F. G. Welcker: Reisetagebuch von 1842

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Grabungen in Olympia in mehreren Etappen ab 1806 (hier Foto von 1875)
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Friedrich Gottlieb Welcker
Tagebuch einer griechischen Reise (von 1842)
Band 1 u. 2, Wilhelm Hertz Verlag, Berlin 1865

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Friedrich_Gottlieb_Welcker_1840 _1784-1868_350Friedrich Gottlieb Welcker (1784-1868) war Archäologe und suchte auf der Griechenlandreise in erster Linie nach antiken Artefakten. Aber was heute mehr interessiert: In den Reise-Notizen sind Tag für Tag seine Alltagserlebnisse festgehalten!
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Das Tagebuch wurde erst 23 Jahre nach der Reise veröffentlicht, es war nur für seine Freunde und Kollegen gedacht.
Die Beschreibung dessen, was er an antiken Stätten gesehen hat, will ich hier nicht nacherzählen.
Vieles hat er auch noch nicht sehen können, die Ausgrabungen fingen ja gerade erst an!
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Welcker ist natürlich darauf aus, an entlegenen Orten etwas zu finden und zu beschreiben, was vor ihm noch niemand an die Öffentlichkeit gebracht hat. Noch finden sich nämlich Fundamente und Gebäudereste, nach denen man gar nicht graben muß. Was Welcker findet, beschreibt er mit großer Akribie – aber so manches ist nebensächlich und wird die wenigsten Leser heute noch interessieren.
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1842 sind viele antike Fundstätten bekannt, aber noch fehlen die Mittel (und die Geldgeber), um sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Noch hat das Land keine sicheren Aufbewahrungsorte, um die gefundenen Objekte zu sammeln und zu ordnen, noch fehlen Gebäude und Personal für griechische Museen. Noch kann man kaum verhindern, daß Skulpturen, Friese, Gefäße usw. heimlich in (Privat-)Sammlungen im europäischen Ausland geschafft werden.
Die Akropolis in Athen ist inzwischen streng bewacht. Die Parthenon-Skulpturen hatte Lord Elgin ja schon drei Jahrzehnte vorher abmontiert und dem Britischen Museum verkauft.
Welcker findet es zunächst „kleinlich“, daß man eine amtliche Erlaubnis (in der unteren Stadt) besorgen muß, um das Gelände oben zu besuchen. Man kann niemanden unbeaufsichtigt dort herumlaufen lassen, die Reisenden klauen, was sie nur können …
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Oft gab es im Lande kleinere Probegrabungen, die wieder zugeschüttet und unkenntlich gemacht wurden, damit sich die wissenschaftliche Konkurrenz und die Souvenirjäger nicht drüber hermachten!
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Olympia-1835_A600
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Olympia, um 1835, noch nur ein grünes Flußtal, sonst nichts **
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Beispiel: Da steht Welcker auf der vier Meter hoch mit Sand überschwemmten Stätte von Olympia und überlegt, welche Unsummen es kosten wird, das alles freizulegen!
1766 war Richard Chandler der erste Forscher, der auf dem Gelände stand, und ab 1806 wurden die ersten Probegrabungen vorgenommen. Ab 1829 hatten Franzosen mit dem Freilegen des Zeustempels begonnen. Laut Welcker waren sie sehr unwissenschaftlich vorgegangen – hatten Exponate nach Paris verschleppt, hatten aus Bequemlichkeit den Aushub meterhoch dort gelagert, wo später noch gegraben werden mußte!
1875 kamen die Deutschen (unter Leitung von Ernst Curtius). Und sie kamen nicht – wie sonst üblich – als Schatzgräber, sondern überließen per Regierungsvertrag die Ergebnisse der Ausgrabung dem griechischen Staat!
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Na ja … wenn ich hier nicht Welckers Berufserfahrungen als Archäologe bloß nacherzähle, auf welchen Schwerpunkt konzentriere ich mich dann? Am besten auf den so gar nicht unproblematischen Reisealltag – auf den sich Welcker in Athen schon gut vorbereitet hatte.
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Während sich in der Zeit an sehenswerten italienischen Orten wie Rom, Florenz oder Neapel die Touristen schon auf die Füße treten, hat man es auf dem Peloponnes kaum zu einer Straße gebracht, die mit einem Fahrzeug bewältigt werden kann.
