsten Mittag aufgelaufene Wasserrechnung war dreistellig …
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Ano Meria ist irgendwann auch einmal durch Wanderwege erschlossen werden. Wir Nostalgiker aus dem Norden gehen ja zu Fuß. Mindestens einer der Wege (der Weg von San Michalis zur Ghramata-Bucht im alleräußersten Norden) wird auch gelegentlich begangen. Beim Rest müssen Sie sich eher auf Ihre Inspiration verlassen, was das Erkennen der Pfade angeht. Obwohl die Karte von Anavasi (Syros 1:20.000) zur Orientierung ganz ausgezeichnet ist, die Markierung der Wege ist schlecht, und Sabotage an Wegen und Wegzeichen durch die Schafzüchter habe ich auch schon erlebt.
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Unser jetziger Rundweg auf der Anavasi-Karte von Syros 1:20.000 (Copyright)
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So, Ende des Vorworts. Ich bin um 9 Uhr ganz oben am Stadtrand in Ermoupoli mit Thanasis verabredet. Ich schaffe die Verabredung nur ohne meinen Morgenkaffee, es ist nämlich außer mir noch niemand wach im Hotel … und Thanasis sitzt da schon fröhlich lächelnd und ungriechisch pünklich am Treffpunkt am Steuer seines Autos. (Der Koffeinmangel wird meinen Blutdruck später gegen Null sinken lassen.) Vor uns auf der Strecke gäbe es jetzt nur noch Kaffee in Ano Syros, aber der Zwischenhalt samt Fußweg ins Dorf ist genauso umständlich, wie zum Hafen nach Ermoupoli herunterzufahren.
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Wir fahren ohne Halt hinauf zu den Windmühlen von Siriga. Hier oben auf 440 Metern über Meereshöhe produzieren Rotoren der dänischen Firma Vestas Energie für die Insel. Hier hatten sich vorher auch einige Häuser angesiedelt, in der Nähe der auf der ganzen Insel berühmten Quelle.
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Die dauerhaft fließende Quelle von Siriga. Ihre Gestaltung hat verständlicherweise schon einen sakralen Charakter.
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Später am Nachmittag beenden wir unsere Wanderung auch hier, beim Kaffee im Garten eines Freundes von Thanasis, der sich hier eine Oase mit Obstbäumen, Gemüsebeeten, Weinranken und einer traumhaften Sonnenuntergangsaussicht geschaffen hat.
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Blick von der Krikaki-Höhe zur Avlaki-Bucht, die Schichten von verschiedenem Gestein bestimmen die Dichte der verschiedenartigen kargen Vegetation, vorne der aufgegebene Weg zur Baustelle
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In Gipfelhöhe finden sich noch viele Wegmarkierungen (Nr. 4), die sich bergabwärts jedoch verlieren. Ich freue mich, daß der Weg trotzdem gut zu sehen ist. Thanasis schüttelt den Kopf: Nein, nicht daher! Das ist eine Sackgasse! Das ist der Weg, den die Ingenieure erschließen wollten, um die Bauteile der Windräder von der Küste mit geländegängigen Transportern nach oben zu schaffen. Ach was? Daran hatte ich noch nie gedacht: Wie waren eigentlich die riesigen Rotoren und Betonfertigteile auf den Berg gekommen …? Na, Ingenieure suchen immer den kürzesten Weg, die technisch brillante Lösung! Doch es gab Opposition gegen den Wegebau … die Spuren wären ja auf diesem unfruchtbaren Terrain nach Jahrzehnten noch nicht verwachsen gewesen! Am Ende mußte man doch auf die (vorhandene) lange, enge Slalomstraße ab Ermoupoli ausweichen …
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Da fragt man sich weiterhin doch … macht es eigentlich Sinn, die Gruppe von vier Windrädern da oben auf den Gipfel hinzusetzen, was die Kosten- und Ökobilanz angeht … dort, wo sie bei richtigem Nord-Sturm ohnehin ständig abgestellt werden müssen? Und warum stehen an anderen, leichter zugänglicheren Stellen auf der Insel immer nur einzelne Rotoren …?
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Aber bei der hohen Effektivität der griechischen Verwaltung, besonders beim optimierten Einsatz von europäischen Fördermitteln, ist sicher die günstigste Verteilung der Finanzleistungen und die bestmöglichste technische Lösung erreicht worden … äh, wo ist denn hier auf der Tastatur das Symbol für “Ironischen Husten” …?
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Thanasis will lieber oberhalb des Weges bleiben, weitersteigen in Richtung von Schizomenes. Hier hat sich vor Jahrtausenden durch ein Erdbeben der Hügel gespalten, hier konnte später mit relativ primitiven Mitteln der Stein gebrochen werden, und hier an den Wänden der senkrecht abfallenden Schluchten (“unser Grand Canyon”, wie Meike gestern ironisch sagte) wachsen die besten und größten Kapernsträucher.
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Aber zuerst sollten wir uns den Steinbruch ansehen, schlägt Thanasis vor! Ich weiß nicht, ob ich den in dem inzwischen völlig weglosen Gelände gefunden hätte! An einigen Stellen verraten nur noch ein oder zwei rechteckige Öffnungen in den aus “tarnfarbenen” Steinen des Hintergrunds errichteten Gebäuden die ehemaligen menschlichen Aktivitäten an diesem Berg. Suchen Sie mal das Haus im Foto:
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Hier gibt es auch keine Terrassen. Nur noch endlose Natursteinmauern, die riesige dürftige Weidegebiete umfassen, ganze Täler, halbe Berge. Für uns heißt es ständig am Hang Auf- und absteigen. Das ist ermüdend und erfordert Aufmerksamkeit. Aber diese Unbequemlichkeit steht in keinem Verhältnis zur Härte und Gefahr der Arbeit der Steinbrucharbeiter, die hier die stehenden Steinplatten getrennt haben und mit Ochsengespannen über primitive Wege zur Küste gezerrt haben:
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Bis etwa 1960 wurde hier oben noch gearbeitet. Und natürlich wurde hier oben auch gewohnt. Es war viel zu weit, um nach der Arbeit noch nach Hause nach Ermoupoli oder Ano Syros zu kommen. Das ging nur am Wochenende. Die Ruinen der Häuser, aus hier gebrochenen Steinen, stehen noch, windgeschützt unterhalb der Kammhöhe des Berges:
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Sogar die (kostbaren) Deckenbalken, die die Schieferplatten dieses Küchendaches tragen, haben teilweise durchgehalten. Die Mauern sind jedenfalls von einer Qualität, daß man die Gebäude wohl restaurieren könnte … wenn sie denn jemand hier oben nutzen könnte! Meisterlich geschlagene und gesetzte Natursteine, ohne jedes Fugenmittel.
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Ein ehemaliger Küchenraum mit Feuerstelle

