Diokaisareia, eine Zeitreise

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Diokaisareia Tor
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Uzuncaburç, mitten im Dorf, die Reste des antiken Prunktors von Diokaisareia (Διοκαισάρεια).
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Das Schönste am Reisen ist doch die Überraschung. Mal das Ziel verfehlen, und ganz woanders als geplant ankommen …
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Taurus Gebirge
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Die Taurusgebirgskette, vom Bus aus. April 1987. Hier ist noch Winter.
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Wir sitzen im türkischen Fernbus. Von Kappadokien aus quer durch das noch winterliche Taurus-Gebirge Richtung Mersin. Dort umsteigen nach Antakya. Wir wollen nach Samandağ, dem letzten türkischen Städtchen kurz vor der syrischen Grenze. (Samandağ, der Ortsname stammt schon aus dem Arabischen: Simeonsberg.) Wir haben gelesen, daß da zum größten Teil alawitisch-arabischstämmige Leute wohnen. Alawiten, genau, die, die nichts gegen Alkohol haben und bei denen die Frauen weit mehr Rechte haben als im Rest der muslimischen Welt. Samandağ hat Sandstrände und antike Reliquien, das Simeons-Kloster auf dem Berg, bei Antakya die Kreuzritterburg und die St. Peters-Grotte, die angeblich älteste christliche Kirche! Die hätte noch ein gewisser Paulus gegründet, damals, verlautet aus dem Vatikan. Zuhause klang das nach einem lohnenden Reiseziel.
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Adana Sesam
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Noch zwei Sesamkringel, und dann zügig weiter nach Südosten:
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Antakya Bus
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Quer durch die Cukurova! Ja, die Landschaft aus Yasar Kemals Büchern! In Antakya (Hatay) steigen wir um in den Dolmus. Gleich zwei auf einmal fahren nach Samandağ! Die heutige Landstraße (D420) existiert noch nicht. Es geht über ausgewaschene Schotterpisten, querfeldein über die ebenen Felsplatten eines ausgetrockneten Flußbetts. Und die Fahrer der vollgestopften Kleinbusse fahren Rallye. Solange, bis in unserem Bus eine Frau (in städtisch-elegantem Outfit) den Fahrer heftig zusammenschnauzt (es klingt echt bedrohlich, er resigniert, gibt das Rennen auf).
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Ja, es gibt so etwas wie ein Hotel in Samandağ. Einer der Fahrgäste greift einen kleinen Jungen auf der Straße auf, der uns hinbringt. Ich will dem Jungen ein paar Lira zur Belohnung geben, er verweigert energisch die Annahme. Das „Hotel“ belegt die erste Etage über einer Art Speditionshof, winzige Räume ohne Heizung, aus rohem Holz zusammengeschusterte Betten, die Tür hält ein krummer Nagel, die (Steh-)Toiletten noch schlimmer als gewohnt. Immer die Literflasche Rosenparfüm in der Hand. Wir sitzen im Hotel-Restaurant beim Abendessen, um uns einzelne Paare, die Dame immer in städtisch-elegantem Outfit. Der Blick meiner Begleiterin wird unruhig: Das ist hier ein Bordell, und wir haben nicht mal einen Zimmerschlüssel … hast du gesehen, diese Paare kommen nie gemeinsam her, nehmen nur schnell ein Efes und  ‘ne Cola, und verschwinden dann zusammen Richtung Zimmertrakt …! Und ich als Frau will jetzt sofort hier weg, sofort! Wir bezahlen das noch fast unangerührte Essen und auch das Zimmer, und weg sind wir.
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Kein Bus vor morgen früh, hören wir. Falsche Frage. Und ein Taxi nach Antakya? Schlecht, im türkischen Fernsehen beginnt gerade ein wichtiges Fußballspiel. Der Taxifahrer fährt zähneknirschend  und noch verbissener und schneller als vorher der Busfahrer. 25 Kilometer Zeit, um intensiv zu Allah zu beten. Der Fahrer bremst in Antakya vor dem erstbesten „Hotel“-Schild … da, aussteigen, fertig.
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Zimmer? Ja. Pässe? Hier. Zweiter Versuch zum Abendessen, nebenan. Der Wirt ist Araber, und hier schmeckt es auch deutlich arabisch, Sesam, Koriander, eine vulkanische Eruptionsschicht Rosenpaprika auf dem Huhn. Aber Wein muß das Personal erst nebenan einkaufen, und es gibt nur ein einziges Weinglas im Restaurant. Egal, mir schmeckt es zur Not auch aus dem Zahnputzglas. Unser Zimmer ist durch eine hauchdünne, schief eingehängte Tür vom Nebenraum getrennt, und da schnarcht und röchelt die ganze Nacht ein Asthmakranker.
