Nur weg hier … aber nicht alle auf einmal!

(Foto Ch. L. Freeston 1910) Der Höhenrausch nur für wenige – doch von da an ging’s bergab

Noch ein paar Tage bis zum Juni 2021, und alle Griechenland-Freaks, die ich kenne, werden schon hochnervös. Jeder will als erste über die von den Hygiene-Bürokraten gesetzten Hürden springen. Manche sind schon unterwegs …
Ich habe da auch eine Startposition im Rennen, aber die gilt erst im Frühherbst. Mein Flug nach Athen im Mai wurde noch storniert.
Zur Zeit durchforste ich zu Hause Stapel von alten Unterlagen und Notizen, um mich von unnötigem Ballast zu befreien. Aber … was einem da nicht alles in die Hände fällt!
Da finde ich eine zwanzig Jahre alte Kopie eines Artikels aus der Süddeutschen Zeitung, der immer noch hochaktuell ist. Das Blatt hat mir mal jemand zugeschickt, der meine Griechenland-Besessenheit etwas dämpfen wollte …

„Pasta schon – Warum die Deutschen sich weigern, das eigene Land zu entdecken“
Gottfried Knapp
(siehe unten *1), Süddeutsche Zeitung, 04./05.08.2001

Ich hatte den Text damals schon an den wichtigsten Stellen gelb markiert (hier fett). Ich habe leider keinen Zugang zum Archiv der Süddeutschen Zeitung (Jahresbeitrag 900 Euro). Sonst könnte ich den Text hier einfach verknüpfen. Ich habe auch keinen Text-Scanner. Aber die Mühe lohnt sich, den Text – wenigstens teilweise – abzuschreiben, und ich hoffe, der Autor wird nichts dagegen haben.

Noch 25 Jahre früher war schon der Hamburger Rockstar > Achim Reichel auf das irritierende Thema gekommen (siehe unten *2).

Also, „Heimattümelei“ ist gar nicht meine Sache, und die liegt dem Autor des Textes auch fern … aber ich stimme den Aussagen im Text im Großen und Ganzen zu.
Noch mal schnell nachdenken: Richtet sich die Spitze des Artikels nicht auch ein wenig gegen „die bewußt und individuell Reisenden“?
Oder nicht? Reisen und leben diese auf ihre Weise nicht ganz anders …?
Ja …?
Gut. Dann können wir ja selbstzufrieden weiterlesen, oder … 🙂 ?

Also:

„In manchen Bundesländern ist sie schon zu Ende gegangen, in Bayern aber hat sie eben erst begonnen, die schönste Zeit des Jahres, die Urlaubszeit, die Zeit, in der wir am liebsten zu Hause bleiben, um Urlaub von den Deutschen zu machen, die Zeit, in der wir die Sommerwärme und die langen Abende entspannt genießen, weil die Nachbarn ins Ausland verschwunden, die Biergärten halb leer, die Badestellen an den Seen nur noch spärlich besucht sind. Wie eine Strafe käme es uns vor, wenn wir diese kostbare Zeit bei brütender Hitze an grausam überfüllten südlichen Stränden mit all den verbissenen Urlaubs-Lemmingen aus dem Norden verbringen müssten, die, einem offenbar unstillbaren Triebe folgend, jedes Jahr an einem Stichtag im Sommer auf den Autobahnen übereinander herfallen, um sich nach einer strapaziösen kollektiven Alpenüberquerung „drunten“ gemeinsam in die pissewarmen Fluten zu stürzen.

Natürlich hat uns auch in diesem Jahr das geballte Mitleid der wild entschlossenen Auslands-Urlauber getroffen. Und (…) an keinem Punkt sind sich die Deutschen so einig, wie in der Überzeugung, dass ein Urlaub ohne Reise nichts wert ist und Ferien nur noch im Ausland zu genießen sind.

Tatsächlich hat sich die Weltsicht der Deutschen in den Jahrzehnten des Massentourismus dramatisch verändert. Je mehr weiße Ecken und Winkel auf dem touristischen Globus durch Reiseveranstalter erschlossen wurden, desto mehr Partien der eigenen Heimat verschwanden aus dem Bewusstsein der Reisenden, ja für die Jüngeren sind die klassischen deutschen Ferienregionen als mögliche Urlaubsziele überhaupt nicht mehr existent.
Eine hoch geschätzte junge Kollegin, die fabelhaft kenntnisreich über London oder den Nahen Osten schreiben kann, hat neulich, als sie nach Speyer musste, die Domstadt als „irgend so ein komisches Kaff im Norden“ bezeichnet. Dass dieses Kaff, von München aus gesehen, fast exakt im Westen liegt, dass der Dom zum Weltkulturerbe und die Stadt zu den schönsten der Pfalz gehört – für Leute, die als Kinder nur Urlaub im Ausland erlebt haben, sind solche Tatsachen offenbar nur lästiger Ballast.