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Kapernstrauch, ziegensicher an der senkrechten Wand wachsend. Woher kriegt der Strauch nur das nötige Wasser?
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Aber wer kommt schon hierher, nach Schizomenes? Nur die Schafe, die Wilderer und die Sammler. Sammler wie Thanasis kommen im Mai. Im Mai treiben die Kapern (kappari) (Capparis spinosa) ihre Knospen aus. Und diese geschlossenen Blütenknospen muß man absammeln, und sie müssen noch so klein wie möglich sein! Sie werden anschließend einen Tag getrocknet, dann in Salz und Essig eingelegt, und am Ende auf Ihren griechischen Salat gestreut (und von Ihnen hoffentlich nicht verachtet)! Der herbe Geschmack ist appetitanregend. Übrigens blüht jede Kapernblüte nur an einem einzigen Tag, und zwar nur von morgens bis mittags.
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Kleineres Exemplar
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Kapernblüte und Blütenknospen (Originalgröße, erntereif)
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Und da ist er auch schon, der Sammler, und macht mir das Motiv kaputt …
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Aber es soll ja kein reiner Sammel-Tag sein! Thanasis will mir ja die Gegend zeigen. Wir steigen über den Hang ab Richtung Küste, zur Aghios Loukas-Bucht. Unterwegs ist der kokale Wanderpionier dann auch einmal überrascht: An einer unübersichtlichen Stelle, zwischen riesigen Felsbrocken, treiben wir ein halbes Dutzend Schafe aus dem Mittagsschlaf hoch … aber nein, es ist kein halbes Dutzend, es werden immer mehr! Sie kommen aus dem Nichts! Aber … wo genau ist dieses Nichts?
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“Scheißtouristen!”
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Also steigen wir zu der Stelle der wunderbaren Schafsvermehrung herunter, teils auf allen Vieren, über kühlschrankgroße Felsbrocken. Hier unten befindet sich eine Höhle, die in der Wanderkarte nicht eingezeichnet ist. Der Inselnorden hat mehrere Höhlen. Groß ist sie nicht, unsere Neuentdeckung, aber für einen Schafsherdenschlafsaal reicht es, samt Schafsherden-Klo. Und das Klo müßte dringend ausgemistet werden …
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Thanasis geht voran. An den Wänden tropft es von Stalagtiten auf Stalagmiten … oder war das umgekehrt, Stalagmiten auf Stalagtiten? Egal. Die untere Säulenstümpfe sind im Schafsdung begraben. Aber endlich weiß ich wenigstens mal, warum ich auf Wanderungen immer eine Taschenlampe mitnehme …
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Die Lia-Bucht
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Die Lia-Bucht ist unser Tagesziel. Thanasis und Meike wandern im Sommer öfter mal hierher, mit ihren Kindern. Zum Baden und Campen. Hier ist es idyllisch ruhig, auch im Hochsommer, aber hier gibt es kein Trinkwasser! Und nur ein schmaler Ziegenpfad dient als Zugang, wenn man kein Boot hat. Heute herrscht leider starker Westwind, der treibt scheinbar den Müll von Athen bis hierher! Eine Viertelstunde am Strand sitzen muß zur Erholung reichen und dann den “Mörderweg” nach Siriga hinauf (jetzt ist mein Blutdruck völlig am Boden …). 30 Minuten dauert der Weg nach Auskunft der Anavasi-Karte, das wäre selbst abwärts ein Witz! Wir brauchen über eine Stunde rauf. Dann endlich der Kaffee in Siriga, in der “Oase” von Thanasis’ Freund Janni, dann macht Thanasis für uns das T’Aloni in Papouri auf und stellt sich in die Küche:
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Na, ist es nicht wunderbar, mit einem griechischen Tavernen-Wirt wandern zu gehen? Jetzt gibt es Koteletts, Leber, Käsesalat, Tsatsiki, rote Bete, und den allerletzten Rest vom selbstgemachten Wein vom Jahrgang 2009. Thanasis hatte gestern die letzten Reste aus dem Kellervorrat abgefüllt. Ich darf wenigstens den Tisch decken. Die Hauskatze, die gerade ihren Frühjahrswurf entwöhnt, freut sich über unsere Reste, und ist zufrieden wie wir. Auf einen Schluck Hauswein hat die junge Mutter allerdings verzichtet:
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Ich lege auch die müden Beine hoch. Ja, noch den letzten halben Liter, warum nicht, der Blutdruck dankt. Die Sonne versinkt im weißen Dunst. Und der unverwüstliche Wirt? Der geht jetzt den Garten versorgen … und heute dreht er am Ende auch den Haupthahn zu!
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17 comments