Es gibt Hotels im europäischen Sinne nur in Athen. (Athen hat 1842 nur 25.000 Einwohner, aber Welcker irritiert dort schon das übliche „Straßengewühl“ am frühen Abend.)
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Es gab keinen Tavernenwirt, der Gäste von der Straße weg in sein Lokal zerrt. Es gab damals eigentlich nirgendwo eine touristische Infrastruktur! In den Dörfern gab es irgendwo ein Loch in der Wand, hinter dem die Einheimischen bei Kaffee, Bergtee und Tabak auf dem Boden hockten. Der Reisende war froh, wenn er den Bauern ein Huhn oder ein paar Eier abschwatzen konnte.
Man war auf sich selbst gestellt. Man buchte Agiogaten (einheimische Reiseführer), mietete eine Maultierkarawane, versorgte sich mit Verpflegung, Bettzeug, Küchengeräten usw. Eine handliche Schußwaffe sollte nicht fehlen (sollte bei der Einreise gut im Gepäck versteckt werden).
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Ausschnitt aus dem Griechenland-Fahrplan des Österreichischen Lloyds von 1848:
Alle zwei Wochen geht im Frühjahr (Hochsaison!) eine Handvoll Hellas-Reisender an Bord …

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Dampfboot-Sirius-1837_A400Ein typisches Passagierschiff der Zeit, die „Sirius“ (1837), die als erster Dampfer 1838 den Atlantik überquerte. In 18 Tagen, mit 40 Passagieren an Bord.
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Welcker ist seit dem 14.01.1842 im Land. (Ankunft in Patras nach einer sechstägigen Reise mit dem Dampfboot des Österreichischen Lloyd aus Ancona. Neun andere Passagiere sind mit an Bord, und seekrank sind sie alle.) Er möchte von Patras nach Korinth weiter auf dem Landweg, aber die Strecke ist noch unpassierbar.
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Welcker bleibt wochenlang in Athen – als Professor der Archäologie (Gießen, Göttingen, Bonn) und ehemaliger Rektor der Universität Bonn (1837/1838) hat er jeden Tag gesellschaftliche und wissenschaftliche Verpflichtungen.
Kaum ein prominenter politischer und wissenschaftlicher Name aus der Zeit, den er in Athen nicht trifft – z.B. den österreichischen Gesandten Anton Prokesch von Osten, Konstantin Schinas (der erste Rektor der Universität Athen), Heinrich Ulrichs (Professor an der Universität Athen, ein ehemaliger Schüler Welckers), Jakob Philipp Fallmerayer (umstrittener Orientalist und Publizist), dazu viele Kollegen aus dem französischen und englischen Fachbereich etc. etc. …
Manchen Fachkollegen, wie Ludwig Roß (der in königlichem Auftrag schon das ganze Land durchreist hat) lernt Welcker erst in Athen persönlich kennen. (Er ist leicht pikiert, daß Roß seine Schriften bisher nicht gelesen hat …)
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Er trifft Roß fast jeden Tag, läßt sich von ihm für die Reise beraten und besucht auch seine wissenschaftlichen Vorlesungen. Ständig ist er auf der Akropolis. Er wohnt im „Hotel de Munich“, nur acht Fußminuten entfernt.
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Propylaen-1835_A600
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Amalie-von-Oldenburg_350Amalie von Oldenburg
Portrait von Joseph Carl Stieler

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Mehrfach ist Welcker bei König Otto zum privaten Diner oder zum Hofball eingeladen. (Die 24jährige Königin Amalie* sei eine sehr angenehme Gesprächspartnerin, die Welcker gerne an ihrer Seite sitzen hat …)
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Und er hat jeden Morgen Unterricht in Neugriechisch, auch wenn es vorher bei Rheinwein und Champagner mal wieder sehr spät geworden ist …
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Floh_A250Es dauert zwei Monate, bis Welcker zum ersten Mal auf ein gewisses Thema (> Nicolai) eingeht. Welcker ist gerade im Raum Marathon unterwegs.
