Fahrradreise durch den Balkan – 1911 Teil 3

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Dritte Fahrradreise 1911 – Serbien,  Rumänien, Makedonien, Albanien, Montenegro

Die Stimmung auf der Reise ist anders als in den vorigen Jahren. Die politische Spannung ist gestiegen, die Balkankriege von 1912 und 1913 und der Erste Weltkrieg werfen ihren Schatten voraus.
So freundlich die Serben auch immer noch sind – wer ein offizielles Amt hat, ist angehalten, kleinlich mit seinen Vorschriften umzugehen. Schon an der ungarisch-serbischen Grenze muß Sokolowsky sein Rad verzollen, und er muß schriftlich festlegen, an welchem Grenzort er auf dem Rückweg wieder passieren will. Nur dort würde ihm der Betrag zurückgezahlt, wenn er sein Rad wieder vorführt. (Leider muß Sokolowsky seine Reiseplanung total umdisponieren, am Ende muß er den Zoll-Betrag abschreiben.)

Anzeige aus: Continental-Handbuch, 1911

Ständig wird er aufs Gemeindeamt oder in die Polizeiwache bestellt, um seine Papiere und sein Gepäck kontrollieren zu lassen. Dabei ist manchmal niemand in der Lage, lateinische Schrift zu lesen. Man will bei der Gepäckkontrolle mehrmals in die licht- und wasserdichte Verpackung seiner unbelichteten Fotoplatten schauen. Er muß die ahnungslosen Beamten, die vom fotografischen Prozeß keine Ahnung haben, mühsam abwehren.

Sokolowsky hatte für seine Tour durch Serbien ganz abgelegene Wege ausgesucht. Sein Kartenmaterial ist jedoch unzulänglich. Schon die erste Bergstrecke, auf die er sich zu Hause gefreut hat, ist für Fahrräder völlig ungeeignet. Sokolowsky muß ein Pferd mieten und einen Führer verpflichten, der ein Lastpferd mitführt. Das Lastpferd trägt das Fahrrad – von dem das Vorderrad abgeschraubt ist – auf der einen Seite, das Vorderrad und das Reisegepäck auf der anderen Seite. Auf den schmalen Pfaden an Steilhängen und beim Durchqueren von Bächen wird es oft schon kritisch. Irgendwann scheut das Pferd und galoppiert davon. Dabei verliert es Fahrrad und Gepäck. Einige Fotoplatten sind zerstört, und das obere Rahmenrohr des Rades ist eingeknickt.

Als Sokolowsky wieder vom Pferdesattel auf den Fahrradsattel wechseln kann, dauert es nur ein paar Stunden, bis der Rahmen ganz durchbricht. Das läßt sich sogar vor Ort reparieren, aber es wird dauern. In der Wartezeit (zehn Tage) ist Sokolowsky zu Fuß unterwegs, auf einer Rundwanderung, seine schwere Kameraausrüstung im Rucksack.
Seine Reiseplanung muß schon jetzt völlig umgestellt werden, einige Reiseziele werden gestrichen.

Irgendwo trifft er den Gemeindesekretär (Pißar) eines nahen Dorfes (Wirina), zeigt ihm seine Landkarte, und fragt nach dem Weg. Das ist ein Fehler: Der Beamte führt ihn ab ins Dorf. Ein Ausländer, der serbisch spricht, Landkarte, Kamera, das kann doch nur ein Spion sein!

Wieder kann im Ort niemand seine Ausweispapiere lesen, man will auf den Dorfschullehrer warten. Der ist allerdings auf der Jagd und kehrt spät ins Dorf zurück. Aber Glück im Unglück: Der junge Lehrer spricht einigermaßen gut deutsch. Er kann den Gemeindevorsteher beruhigen. Der quasi ‚Verhaftete‘ sei völlig harmlos. Der sei kein Spion, sondern Journalist, und er schreibe Reiseberichte und fotografiere für Zeitungen im fernen Berlin.
Im Dorf gibt es keinen Gasthof, aber der Gemeindesekretär kann den Reisenden über Nacht bei sich unterbringen. Aufgetischt wird alles, was die Küche zu bieten hat.