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Ticket Silifke
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Wir wollen nichts mehr wissen vom Alawitenland und von seinen einsamen Stränden. Der Fernbus nimmt uns morgens mit nach Adana, und von dort geht es nach Silifke. Vorbei an unendlichen Reihen von Apartmenthäusern im Rohbau. Wegen der türkischen Inflation investiert jeder in Beton. In Tasucu warten die Strände des sonnenbeschienenen Ak Deniz auf uns. Nur, leider ist es viel zu kalt zum Baden. Der Hotelbesitzer bedauert uns. Und die Mädcheninsel und den Rest kennen wir auch schon? Hm, aber da sei noch ein Ort in den Bergen, 30 Kilometer nach Norden, 1200 Meter hoch, da sei was zu sehen: Uzuncaburç! Was genau da zu sehen sei, wußte er auch nicht. Jedenfalls, zwei-, dreimal am Tag führe ab Silifke ein Kleinbus.
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Karte Silifke
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Wir warten auf den Bus an der Brücke des Göksu. Das ist der Fluß, in dem Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) im Juni 1190 beim Kreuzzug ertrunken ist. Der vom Schmelzwasser aufgewirbelte Fluß, der unter uns Richtung Meer schießt, wirkt atemberaubend. Den durchschwimmt heute keiner, auch kein 68jähriger Staufer-Kaiser im göttlichen Auftrag.
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Göksu
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Barbarossa Göksu
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Aus der Sächsischen Weltchronik von 1280: Barbarossa ertrinkt, aber die Krone hat er noch auf dem Kopf …
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Die Fahrt hinauf auf die Höhe ist ebenso atemberaubend. Fast niemand im Minibus. Ein einsames Hochtal mit scharfen Serpentinen und Ziegen in Steilwänden. Ob wir heute nachmittag noch einen Bus zurück kriegen? Der Fahrer nickt, aber wahrscheinlich versteht er mich überhaupt nicht, und auch nicht meine Pantomime: Hier Uhr, da Bus, da Silifke …
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Die Wolken verziehen sich, die Sonne brennt, trotz der Morgenkälte. Das Bergdorf ist arm, hat etwa 1500 Einwohner, die Getreide und Kichererbsen anbauen, sogar Weintrauben, und Schafe und Ziegen halten. Eine Schule gibt es, eine Polizeistation, aber ein Café oder einen offenen Laden finden wir nicht. Aber alles ist unwirklich sauber für ein Bergbauerndorf (gibt es eine türkische Kehrwoche?), und zwischen den dürftigen, aus Resten zusammengeflickten Bauernhäuschen stehen sie einfach so herum, die Reste der Antike. Wiederentdeckt hat sie 1854 der russische Geograph Piotr von Tchihatcheff.
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Und … ist das ab hier nicht wie in Griechenland? Niemand kann den fünfstöckigen hellenistischen Wohn- und Wehrturm übersehen, der 23 Jahrhunderte lang Erdbeben, Krisen und Kriege überstanden hat. Naja, etwas lose sitzen die Mauersteine inzwischen schon:
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Hellenistischer Wachturm
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Und hier der Zeus-Olbios-Tempel. Die Gegend um die Dorfgemeinschaft von Olba (heute Ura) und Diokaisareia (heute Uzuncaburç) wurde von einer Priesterdynastie beherrscht. Erst im ersten Jahrhundert n.Chr. verlor sie ihre Macht an die römische Provinz Cilicia. Ein großer Teil der antiken Relikte im Dorf Uzuncaburç stammt aus dieser römischen Kaiserzeit. Das Dorf wurde später christlich und war bis zum 7. Jahrhundert Bischofssitz. Wie so oft anderswo, wurde der Zeus-Tempel zur byzantinischen Kirche umgebaut (21×39 Meter Grundfläche). Allerdings benutzte man den Bau vorher als Steinbruch. Von den hinzugefügten Mauern findet man heute noch kaum etwas. Es ist umstritten, wann der Zeus-Tempel begründet wurde, es könnte schon im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. gewesen sein:
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Zeus Olbios Tempel
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Hier das Nordtor (1. Jahrhundert n.Chr., römisch):
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Diokaisareia Nordtor
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Um die Säulen herum bestellen die Bauern ihre Felder. Unten der Tempel der Tyche (τύχη). Die Säulen mit korinthischen Kapitellen sind aus Granit. Tyche, Tochter des Zeus, war die Göttin des Schicksals, und Stadtgöttin in Antiocheia (Antakya!). Da kamen wir ja gerade her, und Tyche ist eine wohlwollende Göttin. Efcharisto poli also:
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Tyche Tempel
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Hier das antike Theater, in dessen obere Empore ein Bauernhaus eingepaßt ist:
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Diokaisareia Theater