Lebenslüge Urlaub

Diese einseitige Blindheit hat inzwischen alle Bevölkerungsschichten erfasst. Für die ständig wachsenden Massen der Charter-Urlauber etwa, die kurze Hosen als die wichtigste Vorbedingung für ein menschenwürdiges Dasein halten, ist die Strecke zum nächsten Flughafen das einzige Stück Heimat, das sie mit dem stur wiederholten Ferien-Ritual in Verbindung bringen.

Anders als ihre Nachbarn haben die Deutschen den Urlaub zur Fluchtbewegung umfunktioniert: zum rettenden Ausweg aus dem garstigen Land, in dem man zu arbeiten gezwungen ist und Steuern zahlen muss. Ja, die meisten deutschen Touristen sind der festen Überzeugung, dass sie beim Überschreiten der Grenzen in eine von Grund auf bessere Welt eintreten.

Zu dieser fast schon rührenden Lebenslüge konnte es nur kommen, weil die Deutschen unter dem zwanghaft wiederholten Ferienritual verlernt haben zu differenzieren. Da sie sich nur im Urlaub etwas wie Leben gönnen, halten sie Schönheit, Heiterkeit, Menschlichkeit, ja sogar Kultur für etwas, was in Deutschland nur rudimentär existiert, im Ausland aber ganz natürlich auf den Bäumen wächst. (…) Im Inland sind sie permanent unzufrieden, klagen über das Wetter, egal ob es heiß oder kalt ist, schlagen die Freizeit mit ständig neuen Beschäftigungs-, Diät- oder Fitnessprogrammen tot, die stets in Arbeit ausarten, also garantiert keine Freude aufkommen lassen. (…)

Das alles müsste uns hier nicht kümmern, wenn es dabei nicht zu grotesken Fehleinschätzungen käme. So kann man etwa bei passionierten Mitgliedern der Toskana-Fraktion ein seltsames Sympathisieren mit den paramilitärischen Ritualen der italienischen Polizei beobachten. Auffällig ist auch, wie rasch sich Deutsche im Urlaub mit der Alltagskriminalität abfinden. Beim ersten aufgebrochenen Auto ist man noch verärgert, beim dritten bringt man den Tätern fast schon Bewunderung entgegen und empfindet das Ganze als eine typisch südländische Sonderform von Folklore. Wenn sich etwas von dieser Urlaubstoleranz nach Deutschland herüberretten ließe, wäre schon viel erreicht.

Auch auf kulturelle Reize reagieren viele Deutsche im Ausland direkter als zu Hause. Mit spontaner Neugier entdecken sie die Schönheiten südländischer Städte oder Landschaften, aber nur wenige von ihnen kämen auf die Idee, im eigenen Land nach etwas Vergleichbarem zu suchen. In der Toskana kursieren deutsch geschriebene Spezialführer, die auch noch den letzten winzigen gotischen Freskenrest, die letzten paar romanischen Steinsetzungen in den ansonsten barocken Dorfkirchen ehrfürchtig feiern. Folgt man ihren Hinweisen, ist man auf den staubigen Feldwegen mit Deutschen allein, die in ihrer italienischen Wahlheimat jeden Grashalm kennen, aber zu Hause seit 20 Jahren keine Kirche mehr betreten haben. (…)

Besonders plastisch lässt sich die allmähliche Kolonisierung Deutschlands am Beispiel der Ess- und Trinkgewohnheiten darstellen. Grundsätzlich ist gegen die zunehmende Mozzarellisierung und Pastafizierung der Bundesrepublik wenig zu sagen. Wenn wir Deutschen lernen, unsere eigenen Produkte und Traditionen so zu kultivieren, wie es die Italiener zu Hause mit schönstem Erfolg tun, sind wir schon ein großes Stück weiter.

