Olymp, die Klephten 1911


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Fred Boissonnas: Kokkinopilos am Olymp, 1913 (siehe unten Kapitel 2)
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1. Kurze Geschichte des Klephtentums
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Im rechtlosen Mittelalter entstanden im Großraum Griechenland zahlreiche bewaffneten Gruppen als lokale Milizen. Sie entstanden aus Not, denn sehr oft waren weite Gegenden nach dem Fall von Byzanz umstrittene bzw. völlig herrenlose Gebiete. Als die Osmanen 1455 Griechenland eroberten, waren solche Gruppen als Ordnungskräfte lokal etabliert. Die Osmanen integrierten die meisten Gruppen als Armatolen (armatoli) für ihre Zwecke.
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Man darf diese Erscheinung nicht allzu positiv sehen. Mit der Gewöhnung an die Macht entwickeln selbsternannte Ordnungshüter gerne egoistische Zwecke … der Durchschnitts-Armatole war durchaus eine Mischform zwischen Gerechtigkeitswächter und Gelegenheitsdieb. (So, wie sich die Dinge in Sizilien und Süditalien auch entwickelten.) Trotzdem waren sie populär, auch wenn sie eher als “Räuber” (Klephten) gesehen wurden. Ihre Waffenführung, Ausdauer, Landeskenntnisse und Lebensart in freier Natur machten ihre Führer oft sagenumwoben.
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Edwart Richter: “Diese Pseudo-Gendarmen waren im allgemeinen human und nachsichtig, und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, besonders die Hirten, lebten im Einverständnis mit ihnen.”
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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts (besonders unter Ali Pascha von Ioannina) wurden die Klephten jedoch immer härter bekämpft und verdrängt, und besonders der einsame Olymp wurde zu ihrem Rückzugsgebiet. Es gründeten sich dort richtige Kleinfürstentümer!
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David Urquhart (u.a. “Spirit of the East: Travels through Roumeli”, 1839) besucht 1830 den Klephtenfürsten Demo, der ein stattliches Haus in dem befestigten Dorf Karia bewohnte. Urquhart genießt eine großzügige Gastfreundschaft und erlebt ländlich-patriachalische Verhältnisse. Demo gilt als “Räuber”, aber auch als Gerechtigkeitsexperte und als lokaler “Richter”. Ihm “gehören” 11 Ortschaften mit 500 Bewaffneten. Demo gibt, wie viele Klephtenführer, auch sicheren Geleitschutz für Reisende, die es sich leisten können …
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Die Klephten waren am Ende ihrer Zeit sehr aktiv im griechischen Freiheitskampf. Nach dessen Erfolg wurden die organisierten Klephtengruppen offiziell aufgelöst. Was die unentwegten Individuen in den Bergen nicht unbedingt “zivilisierte”. Fünfzig Jahre später terrorisieren die Klephten als eine Art “Mafia” die Bewohner der Olympgegend weit mehr, als sie zu schützen. Viele Bauern trauten sich kaum noch auf ihre Felder.
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Der Sprachforscher Gustav Weigand ist für seine Doktorarbeit 1887 bei Feldstudien im Olymp unterwegs: “(Man sieht) daß sich die Leute nicht einmal im Inneren des Ortes sicher fühlen; denn trotz des dort liegenden Militärs kommt es vor, daß die Räuber bis mitten in den Ort eindringen, Leute entführen und sie nur für schweres Lösegeld wieder frei lassen. (…) Nur wer nichts zu verlieren hat, kann sich hier frei bewegen. Wenn ein Reicher gezwungen ist, eine Reise zu machen, so tut er das entweder mit gutbewaffneter Bedeckung, oder er reist, trotz der Gefährlichkeit der Wege, bei Nachtzeit.”
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Die türkisch-griechische Grenze am Olymp. (Meyers Reisebücher 1907)
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2. Die Entführung des Ingenieurs Edwart Richter 1911