Eine typische Reiseplage der Zeit tritt auf. Eine Plage mit sechs Beinen und großer Sprungkraft, die einem nach einem anstrengenden Reisetag die Nacht verdirbt …
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Na gut, dann schauen wir doch mal auf Welckers Notizen aus einer heute etwas „schräg” erscheinenden Perspektive“:  😉
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16.03.1842 (Band 1 – Seite 135)
„… das Harte des Lagers war erträglich; die Flöhe, nicht zu viele, spazierten nur ohne zu beißen …“
18.03.1842 (1-145)
„Aber die Flöhe ließen mich (…) nicht zum Einschlafen kommen.“
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Aha! Im Text über die etwa zur gleichen Zeit stattfindende > Italienreise von Gustav Nicolai hatte ich noch festgestellt, daß man dort so von Flöhen heimgesucht werden konnte wie in Griechenland von den Wanzen. Da war meine Erinnerung (aus anderen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts) wohl nicht so ganz zutreffend …
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Am 30.03.1842 bricht Welcker zu einer 37tägigen Rundreise durch die Peloponnes auf. (U. a. über die  Stationen Korinth – Argos – Tripolis – Sparta/Mistras – Kalamata – Pylos – Kyparissia – Olympia – Argos/Navplio – Epidauros – Aegina.)
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Im Gegensatz zu Nicolai ist Welcker mit einer gewissen professionellen Lässigkeit unterwegs. Und seine Reise ist auch körperlich viel anspruchsvoller. Man sitzt bis zu zehn Stunden auf dem Pferd – oft geht es stundenlang durch Gegenden ohne Haus, Quelle oder bebauten Acker. Welcker freut sich, daß ihn das weniger belastet als seine jüngeren Mitreisenden (die „Jugend“, wie er sie nennt).
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05.04.1842 (1-201) Tripolis
„In der Nacht machten meine Schlafgefährten, aus ihren Säcken gekrochen, possierliche Jagd auf die Wanzen: ich schlief mit geringer Störung fort, da auch die Wanzen mich nicht im Mindesten plagten. Sonst war ich ihnen (den Wanzen) gut genug, nur zu sehr: jetzt dient die Jugend neben mir, sie von mir abzuleiten. So weiß die große Mutter, wie viel sie auch nimmt, immer neue Wohlthaten zur Ausgleichung zu erfinden.“
Welcker (1784-1868) bringt es auch als Küchenphilosoph … 🙂 … er ist bei Reiseantritt 57 Jahre alt, seine Mitreisenden sind alle wesentlich jünger …
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Sparta-1835_A600
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Sparta, wieder nichts als ein stilles leeres Tal …
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08.04.1842 (1-209) Sparta

„Durch die Höflichkeit, daß mir vorzugsweise ein Kissen zu dem meinigen gelegt worden, hatte ich diesmal allein Wanzen, von denen ich nach einigen Stunden (…) mich befreite und schlief.“
Welcker hielt sich an die Empfehlung erfahrener Reisender, sein eigenes Bettzeug mitzunehmen … aber ein „trojanisches“ Kissen der Gastgeber bringt die Übeltäter in verbotenes Terrain.
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12.04.1842 (1-225) Leondari, nach Übernachtung im Bauernhaus
„In der Nacht hatte ich mich mit Flöhen (…) arg herumgeschlagen, der Aufenthalt gehörte zu den schlimmsten, man suchte das Kafeneion, um nur sitzen zu können.“
13.04.1842 (1-230) Aufbruch Richtung Petalidi (Koroni)
„Die Flöhe waren die Nacht arg.“
17.04.1842 (1-247) Messene
„Aus dem ersten Schlafe erwacht (…), konnte ich die ganze Nacht (…) kein Auge mehr schließen wegen der Flöhe, von denen man am Morgen wie Kattun so bunt war. Diese Plage wird, wie es scheint, von nun an nicht mehr zu vermeiden sein.“
18.04.1842 (1-254)
„Zum ersten Mal hatte ich mich in den Sack gesteckt und ihn wohl zugeschnürt. Die Flöhe drangen indeß unvermeidlich ein, man fängt sie sicherer, aber vergeblich. Ich befreite mich daher von dieser Last und fand mich nicht schlechter, doch schlecht genug, um buchstäblich nicht eine Sekunde zu schlafen oder nur den Schlaf nahen zu spüren.“
20.04.182 (1-272) Figalia
„… die Flöhe haben in dieser Höhe noch nicht ihre Zeit: nur die mitgebrachten beschäftigten mich die Nacht durch.“
22.04.1842 (1-278) Adritsena
„Wieder kein Auge geschlossen, wovon die Flöhe nicht die unmittelbare Ursache allein sein können (…)“
24.04.1842 (1-282) Olympia
„Unruhiger Schlaf, aber doch Schlaf. Es half, daß ich mich in dem Sack (zum zweiten Mal) hineingesteckt hatte, obgleich die (Floh-)Jagd auch so nicht nachließ.“
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Am 06.05.1842 ist Welcker wieder in Piräus – dem Ort, wo acht Jahre vorher noch kein einziges bewohnbares Haus stand. Und ja … ohne Ungeziefer, die letzten beiden Wochen, oder war Welcker es inzwischen leid, drüber zu berichten?  🙂
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Am Ende hatte es mit der Zeit gedrängt. In Navplio hatte Welcker noch die österliche Mitternachtsmesse besucht und am nächsten Tag ging es den Treppenweg zur Festung Palamidi hinauf. Von (Neo) Epidauros brauchte das Kaiki fast einen ganzen Tag bis Aegina.