Im Gefolge von Pasta, Pizza, Prosciutto und Pinot Grigio – um beim ergiebigen Beispiel Italien zu bleiben – sind aber auch modische Erzeugnisse zu völlig unsinnigen Preisen ins Land geschwappt. Der bislang dreisteste Griff nach den Geldbeuteln der Deutschen war wohl kurzzeitig gespenstisch erfolgreiche Kampagne der Grappa-Mafia. Als diese Mode ihren Höhepunkt erreichte, war es – zumindest in München – unmöglich, as einem italienischen Lokal herauszukommen, ohne monströse 28 Mark für ein paar seifig schmeckende Tropfen im klobigen Zahnputzglas zu berappen (…).

Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der einfach nur klarstellte, dass Grappa aus Trester, also einem Abfallprodukt – den ausgepressten Beerenhäuten und Stielen -, hergestellt wird, hat dem Spuk über Nacht fast über Nacht ein Ende gemacht. Zwei Wochen später standen in den Kaufhäusern riesige Pyramiden aus Grappa-Flaschen herum, die von schamlosen 80 auf immer noch stattliche 38 Mark heruntergesetzt waren, also direkt den Beweis lieferten, dass die Ursprungspreise reiner Hohn waren. (…) In der gehobenen Gastronomie Italiens ist der Tresterschnaps ohnehin längst durch den sehr viel edleren, charakteristisch nach der Rebsorte schmeckenden Traubenbrand (Aquavite d’uva) ersetzt.  *3)

Moussiert, nicht gepanscht

Bei dem eigens für den deutschen Markt zusammengepantschten Prosecco wird es aber wohl noch lange dauern, bis die Deutschen Wirkung zeigen. Früher hat das Wort Prosecco eine Weißweinrebe recht bescheidener Qualität bezeichnet, die nur in 15 Gemeinden bei Treviso angebaut wurde. (*4) In bäuerlich schlichten Abfüllungen hat dieser Wein gerne ein wenig moussiert. Er ist heute in dieser Region immer noch in dieser Form zu bekommen; die knochentrockene Version Cartizze gilt sogar als hochgeschätzte Rarität. Doch der Schaumwein gleichen Namens, den die Deutschen bei jeder denkbaren Gelegenheit in ungeheuren Massen vertilgen, ist ein künstlich aufgeschäumtes Produkt aus Fabriken, die den billigen Grundstoff aus Ländern rund um das Mittelmeer beziehen. Mit der Rebsorte gleichen Namens hat das Ganze nur noch wenig zu tun: Das Produkt wird in Valdobbiadene, dem Hauptort des Prosecco-Gebiets, allenfalls abgefüllt oder etikettiert. (*5)

Dennoch ist die Prosecco-Euphorie in Deutschland immer noch ungebrochen. Wer mit einem Prosecco von Aldi eine Party eröffnet, kann sich der Zustimmung aller Gäste sicher sein. (…)

Die Vorurteile der Deutschen, die im Ausland önologisch sozialisiert worden sind, gegen deutsche Weine haben sich in den letzten Jahren zu einem kaum mehr überwindbaren Hindernis aufgetürmt. (…) Modische Lokale für ein jüngeres Publikum bieten fast nur noch Weine aus überseeischen Ländern an. Und dort, wo noch deutscher Wein auf der Karte steht, ist er meist billiger als die schlichtesten Massenprodukte aus dem nahen Ausland. Das muss die deutschen Winzer deshalb besonders schmerzen, weil ihre österreichischen Kollegen, die nach gewaltigen Anstrengungen in den letzten Jahren etwa dort angekommen sind, wo die deutschen Spitzenwinzer immer schon waren (…).

Es ist also nur eine sachliche Feststellung, wenn wir sagen: Für die ruhelosen Deutschen ist das eigene Land der letzte unentdeckte Kontinent, der einzige, den sie offenbar nicht mehr erobern wollen.
(Gottfried Knapp)

