Bulgarien-Tour zur Wendezeit – 7

Karikatur SDS BSP
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Die Karikatur, die wir im Haus des kommunistischen Parteikomitees und Ministerrats gefunden hatten, hatte nicht ganz unrecht: Die Union Demokratischer Kräfte (SDS) kam in der Wahl von 1990 nur auf 36% der Stimmen, und konnte den Wert (47%) der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) noch nicht überspringen. Wenn der Pope mit der Kerze vielleicht vom Pferd runtergefallen wäre …
Wir brauchten keinen Presseausweis, um uns im Haus der Partei zu bewegen. Im Foyer fand ohnehin eine Wahl-Informationsveranstaltung der BSP statt. Da wurde die Öffentlichkeit natürlich gesucht. Unübersehbar, das keilförmige Haus mit dem roten Stern:
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Sofia Parteihaus
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03.06.1990 Am Morgen nach dem Rosenfest ging es zurück nach Sofia. Noch ein Zwischenhalt: Irgendjemand präsentiert Folkloretänze in Nationaltracht zwischen den abgeernteten Rosenfeldern. Es sieht kaum noch jemand hin.
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Am Nachmittag streunen wir durch das Zentrum der Hauptstadt. Die Parkanlagen haben die Jugendlichen übernommen, und Skateboards und Spraydosen haben sie auch mitgebracht. Die westliche Rockmusik ist ein heißes Thema. Nur muß man noch ein wenig Englisch üben. Statt „Susidal Tendeciens“ sollte da ja „Suicidal Tendencies“ stehen:
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Suicidal Tendencies
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Einem aus der Gruppe, die am Denkmal der Roten Armee Sprünge trainieren (samt BOSS-Logo in Greenpeacefarben), ist Englisch ziemlich geläufig.
Wie man denn an die Skateboards kommt? Sind meist selbstgebaut. Die Einzelteile kommen aus dem Ausland.
Und was das kostet? Na, so 80 Leva pro Brett. 10$ nach aktuellem Wechselkurs. Und wie kommt man an das Material? Schmales Grinsen: „We have change …!“
Auf unser „Thanks for answering our questions!“ kommt die coole Antwort „You’re welcome!“
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Skateboard Sofia
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Joan kauft eine Portion Popcorn für unterwegs. Teilen wir uns nicht mit den Kids. Und man kann den Kalorien-Effekt ja umgehend überprüfen:
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Sofia Waage
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500 Meter hinter der Parteizentrale ragt die Alexander-Newski-Kathedrale auf – im neobyzantinischen Stil zwischen 1904 und 1912 gebaut. Newski lebte im 13. Jahrhundert, er gilt als russischer Nationalheld und als orthodoxer Heiliger. Die Kathedrale soll an den Einsatz der Russen im russisch-osmanischen Krieg von 1877/1878 erinnern:
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Alexander Newski Kathedrale
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Nicht nur im griechischen Befreiungskampf, auch bei den Bulgaren war die orthodoxe Kirche ein Fixpunkt der Verschwörung. Und es brauchte einen russischen Malerfürsten, der den Feind am Bosporus und seine Bosheit darstellte: Türkische Soldaten entweihen die Kirche, vergewaltigen die Christenfrauen, versklaven deren Kinder. Propaganda mit sexuellem Anreiz kam schon immer gut an:
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Makowski Märtyrerinnen
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„Bulgarische Märtyrerinnen“ (1877, aus der Zeit des russisch-osmanischen Krieges in Bulgarien), von Konstantin Makowski (Portrait- und Genre-Maler, 1839-1915, geboren in Moskau, gestorben bei einem Straßenbahn-Unfall in Petrograd/St.Petersburg). Auf seinen Bildern geht es jedoch meist ziviler zu.
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Am Abend haben wir im Hotel noch den Abschiedsempfang mit den Balkantourist-Funktionären. Ich würde Iliana, die Freunde in der DDR hat und oft dorthin gefahren ist, gerne einige Fragen stellen. Iliana wurde von ihren Vorgesetzten zuletzt schon ziemlich mißtrauisch angesehen …
„Nimm dir was zu essen vom Buffet, nimm ein Glas in die andere Hand, wir gehen auf und ab und vermeiden es, jemandem in die Augen zu sehen … siehst du? Jetzt haben wir unsere Ruhe, mitten im Saal!“ Iliana lacht, und recht hat sie auch. Uns folgen einige Augenpaare, aber niemand spricht uns an.
Iliana sieht die politische Wende mit gemischten Gefühlen. Daß hier zukünftig nicht mehr „die Partei“ das Leben bestimmt, findet sie gut, daß sie aber ohne Westgeld zukünftig nicht mehr in ihre geliebte DDR fahren kann, das ist übel. In vier Wochen wird in der DDR ja die Währung umgestellt!