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Und es ist so atemberaubend still hier! Doch halt, da drüben sitzt eine Frau und bietet ihre selbstbestickten Tücher zum Verkauf an. Und nicht nur das, sie hält uns zwei Tickets unter die Nase. Ja, das Dorf ist eintrittspflichtig, und die Frau ist die lizensierte Aufseherin. Sie kann sich ausweisen:
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Uzuncaburc Aufsicht
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Ja, Einsatz im öffentlichen Dienst, aber mit Kopftuch .. 🙂 …! Oh, Kemal Atatürk, gut, daß du das nicht siehst! Freundin Christa ist begeistert von den Tüchern, läßt sich mehrsprachig und pantomimisch erklären, welches Tuch mit welchem Spitzenrand man zu welchem Anlaß tragen muß, welches zu welchem Familienstand paßt. Am Ende kauft sie einen ganzen Stapel, auch Tücher, die nicht zu ihrem Familienstand passen …
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Und wo sind die Kinder? Man kann doch durch kein türkisches Bergdorf laufen, ohne daß einem eine ganze Schar schwatzend und lachend hinterher läuft! Sie sind zum Glück ganztägig in der Schule. Gerade ist Pause, und es sind Spiele und gymnastische Übungen angesagt. Klar, wir lenken die Kinder sofort ab. Der Lehrer kommt unverzüglich zu uns, bittet uns in vorzüglichem Englisch, die Kinder nicht zu stören. Und wir mögen ihn entschuldigen, er freue sich über Besuch und er würde sich sehr gerne mit uns unterhalten, aber er habe die Pausenaufsicht, und er werde beobachtet. Die Polizeistation ist gleich neben dem Schulhof, ein bewaffneter Uniformierter schaut zu uns herüber.
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Uzuncaburc Schule
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Wenden wir uns statt den Kindern lieber den Toten zu. Das Dorf ist umgeben von umfangreichen antiken Nekropolen, die zwischen dem 1. und 4. Jahrhundert n.Chr. entstanden und meist in die felsigen Hügel hineingehauen sind:
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Diokaisareia Nekropole
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Aber man muß das Dorf gar nicht verlassen. Antike Sarkophage stehen ja einfach so herum. Hier am Nordtor zum Beispiel:
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Sarkophag
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Viele der Fundstücke kann ich auch funktionsmäßig nicht zuordnen. Woher kommt diese Szene mit Wildschwein und Berglöwe?
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Relief Loewe Schwein
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Man müßte die alten Bauernhäuser mal auseinandernehmen. Sie scheinen ja zu einem großen Teil aus historischen Bruchstücken zusammengesetzt zu sein. Wie viele antike Fundstücke würde man da wohl finden?
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Türkisches Bauernhaus
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So manches Haus ist ja bereits skelettiert. Dort hängt noch der Kamin in der Luft. Aber bei wie vielen Bauklötzen mag deren Reliefseite diskret abgewandt im Boden stecken?
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Uzuncaburc Ruine
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Google Earth Uzuncaburc
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Zur Orientierung, das Zentrum des alten Diokaisareia vom Satelliten gesehen. Links der Zeus Olbios Tempel, oben rechts das Theater.
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Aber es kommt immer eine neue Zeit. Wenn sie hier auch langsamer ankommt als in den Städten. Man baute 1987 gerade das neue Dorfzentrum. Wird heute bestimmt auch ein touristentaugliches Café drin sein:
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Dorfzentrum Uzuncaburc
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Ich kann mich nicht erinnern, wer uns am späten Nachmittag versichert hatte, es käme heute definitiv kein Bus mehr. Und 30 Kilometer bergab zu Fuß war etwas zu viel. Kein Tourist im Dorf, kein Auto zum Trampen. Doch wir hatten Glück. Ein Lada-Taxi taucht auf, ein Typ in Lederjacke mit riesiger Foto-Tasche steigt aus. Der Taxifahrer soll eigentlich zwei Stunden hier auf ihn warten. Aber in der Zeit kann er uns ja auch nach Silifke fahren und noch einmal heraufkommen. Abgemacht! Wir wünschen dem Neuangekommenen gute Bilder. Wie der kleine Junge in mein eigenes Bild gekommen ist, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, der Blütenzweig in seiner Hand war ein Gastgeschenk:
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Taxi Lada
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Noch heute lese ich über Uzuncaburç: „Although touristic potential is great at the present tourism plays no important role in the economy of the town.“ (Wikipedia, 17.09.2013) Ja, das touristische Potential ist groß, aber auch heute kennt kaum einer den Ort.