*1) Zum Autor Gottfried Knapp bei > wikipedia

*2) Zu Achim Reichel bei > wikipedia

Was nicht bei wikipedia steht: Achim Reichel hatte eine plötzliche Erscheinung auf einer Reise durch Irland, in einem Pub zwischen angesäuselten singenden Gästen. Da konnte er im Chor gut mithalten. Bis ihn jemand bat, doch mal was Deutsches zu singen. Und Reichel verlor die Fassung – er kannte kein einziges deutsches Lied.
Fürs Repertoire der Rattles reichte bis dahin reines Kindergarten-Englisch. Beispiel, 1966:
„Kam On Änd Zing, Kam On Änd Zing Na-Na-Na Na-Na-Na Na Na Na …“
🙂
wikipedia: „1975 legte Reichel mit Dat Shanty Alb’m  erstmals ein Album mit Seemannsliedern  vor. Nicht nur der Stilwechsel weg von experimentellen Aufnahmen hin zu volkstümlichen Klängen war verblüffend, sondern auch die Tatsache, dass Reichel seitdem überwiegend Deutsch sang.
1976 trat er mit der Forderung an: „Volksmusik muss leben, und das kann sie nur, wenn man sie in das Klangbild der Zeit hebt.“ In seinen Liedern blieb die Seefahrt von da an ein häufiges Thema. Auch klassische deutsche und vor allem norddeutsche Lyrik wurde von Reichel vertont ( > Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Der Zauberlehrling, Belsazar, Erlkönig, John Maynard, Nis Randers, Pidder Lüng, Trutz, blanke Hans ), insbesondere auf der LP > Regenballade (1978), die sogar in der pädagogischen Fachliteratur zur Verwendung im Deutschunterricht empfohlen wurde.
Zahlreiche weitere LP-Veröffentlichungen folgten, um 1980 beinahe jährlich. Reichel arbeitete auch mit Lyrikern wie > Jörg Fauser und > Kiev Stingl zusammen (…).“

COOP in Venedig 1998: Teil der Reisebeute … 🙂

*3) Zu Grappa / Grappa Ruta:
Amaretto, Amaro Spritz, Balsamico, Ramazzotti, Latte macchiato, Campari, die Moden kommen und gehen. Auch der Grappa-Strom ist schmaler geworden, aber nicht ausgetrocknet. Ein italienischer Laden hier im Essener Süden verkauft Ihnen heute noch eine Flasche Grappa mit Mandel-Aroma für 40 Euro … oder waren es 80 Euro?
Hm. Als Alternative stelle ich mir vor: Kaufen Sie eine Flasche Billig-Grappa im Supermarkt
(10 Euro) und verrühren Sie darin drei Tropfen Bittermandelöl und einen Teelöffel Amaretto.

So ähnlich habe ich vor zwanzig Jahren meinen „hauseigenen“ Grappa Ruta produziert. Der wurde damals den ahnungslosen Deutschen in den üblichen bizarren Designerflaschen angeboten für Preise um 50 D-Mark. Für Grappa Ruta ist die schlechteste destillierte Sorte der Grundstoff! Ein Fusel, den keiner trinken mag. Wenn man allerdings Weinrautenblätter büschelweise in der Flasche mitziehen läßt, dann reicht es – ihr bitterer Geschmack übertönt das originale Aroma. Die Weinraute ist sogar verdauungsfördernd. Im COOP-Supermarkt in Italien kostete die Literflasche damals weniger als 10.000 Lire (10 Mark).
Bei REWE gab es damals Billiggrappa (0,5 Liter 6 Mark). Eine Freundin in Bayern hatte Weinraute im Garten. Frisch gepflückte Zweige kriegte ich im Plastikbeutel per Post zugeschickt. Rein in die Flasche, acht Wochen warten, dann hat sich der Grappa schön grün verfärbt, fertig ist der Digestif.)

Die > Weinraute oder Gartenraute (Ruta graveolens) ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Rauten (Ruta). Und siehe da, sie ist in Italiens Natur wohl gar nicht verbreitet.

Gruppenreise 1935, Ankunft Santorin – man ist weit weg, aber nicht allein, und es schmeckt wie zu Hause …

*4) Zu Prosecco:
Im Merian-Heft „Dalmatien“ (Nr. 11 von 1960) steht folgender Satz: „Im Weindorf Slatine, für seinen süßen Prosekko berühmt, trennen sich die Wege.“

*5) Zur Agrarindustrie in Italien:
Italien ist das größte Exportland für Olivenöl (in Flaschen), aber auch das größte Importland für Olivenöl (in Tanks) …
Aber jetzt komme ich doch ganz vom Thema ab.
🙂

P.S.  Ich habe als Kind meine Sommerferien auf einem Bauernhof im Weserbergland verbracht (war schön und lehrreich, Tourismus und „entertainment“ gab es da nicht, aber viel Arbeit, auch für Kinder). Ich war da lieber als in Rimini. Geprägt auf „Heimat“ hat mich das
(leider …?) nicht.
Ich kenne mich in Griechenland nach weit über 1000 Reisetagen doch insgesamt besser aus als in Deutschland oder anderen besuchten Ländern … und den typischen „urlaubsheiter“ gestimmten Touristen gehe ich immer noch aus dem Weg, wo es möglich ist.
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