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Die griechischen Klephten des Befreiungskampfes im 19. Jahrhunderts hatten auch in Nordeuropa einen legendären Ruf. Bei namhaften Malern entstanden eine ganze Reihe von idealisierten “Star-Portraits” … meist im Festtagsanzug, mit geputztem Waffenarsenal. Von Richters Entführern existiert kein Foto. Hier, zur Einleitung der Geschichte, wenigstens das Bild der (albanischen) Klephtengruppe des Schahin Mataruku, die um 1900 im osmanischen Raum aktiv war:
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“Obwohl die meisten nach Konstantinopel fahrenden Schiffe am Fuß des Olymp vorüberziehen und obwohl Salonik in der Luftlinie nur etwa achtzig Kilometer entfernt ist, bildet das Olympgebirge doch ein Gebiet, das ‘unbekannter als die meisten Gegenden Zentralafrikas’ ist. Eine sehr geringe Zahl von ‘Europäern’ (die Orientalen zählen sich selbst nicht zu den Europäern) hat das Gebiet betreten. Nur ein Geograph und zwei oder drei Geologen haben je einen Teil des Gebirges beschrieben. (…) Gasthäuser in unserem Sinne gibt es dort nicht, die Straßen sind sehr schlecht, Wege sind nicht gebahnt, sondern nur ausgetreten, ferner erteilt die türkische Regierung sehr ungern die Erlaubnis zum Betreten des fern vom Verkehr liegenden Gebietes. (…) Am meisten verhindert aber die große Unsicherheit den Besuch. Ist doch das Olympgebirge das berüchtigste Räubernest Europas.”
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Meine Erlebnisse in der Gefangenschaft am Olymp”
(nebst Schilderung der Entwicklung des Klephtenwesens)
Edwart Richter, Born/Leipzig, 1911
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In Meyers Reisebuch “Türkei und Griechenland” von 1888 steht auch die klare Warnung: “Die Umgebung von Salonik ist zur Zeit höchst unsicher. Es ist daher dem Touristen dringend anzuraten, sich nicht ohne Bedeckung über das Weichbild der Stadt hinauszuwagen.”
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Damals verlief über den Süden des Olymp-Massivs noch die griechisch-türkische Grenze, die Gipfel lagen auf türkischem Boden. Der Ingenieur und Geologe Richter wurde auf einer Expedtion in der Nähe von Kokkinopilos (westlich der Gipfel) am 27.05.1911 überfallen und entführt. (Er wußte von den Gefahren. Es war bereits sein dritter Besuch des Olymps, und er hatte im Mai 1910 sogar “einen der Hochgipfel überschritten”, mehr aus Not als aus Ehrgeiz, in einem Schneesturm.)
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Das Klephtenwesen war damals gut organisiert, bis in die Städte hinein, und Richter wurde auf seiner dritten Reise von 1911 offensichtlich bereits seit der Ankunft in Thessaloniki beschattet. Die beiden Gendarmen, die ihn begleiteten, wurden beim Überfall erschossen. Richter wurde im Gebirge versteckt, teils in Höhlen, teils auch in Dörfern jenseits der Grenze und erst nach wochenlangen Verhandlungen freigelassen.
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Nicht die kahlen Höhen des Olymp-Massivs …
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… sondern die unübersichtlichen grünen Täler sind der Raum, den die Klephten beherrschten. (Fotos: Fred Boisssonnas)
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Bis zu 400 Soldaten suchen nach dem Entführten, sie finden ihn jedoch nicht. Anfang Juni wurden die ersten 20.000 Pfund Lösegeld von der türkischen Regierung bezahlt. Die Entführer weisen aber etwa 1000 Pfund als “schlechtes Bargeld” zurück. Das Bargeld wurde heimlich nach Elassona gebracht, wo sich die Vertreter des Dorfes “gegen Verpfändung ihres Hauptes” schriftlich verpflichteten, es sicher zu verwahren. (Das Dokument mit dreißig Unterschriften der Dorfältesten wurde lt. Richter von den Entführern jedoch zum Feueranzünden benutzt, für sie galt das gesprochene Wort.)