Falls der Lehrer mal ein Fahrrad kauft

Der Dorfschullehrer lädt zum Frühstück. Er hat sogar einen privaten Bücherschrank, mit Werken von Karl Marx und Ferdinand Lassalle, in deutscher Sprache!
Sokolowsky staunt: Ob er das denn lesen und verstehen könne – er habe doch gesagt, er habe nur ein wenig Deutsch auf dem Lehrerseminar gelernt?

„Ich habe ein deutsches Wörterbuch, und ich bin Sozialist,“ erklärt er stolz, „deshalb ist mir nichts zu schwer, wenn ich mich weiterbilden kann.“

Na bitte … 🙂

Ab jetzt ist Sokolowsky vorsichtig. Bei jeder Ankunft in einem neuen Ort führt sein erster Weg auf das Gemeindeamt oder in die Polizeiwache. Mittlerweile ist sein Serbisch gut genug, um sein Anliegen klar und unmißverständlich vorzubringen. Er läßt in seinem Paß jedes Mal seine Ankunft eintragen und das nächste Tagesziel und bittet um die Erlaubnis, private Fotos zu machen. Das führt ab und zu dazu, daß er den Ortsspaziergang in Gesellschaft eines Polizisten machen muß, der darauf achtet, daß der Gast keine kriegswichtigen Dinge
fotografiert …
Vorteil: „Immerhin wurden mir weitere Schwierigkeiten nicht in den Weg gelegt.“

Rumänien

Durch die widrigen Umstände fehlen Sokolowsky nun einige Reisetage im Ziel-Land. Aber er ist über die verkürzte Reise nicht besonders verärgert. Rumänien ist insgesamt nicht sein Ding, und die Sprachschwierigkeiten sind enorm. Obwohl zu seinem Erstaunen einige Deutsche im Land unterwegs sind. Obwohl viele Händler und Gastwirte etwas deutsch oder französisch sprechen. Aber eine Kommunikation mit „den Leuten da draußen“, das geht kaum, anders als in Serbien.

Ansichtskarte, verschickt 1917

Auf dem Land gibt es die gewohnten Probleme: „In einem Dorfe stürmte mir ein ganzes Rudel struppiger Hunde nach, und ich mußte den wütenden Tieren eine wahre Verteidigungsschlacht mit Steinen und Revolverkugeln liefern. (…) Sie ließen, teilweise hinkend und blutend, von mir ab, und ich betrachtete wehmütig ein Stück meines Beinkleides, das lustig im Wind flatterte.“

Rückweg: Bulgarien, Makedonien, Ost-Albanien, Montenegro

Der Bericht über den Rückweg ist viel länger als der Bericht über Rumänien. In Bulgarien ist die politische Spannung schon spürbar. Aus dem (noch) osmanischen Makedonien – wo es bereits seit längerer Zeit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Türken kam – haben zahlreiche Flüchtlinge den Weg nach Sofia gesucht, oder in die Berge.
„Die Erregung bei uns ist jetzt auf einem sehr hohen Siedepunkt angelangt. Wir treiben anscheinend jetzt doch dem langerwarteten Krieg entgegen,“ versichert man Sokolowsky im Café.

Gruppe makedonischer “Räuber”, 1894

Auf der Rückreise durch Bulgarien passiert wenig, was der Autor nicht schon zwei Jahre vorher beschrieben hat. Er weicht allerdings noch einmal nach Süden aus, ins Niemandsland an der bulgarisch-makedonischen Grenze. Hier gerät er unerwartet unter makedonische Aufrührer (Komiten), die sich in den Dörfern auf der bulgarischen Seite sammeln. Unter den Komiten, die sich hier etabliert haben, haben sich schon verschiedene Parteien gebildet. Sokolowsky sieht erhitzte politische „Diskussionen“, die am Ende auch schon mal mit den Fäusten ausgetragen werden.