Die ganze Wendegeschichte hatte sich ohnehin nicht gut auf das Reiseverhalten eingestellt – in beide Richtungen: „So hat sich in Bulgarien beispielsweise die Zahl bundesdeutscher Urlauber 1989 um 14% gegenüber dem Vorjahr verringert. (…) Für dieses Jahr rechnen wir mit einem Besucherrückgang um weitere 10%, sagt Iwan Simeanow, der Leiter des bulgarischen Fremdenverkehrsamtes.“ (Die Zeit, 18.05.1990)
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Der Wahlkampf im Land sei in der letzten Woche hektisch geworden. Ein Oppositionspolitiker sei in der Nähe einer Polizeikaserne erschossen worden, und es gab zwei mysteriöse Unfälle mit Todesfolge: Da fiel jemand in einen offenen Liftschacht, und jemand wurde vom Auto überfahren …
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Eine halbe konspirative Stunde lang schaffen wir es, uns ohne Störungen zu unterhalten. Allerdings sehe ich, daß Joan sich inzwischen mit Elke und Eva, den (west)deutschen Journalistinnen, über das Selbstverständnis der Amerikaner und Europäer streitet. Es droht schon, laut zu werden, da müßte man sich mal moderierend einmischen …
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Wir sind ohnehin mit Iliana – nach Ende des Empfangs – in der Hotelbar verabredet. Es wird noch ein langer Abend. 112 Leva kassiert die Barfrau vom Hotel Vitosha alleine von uns, den „holländischen“ Gästen (das Glas Wein aus Pomorie 8 Leva, der Wodka 10 Leva, Wasser, Cola und Säfte je 5 Leva).
Am Ende sammeln alle, die aus der Gruppe noch munter sind, unsere verbliebene Landeswährung, die wir ohnehin offiziell nicht ausführen dürfen, und noch ein Sammelsurium von Westgeldscheinen in einer großformatigen Papier-Serviette. Mir bleibt ein 10-Leva-Schein, der als Lesezeichen in meiner Reiselektüre steckt.
Elke steckt Iliana am Ende ihr Trinkgeld diskret zu. Iliana hat sich ja eine Woche lang für uns unermüdlich eingesetzt.
Für eine zukünftige Reise in die DDR wird der Betrag aber nicht reichen …
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Woerl BulgarienDas war der Rückblick auf die Wendezeit von 1990 … nach 25 Jahren. 1990 hatte ich gleich 100 Jahre zurückgeblickt. Ein paar Wochen vorher hatte ich in Amsterdam Woerl‘s Reisehandbuch „Bulgarien“ aus dem Jahr 1890 gekauft. Ein seltenes Buch. Nein, 1890 war Bulgarien noch keine Volksrepublik … 🙂 … da regierte (seit 1887) Fürst Ferdinand von Sachsen-Coburg. Der wurde 1908 sogar König, bzw. „Zar der Bulgaren“. Bis 1943 ist sein Sohn Boris sein Nachfolger.
Bulgarien kämpft im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der nationalsozialistischen und faschistischen Achsenmächte.
1944 steht aber die Rote Armee im Land der bulgarischen Zaren. Die Monarchie wird abgeschafft.
1946 wird die Volksrepublik proklamiert.
1967 wird im Freundschaftsvertrag mit der UdSSR die „ewige und unverbrüchliche Freundschaft“ erklärt.
Ja ja … es ist, wie es ist. A friend is a friend is a friend. Oder auch nicht.  🙂
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Ein paar kurze Blicke ins Buch von 1890. Links Fürst Ferdinand:
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Bulgarien Ferdinand.. Miliz Freiwilliger
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Und so sahen die „Volkstypen“ im Lande aus, damals:
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Bulgarien Volstypen..Bulgarien Makedonier
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Und wenn die Stimmung gut war, tanzte man den Horo-Tanz. Das konnte unser Kindergarten in Kazanlak auch, irgendwie:
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Horo Tanz
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Ja, und wenn Sie vor 125 Jahren mal nach Bulgarien wollten … das war nicht so bequem wie zu Balkan-Air-Zeiten, da nahm man den Orient-Express (Paris-Wien-Sofia-Konstantinopel)! Und das Interpretieren des Fahrplans war nicht so einfach, schon weil man sich nicht einmal auf eine genormte europäische Zeit geeinigt hatte. Wissen Sie zum Beispiel, wie groß der Unterschied zwischen der Stuttgarter und der Münchner Zeit war? Ich weiß es nicht:
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Orient Express Fahrplan
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Immerhin half Ihnen das Verlagshaus Woerl mit einer schönen Balkan-Karte.
Unten ein Ausschnitt daraus, Bulgarien oben (grün), das damalige Osmanische Reich mit Makedonien/Thrakien unten (rosa).
Und Plovdiv hieß 1890 noch „Filibe“ und Kazanlak hieß „Kesanlyk“. Aber Saloniki war schon Saloniki, immerhin:
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Bulgarien Karte1890
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