Die Insel wurde eilig durchritten: Paleochora, das Orphanotrophion (Waisenhaus), der „Tempel der Pallas Athene“ (wie man damals noch dachte) (> Aphaia-Tempel). Carl Haller von Hallerstein hatte die Giebelskulpturen des Tempels entdeckt, als er „in einen Fuchsbau im Innern des Tempels hineinkroch“ (Welcker).
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Und sonst …? Welcker hat fast keine Einwände gegen die schlichte Verpflegung, den einfachen Landwein. Er durchleidet Unfälle mit Pferden und beim Herumklettern in den Ruinen, die Genesung kommt ohne ärztliche Hilfe.
Er kann den Eigenwillen von widerspenstigen Agiogaten hin und wieder nicht überwinden, die ja auch oft recht haben, was er am Ende auch einsieht … man überquert das Taygetos-Gebirge eben nicht im April auf dem Maultierpfad.
Er erlebt manchmal geringe Irritationen mit den Einwohnern in den besuchten Orten – die ja bettelarm und mißtrauisch sind und nicht gewohnt waren, Reisende zu sehen.
Er staunt über die Bauern, die nur Selbstversorger sind. Besonders im so fruchtbaren Raum Kalamata, wo es sogar einen Hafen für den Export der Produkte gibt.
Königin Amalie, der die Entwicklung der Landwirtschaft ein großes Anliegen war, hatte Welcker für die Rückständigkeit der Landbevölkerung die Augen geöffnet.
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HalbeDrachme1833_A350In Figalia schenkt Welcker einem kranken greisen Bauernpaar eine halbe Drachme, aber die beiden haben eine Münze von „so hohem Wert“ in ihrem Leben noch nie gesehen. (Die neue Drachme gibt es seit 1831.)
Niemand im Ort kann eine 1-Drachmen-Münze wechseln.
Eine Übernachtung in einem guten Hotel in Athen kostete von ca. 5 Drachmen aufwärts.
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Griechenland-Pouqueville_A250 ** Historische Abbildungen aus:
Welt-Gemälde-Gallerie, Europa, Erster Band: Griechenland
Francois Charles Henri Louis Pouqueville
Schweizerbart’s Verlagshandlung, Stuttgart, 1836
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Das Tagebuch (fast 700 Druckseiten) wurde vom Setzer vom meist mit Bleistift geschriebenen Original-Manuskript übertragen und vom Autor nur minimal geändert:
Friedrich Gottlieb Welcker
Tagebuch einer griechischen Reise (von 1842)
Band 1 u. 2, Wilhelm Hertz Verlag, Berlin 1865
Online-Vorlage: Bayrische Staatsbibliothek München
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* Exkurs in die neuere Zeit 🙂 : Die Großeltern meiner ehemaligen Freundin waren in den späten 1960er Jahren Verwalter – oder nur Hausmeister? – von Schloß bzw. Palais Rastede bei Oldenburg. (Habe heute keine Ahnung mehr über ihre Funktion, jedenfalls hatten sie eine Dienstwohnung im Schloß, wo wir sie auch mal besucht haben.)
2004 gab es dort eine Ausstellung über Amalies Leben. Sie stammte ja aus Oldenburg.
* Exkurs 2: Ein Rückblick (von 1875) auf Amalies Schicksal:
> https://de.wikisource.org/wiki/Eine_verbannte_K%C3%B6nigin
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>  WEITER MIT: HELLAS-REISEN 1800-1965
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