Ein älterer Mann, der in einer Komitengruppe großen Respekt genießt und ein paar Worte deutsch spricht, inspiziert seinen Paß mit den zahlreichen Einträgen aus Serbien und Bulgarien, und lacht: „Deutsche sind überall!“
Er erlaubt Sokolowsky, bis auf weiteres im versteckten Lager der Komiten zu bleiben. Das ist unter den gegebenen Umständen nicht das dümmste. Hier sind nämlich auch unberechenbare griechische Freischärler und hochmißtrauische türkische Soldaten unterwegs.

Ein bizarrer Höhepunkt im makedonischen Lager ist, daß man ihn zu einer nächtlichen Gerichtsverhandlung im Wald mitnimmt, wo über einen „Verräter“ aus ihren Reihen gerichtet werden soll. Es ist eine kurze Verhandlung. Der „Verräter“ wird zum Tode verurteilt und umgehend am Ast einer Eiche aufgehängt.
Sokolowsky kann nur zuschauen: „Gleichmütig legten sich die Leute bis auf die Wachen wieder zur Ruhe und hüllten sich in ihre Decken. Was bedeutete das eben Erlebte für sie, deren Dasein eine Kette von blutigen Ereignissen war – eine Augenblickserinnerung, nichts weiter.“

Bei der Abreise vom Lager der Komiten – General-Richtung Ostalbanien/Montenegro – begleitet ihn eine bewaffnete Abordnung über die Fußpfade der einsamen Wälder. Man trägt sogar sein Fahrrad und seine große Rahmengepäcktasche.

Von jetzt ab wird es eine Fahrt ins Blaue. Für Albanien und Montenegro ist sein Kartenmaterial völlig untauglich. Er schreibt irgendwann leicht genervt: „Wo ich eigentlich bin, weiß ich nicht. (…) Selbst die Karte der k.k. österreichischen militärgeographischen Anstalt erwies sich in diesen Gegenden nicht als zuverlässig.“
Es gibt auch keine Straßen mehr. Mal läßt er sich auf Flüssen von Flößern mitnehmen, mal geht es wieder auf Bergpfaden in den Pferdesattel. Beim Durchqueren der reißenden Strömung eines Flusses wird das Lastpferd abgetrieben, da verliert Sokolowsky fast sein Gepäck und sein Fahrrad. Wieder werden belichtete Negativplatten vernichtet.

In Albanien geht man eher zu Fuß: „Beim Herabsteigen holten wir einen Trupp albanischer Landleute ein, was mir Gelegenheit gab, die verachtete Stellung der albanischen Frau, die ihrem Mann nur als Lasttier dient, ohne die Rechte einer Lebensgefährtin zu genießen, so recht kennen zu lernen. Die Frauen und Mädchen keuchten gebückt unter schweren Lasten dahin, die einzeln sicher bis zu einem halben Zentner wogen, während ihre Herren und Gebieter, nur die Flinte über der Achsel, stolz nebenher schritten.“

Eine Zeit lang nimmt ihn ein katholischer Pater mit, der aber von den Muslimen auch mit Mißtrauen betrachtet wird. Der Pater sorgt für private Übernachtungen und empfiehlt Sokolowsky, am Abend in den Orten albanische oder serbische Kleidung anzulegen, um nicht unnötig aufzufallen: „Mein Wirt gab mir darauf einen Anzug und ein Paar türkische Schuhe, dazu einen weißen runden Fez. Da ich ganz dunkelbraun gebrannt war, konnte ich nun auf der Straße nicht mehr auffallen.“