  1. Liebe Grüße von Thanasis, wir sind am Sonntag zum Essen eingeladen und hoffen Maike kennen zu lernen

    1. Hallo Franky, wieso hat der Thanasis denn auf? Ich dachte, der wollte diese Woche die Taverne neu streichen! Und die Meike wollte nächste Woche nach Kreta, zum wandern. Müßte aber am Wochenende noch auf Syros sein. Kali orexi jedenfalls!

      1. Hallo Theo, wir ( 5 Freunde und ich) waren zufällig dort. Ich hatte von Schalimara die Telefonnummer und hatten geplant heute dorthin zu fahren. Nun haben wir etwas umdisponiert. Wir wohnen im Kokkina Beach Hotel, deren Besitzerin Giesela die Familie gut kennt.

  2. Moin, habe in den letzten Tagen einige Wanderungen in der Ano Meria unternommen. Die Wanderung bzw. der Wanderweg vom letzen Dorf Kambos zum Gramata-Beach sind super begehbar und ausgeschildert.

    Inzwischen sind auf der gesamten Insel alle Wanderwege mit schönen Holzschildern ausgewiesen.

    vg aus Kini, kokkinos vrachos

  3. Moin Theo, voraus will ich ja gar nichts haben. Gramata Beach (bei Anavasi mit einem M) ist auch nicht so dolle. Ist halt ein kleiner einsamer Sand/Kies-Strand der keinen Schatten hat. Viel schöner ist der Ghira Spilia Beach der 15 Minuten vor dem Gramata Beach liegt. Liegt am Ende in einem bewaldeten Tal/Schlucht mit super vielen Tamarisken, die ein Amerikaner vor 30 Jahren geflanzt hat. Es gibt auch 3 Palmen am Strand. Ist ein kleines Paradies. Paar Griechen sahen das auch so, und haben dort gezeltet.

    “Existiert in Kini noch Marinous Taverne?” = alle Tavernen in Kini haben geöffnet, habe aber nicht auf alle Namen geachtet. Die Tavernen sind bereits ab 17Uhr sehr gut besucht.

    PS.: In der lokalen Tageszeitung stand das du dieses Jahr gar nicht auf Syros wandern warst.

    vg aus Ermoupoli, kv

  4. Ja ja, die lokale “Lügenpresse” … 🙂 … stimmt aber mit dem Wandern, ich war nur kurz zum Essen und Trinken und Quatschen auf der Insel.
    Marinou ist das “Dorfzentrum” von Kini, liegt ein ganzes Stück weg vom Strand im Tal. (Bericht über Marinou in “Mezedes und Syros”).

  5. Kalispera Theo, sitze nun bei einem Raki in der Taverne Stou Marinou. Maria serviert. Sehr praktisch 1 Minute von meiner Unterkunft entfernt. Ist schön abseits vom “Trubel” der Strandstraße. Man sitzt entspannt auf der ruhig gelegenen Terrasse. Der Laden macht einen sehr gepflegten Eindruck.

    Die “Massen” zieht es natürlich in die beiden Strand-Tavernen Dyo Tzitzikia ST´ Yialou und Allou Yialou.

    gruß, kv

  6. puh, ich wollte gerade gehen, da stellte mir Marino noch ein Fläschen Raki auf den Tisch, als ob ich ein Stammgast wäre. Einst ist klar, morgen bin ich wieder hier. Schöne Alternative, hier lässt es sich aushalten.

    Im Übermut habe ich dann den Gewinner des Französischen/Österreichschen Pärchen vom Nachbartisch im Tavli herausgefordert, und dann auch besiegt. Hamburg hat einen lauf……

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