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Die Uni in Rostock untersuchte vor kurzem die antiken Stätten bei Uzuncaburç. Teilweise sind die Arbeiten (in schnellverdaulicher Form) im Netz:
https://www.phf.uni-rostock.de/fkw/iaw/diokaisareia/index.htm
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Abweichender NACHTRAG: Wenn Sie mal in die Geräuschkulisse von Samandağ oder Antakya reinhören wollen … hier gibt es z.B. ein Froschkonzert, einen Hochzeits-Autokorso, einen Muezzin, eine Hochspannungsleitung. Sehr aufschlußreich … 🙂 … und die Allgemeinbildung fördernd, wie YouTube ohne Bilder:
http://www.antakya.tv/de/sightseeingSoundscape.php
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Und von Tasucu kommen Sie gut per Boot nach Nord-Zypern (Girne/Kyrenia). Wir waren rein zufällig da ja auch hingekommen, allerdings ab Mersin nach Famagusta (das dauert wesentlich länger):
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WEITER ZU  NORDZYPERN OHNE GRIECHEN 1 (von 3)
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Murrays Asia Minor 189526.01.2014  NACHTRAG: Im 19. Jahrhundert waren die englischen Reisehandbücher den deutschen oft voraus (wenn es nicht um Mitteleuropa ging). 1895 hat Murray’s Handbook „Asia Minor, Transcaucasia, Persia“ schon alle wichtige Informationen über die Umgegend der hinter Silifke in den Taurus hineinführenden Straße. Vor der Straße selbst wird gewarnt, ihr Baubeginn sei zwar erst um 1885 gewesen, aber sie sei schon arg reparaturbedürftig, und an vielen Stellen von einächsigen Personenwagen („araba“) schon nicht mehr befahrbar. In Straßennähe finde man Reste des Aquädukts von Diocaesarea. (Baedekers „Konstantinopel und Kleinasien“ von 1905 ignoriert den Osten Kleinasiens komplett.)
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Auf der Route 63 (Ak Liman = Tasucu bis Karaman, S. 182f.) finden sich in Murray’s Handbook alle wichtigen Punkte erwähnt, die das Dorf „Uzunjaburj“ bietet: Wehrturm, Theater, Tempel, Tor, Gräber. Sechs Stunden brauche man per Pferd von der Küste aus. Und der Kykladenforscher J. Th. Bent (siehe Seite: Kykladen 1885) war 1890 auch schon da!
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Seite 183: „Most travellers will prefer to turn off the road at a point about 5 hrs. from Selefke, so as to see the magnificent ruins of Olba at Uzunjaburj (…), the ruins are situated about 3 miles off the road, but hidden in the hills. This detour is often made by native travelers, as there are good wells at Uzunjaburj (…).
These great ruins, first discovered by Tchihatcheff, were visited by Mr. J.T. Bent, in the spring of 1890; the British Expedition of that summer also visited them.
The most conspicuous object of the site is a tower about 60 ft. high E. of the city; an inscription on it records its erection in the time of Teucer (probably 50-20 B.C.). W. are heaps of formless ruins marking the inhabited part of the city, and at the extreme W. end of the plateau are the public buildings. First a very perfect theatre, restored in the times of Marcus Aurelius, is seen on the hill-side N. Then six fine Corinthian columns are all that are standing of a colonnade, leading apparently to the great Temple, probably that of the Olbian Zeus, which is the most conspicuous object, next to the Tower, on the site. This temple is hexastyle of the Corinthian order, and of Roman construction. In later times it has been transformed into a church. S. of this are large remains of a building, whose character is not clear. W. is the elegant façade of a hexastyle Temple of Fortune; and N. a great triple gate, which perhaps gave access to the Agora. In the cliffs N. of the site are innumerable tombs, many inscribed.”
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