Sokolowsky streunt gerne durch die kleinen Städte: „Wieviel friedlicher und freundlicher wirkte ein solchen (Stadt)bild mit seiner weitläufigen Bebauung, mit seinen Gärten und grünen Baumgruppen immer auf mich ein, als wenn ich das Bild einer unserer Städte mit ihren Mietskasernen betrachtete. Dort Licht und Luft und Verbindung mit der Natur, hier öde Häusermauern, die von aller Natur feindselig abschließen. Als Bodenreformer hatte ich stets eine besondere Freude an der Bauweise dieser Städte.“ Und hygienischer und reinlicher sei es „bei uns in licht- und freudelosen Höhlen, die wir uns Wohnungen zu nennen erdreisten“ auch nicht.

Mit der serbischen Sprache kommt man einigermaßen durch, auch in Montenegro. Und das Fahrrad ist jeden Tag Gegenstand großer Neugierde:
„Vor dem Han saßen mehrere Männer trinkend auf einer Bank. Ein würdiger Alter trat zu mir und sagte: ‚Was ist das, Herr, das du da mit dir führst? Wir haben so einen Wagen (!) noch niemals gesehen und begreifen nicht, wie du damit fahren kannst. (…)  Konntest du denn überall auf den Bergen mit deinem Wagen fahren?‘
‚Nein, sehr oft habe ich auch zu Fuß gehen müssen.‘
‚Das ist auch besser,‘ meinte er halb mitleidig. Wohin der Reisende denn jetzt wolle?
‚Über die Berge zum Meer.‘
Der Alte ist entsetzt: ‚Die Wege sind für dich nicht geschaffen, und du kannst mit deinem Wagen nicht über die Berge hinüber!‘

Es folgt eine zweitägige Fahrt flussabwärts, auf einem Floß aus zusammengebundenen Baumstämmen. Man ernährt sich von Raki, Hartkäse, Brot und gesalzenen Fischen.


Auch in Montenegro äußert der Autor einige Kritik an den gesellschaftlichen Umständen: „Das Waffenhandwerk ist ja die hauptsächlichste Leidenschaft des Montenegriners. Zur Arbeit, die seiner Meinung nach eines Helden nicht würdig ist, nimmt er dagegen eine ablehnende Stellung ein und überläßt sie neidlos den Frauen.“

Na, in der Küstenzone haben die Kartenexperten doch solide gearbeitet, oder …?
(Golf von Cattaro, Dalmatienführer von 1899, Hartleben/Wien, Ausschnitt)

Sokolowsky reist am Ende von Cattaro mit dem Dampfer nach Triest: „In Gedanken sah ich mich schon auf meiner nächsten Reise durch Südmakedonien und Griechenland. Ich ahnte nicht, daß schon wenige Monate später der erwartete Krieg ausbrechen und die Gebietsverhältnisse auf der Balkanhalbinsel so gründlich verändern würde, daß auch hier jahrelange Kämpfe toben würden, die meine Wiederkehr dorthin für Jahre, vielleicht für immer, unmöglich machen würden.“

Montenegro erklärte dem Osmanischen Reich im Oktober 1912 den Krieg. Das kleine Land vertraut auf seine Verbündeten (im Balkanbund). Die Türkei kontert nach ein paar Tagen: Es geht nicht gegen Montenegro, das ist nur die „Fliege an der Wand“, die Kriegserklärung geht zuerst gegen das mit Montenegro verbündete Bulgarien. Am Tag darauf erklären Serbien, Bulgarien und Griechenland gemeinsam dem Osmanischen Reich den Krieg. Die Karte des Balkans wird am Ende neu gezeichnet, vom europäischen Teil des Osmanischen Reiches bleibt nur ein Rest (Londoner Vertrag von 1913).

Sokolowskys vierte Reise fand nicht mehr statt. Private Reisen sind ab 1912 auf der Balkan-Halbinsel etwa zehn Jahre lang praktisch nicht mehr möglich.
Aber Berlin hat ja auch seine Attraktionen, sogar für Radfahrer 🙂 :


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