Pyrgi und Henry Ford …

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Henry Ford soll über sein Ford T-Modell gesagt haben: “Den können Sie in jeder Farbe haben, solange sie schwarz ist!” In Pyrgi heißt das: “Ihr Haus können Sie in jeder Farbe haben, solange es schwarz-weiß ist …”
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Noch überlege ich, ob ich nun für den griechischen Ortsnamen Πυργί die Fassung Pirgi, Pyrgi oder Pyrghi verwenden soll … 🙂 …
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Es gibt zwei einzigartige Dinge, die diesen Ort auszeichen. Zum einen ist Pyrgi (ich bleibe mal bei dieser Version) der größte mastixproduzierende Ort der Insel Chios (darüber habe ich schon geschrieben auf der Seite Mastix für Methusalix) … und die Mastixerzeugung ist ja schon was weltweit einzigartiges …
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September in Pyrgi: Auf den Gassen sitzen die Frauen der Bauern und sortieren die Mastix-Reste aus dem zusammengefegten Herbstlaub.
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… zum anderen ist Pyrgi im architektonischen Erscheinungsbild so gestaltet wie kein anderer Ort in Griechenland … oder sonstwo in Europa.
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Pirgi hat nämlich ein rundum schwarz-weißes “Design”. Ja, gut, daß es hier keine Fußgängerüberwege gibt. Zebrastreifen würden hier niemandem auffallen …
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Daß auf Chios die Häuser in den Dörfern überhaupt verputzt sind, ist schon ungewöhnlich genug. Aber in Pyrgi war das bloße Verputzen den Bewohnern nicht gut genug. Die meisten Häuser in Pyrgi wurden also zweimal verputzt, erst schwarz, dann weiß, und dann wurde die zweite Schicht wieder teilweise runtergekratzt … ach, lassen wir das doch die Fachleute erklären:
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“In Pyrgi jedoch und an vereinzelten Beispielen in anderen Dörfern begegnet man einer Art von Fassadenverzierung, die auf dem gewöhnlichen Putz ausgeführt wird. Es handelt sich um den sogenannten ” Ξυστά ” (xystá = Kratzer), eine Besonderheit hinsichtlich der Technik und beeindruckend hinsichtlich des künstlerischen Endergebnisses der dekorativen Gestaltung, die in Griechenland einmalig ist.”
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“Über die ganze Höhe der Vorderfront und in aufeinanderfolgenden horizontalen Bändern entwickeln sich geometrische Formen in Schwarz und Weiß. Die Motive sind sehr einfach: Dreiecke, Rhomben, Kreise, Halbkreise, Fischgrätmuster. Die Technik basiert auf dem schwarzen Sand des Putzes, der, nachdem er sorgfältig übertüncht worden ist, nach einer Zeichnung eingeritzt wird. So entstehen die schwarzen Motive auf weißem Grund. Es handelt sich um ein dem italienischen Sgraffiti entsprechendes Verfahren. Die Ξυστά, die sich auf den Haus- und Kirchenwänden ausbreiten, verleihen Pyrgi schließlich ein ganz eigenartiges Aussehen.”
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Aus: Griechische Traditionelle Architektur: Chios
Charalambos Th. Bouras
Melissa-Verlag, Athen 1984
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Bouras verweist darauf, daß Pyrgi wahrscheinlich schon im 11. Jahrhundert gegründet wurde, und seit 1362 urkundlich bezeugt ist. Bouras glaubt, daß die Handwerker von Pyrgi ihre Kunst wohl schon seit der italienischen Renaissance-Zeit beherrschen. Aber erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde richtig großflächig gearbeitet. (Bouras: “Xysta-Sgraffiti in der anonymen Architektur von Chios“, Wiss. Jahrbuch der Polytechnischen Fakultät der Aristoteles Universität Thessaloniki 1970). Pyrgi hat um diese Zeit auch seinen Festungscharakter verloren. Die oberen Teile des Festungsturms und die Mauern fielen, mehrstöckige Bauten wurden an gerade ausgerichteten Straßen neu errichtet. Die alten kleinen Kirchen, die im Mittelalter im städtebaulichen Gefüge nicht hervortraten, verschwinden nun fast im Erscheinungsbild. Die Kirchen, die heutzutage die Häuser überragen, sind aller aus neuerer Zeit.
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Von der strengen und schlichten Geometrie wird nur selten abgegangen, hin und wieder werden komplizierte Elemente in ornamentalen Bändern und Kreisen kombiniert. Zum Glück geht nur ganz selten einem der Putz-Artisten die Phantasie durch, wenn er tatsächlich mal gegenständlich (!) arbeitet:
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Ob das Herakles und der Löwe von Nemea ist? Aber Herakles hat den Löwen ja erwürgt, nicht aufgespießt. Vielleicht ist es eine Selbstdarstellung des Künstlers, die zeigt, wie er den mächtigen Löwen des Konformismus bekämpft ..
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Übrigens findet sich bei Bouras ein altes Luftbild von Pyrgi von 1934. Ich habe das letzte Google-Earth-Satellitenbild von 2006 dagegen gehalten. Mit Erstaunen habe ich festgestellt, daß der Neubaubereich, der seit 1985 zwischen dem alten Siedlungskern und dem Bereich der Umgehungsstraße gewachsen ist, gar nicht so groß ist! In meiner Erinnerung an meinen Besuch von 1985 sehe ich da überall nur grüne Auen und Mastixbaumreihen, aber das ist wohl eher nostalgisches Wunschdenken …
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Bouras: “Zur Straßenseite hin wurde das Widerlager oft durch die charakteristischen Aussteifungsbögen gesichert (gewöhnlich Rundbögen, in Pyrgi leicht zugespitzt), oder durch die Schaffung von mit Gewölben überspannten Zimmern über der Straße.” (s.o.)
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Ich denke auch immer noch an die Bauern auf rostigen Dreirädern und fleißigen Vierbeinern. (Bouras: “Die Straßenbreite wie auch die Höhe des Bogens, der sie überspannen kann, hat sich an den Mindestabmessungen eines beladenen Maultieres mit seinem Reiter ergeben, sie überschreiten selten 2,5 Meter.”) Von den Vierbeinern ist tatsächlich nicht viel geblieben. Ein einziger Sattel war in Pyrgi vor einer “Maultiergarage” geparkt, aber in Bewegung habe ich 2011 nicht einen einzigen dieser Grünfuttermotoren gesehen …
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Und die Tomaten, die in Pyrgi früher überall zum Trocknen an den Wänden hingen …
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Mal ist es noch ein richtiger Wintervorrat, manchmal reicht heute schon ein kleines Bündel neben dem Küchenfenster.
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… die waren im Jahr 2011 auch ganz selten zu finden. 1985 hatte ich um die gleiche Jahreszeit, Ende September, Tomaten ohne Ende an den Wänden gesehen.
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Hier gibt es sowieso keine roten Tomaten, höchstens rote Zahlen …
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Auch Nigel McGilchrist staunt in seinem Chios-Reiseführer von 2010: “Although xysta is found elsewhere in the villages, nowhere has it reached a comparable complexity und ubiquity as in Pyrgi.” Ja, den Xysta-Kratzputz findet man in Pyrgi wirklich auf jedem freien Fleckchen. Alles unterwirft sich dem Schwarz-Weiß-Diktat, ob es nun Tankstelle, Kirche oder Bankfiliale ist.
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