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Richter wurde wegen des “Vertragsbruchs” der Regierung nicht freigelassen, und es wurde nun eine verdreifachte Lösegeldsumme gefordert. 42.000 Pfund waren noch nachzuzahlen! Die Summe wurde nun in Raten gezahlt, teils durch das Deutsche Konsulat in Thessaloniki, zum Teil durch Spenden aus Deutschland. (Auf heutige Verhältnisse hochgerechnet, wurde Richter für eine siebenstellige Euro-Summe befreit …)
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Es gibt Betrug und Verrat auf beiden Seiten. Angeblich ist nach einiger Zeit auch Richters schwangere Frau auf der Suche nach ihrem Mann im Gebiet unterwegs. Auch die türkischen Behörden am Ort glauben an ihre falsche Identität und geben ihr militärischen Schutz. Sie wird zum Schein ebenfalls “entführt” … und nach Übergabe von “nur” 1500 Pfund Lösegeld freigelassen. Die Höhe der Lösegeldsumme klingt schon fast frauenfeindlich …
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Sie wird “zu ihrem Schutz” nach ihrer Befreiung in ein Koster bei Tirnovo geschickt, wo sie jedoch später nicht aufgefunden wird. Es wird das Gerücht verbreitet, sie hätte ihr Kind zur Welt gebracht und sei im Kloster gestorben. Richter glaubt das bis zu seiner Freilassung! (Seine echte Frau ist jedoch zu Hause in Jena und wartet auf ihn …) Niemand weiß, wo das Lösegeld geblieben ist.
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Der wertvolle Gefangene wird – trotz ständiger quälender Morddrohungen seiner Entführer gegen ihn – so gut es geht gepflegt, besonders nachdem er krank wird. Richter: “Die ungenügende Ernährung begann ebenfalls ihre Folgen bemerkbar zu machen. Deshalb bat ich die Räuber, mir anstatt der Feigen und des Weines Eier, Käse und Milch zu geben. Diesen Wunsch haben sie, soweit es möglich war, erfüllt. Nur der gewünschte holländische (!) Käse war schwer erhältlich, aber nach einiger Zeit brachten die Räuber doch einen großen, noch unangeschnittenen Käse mit, den sie wahrscheinlich aus Larissa hatten beschaffen lassen. Ich habe von nun an täglich zwei gekochte Eier und Käse nebst Brot genossen.”
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Am Ende wird Richter (von den inzwischen unter sich zerstrittenen Entführern) irgendwo südlich der Landesgrenze in der Landschaft freigelassen, er findet (ohne Kompaß und Karte) selbst das türkische Lager Karakol auf dem Melunapaß.
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Ihm wurde jedoch von seinen Entführern noch diese Quittung für den Deutschen Konsul über die restliche korrekte Abwicklung des Geschäfts ausgestellt:
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Den 10. August 1911: Wir haben bekommen Geld eintausendfünfhundert Pfund, vier goldene Uhren, vier silberne Ketten mit Goldauflage; dieses haben wir bekommen als Austausch.
Wir unterschreiben: Hauptmann Liolios, Hauptmann Athanas Stratis
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4 comments

  1. Hallo Theo,

    sehr interessant, diese Entführungsgeschichte!! Wo du diese Quellen immer findest, einfach Klasse! Bin schwer beeindruckt!

    Ciao,
    Katharina

  2. Hallo Katharina,
    Quellen finden, ich ….? Bin dabeigewesen. So habe ich in meiner kriminellen Jugend immer meinen Griechenlandurlaub finanziert!
    Theo

  3. Hallo Theo!

    Ist ja hochinteressant! Bin ebenfalls wieder mal beeindruckt über Deine Beiträge hier. Dass Richter keinen holländischen Käse bekam, war natürlich sehr tragisch, wenn man schon entführt wird, dann bitte doch mit Komfort, also wirklich!
    Viele Grüße!
    Ulli

  4. Du bist dabeigewesen? Irgendwie hatte ich dich jünger geschätzt 😉 Hast dich aber gut gehalten!!

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