Psiloritis-Massiv: Särge und Berge (1)

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Der Bürgermeister von Anogia, im Jahre 2048. Hier nach Schulschluß am 12.01.2018.
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Raus aus Iraklio. Schon bald, nachdem wir die Schnellstraße Richtung Süden gegen die Landstraße nach Anogia getauscht hatten, treffen wir auf die erste Beerdigung. Keine Ahnung, wie das Dorf hieß, die Straße war schon vor der Dorfgrenze links und rechts mit Autos zugestellt, zwischen denen die Trauergäste in Richtung der Kirche strömten. Dort war eine Reihe von knallbunten Blumengebinden aufgereiht.
Offenbar war jemand gestorben, der eine gewisse lokale Prominenz hatte. Es war Millimeterarbeit für unsere „erste Pilotin“ auf dem schmalen freigebliebenen Rest der Straße. Vorbei im Schritt-Tempo an schräg eingeparkten fetten Pickups, herausragenden Rückspiegeln, schwarzvermummten älteren Damen. Ungezählte ältere Männer mit verwitterten Gesichtern. Dazu noch Gegenverkehr auf der Suche nach der allerletzten Parklücke.
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Anogia
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Ein schlechtes Omen, dem gleich in Anogia noch eine zweite Beerdigung folgen sollte. Ein 44jähriger Mann wurde betrauert. Was ist los mit der kretischen Diät, die alle hundert Jahre alt werden läßt?
Etwas weniger Publikum um den Leichenwagen, aber genug, um die Hauptstraße komplett zu blockieren. In griechische Kirchen passen ja bei besonderen Gelegenheiten keine zehn Prozent der zum Gottesdienst Versammelten.
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In der nächsten Nacht ein donnerndes Gewitter über Rethymno. Zeus hatte schlechte Laune. Schlechtes Omen Nummer drei …
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Anogia. Erwarten Sie kein romantisch umflortes Bergdorf mit traditioneller Architektur. Dafür hat die deutsche Wehrmacht im zweiten Weltkrieg gesorgt. Nach verschiedenen Zwischenfällen wurde der widerspenstige Partisanenstützpunkt komplett zerstört, alle Männer, die man im Umkreis des Dorfes finden konnte, wurden hingerichtet. (Auch 1822 und 1867 passierte das gleiche beim Aufstand gegen die osmanische Herrschaft.)
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Der Wortlaut des Befehls des deutschen Kommandanten auf dem Ehrenmal.
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Die Opferliste der Besatzungszeit von 1941-1944.
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IMG_9498_A300Das Stadtbild war zerstört. Die kretischen Traditionen haben sich trotzdem erhalten. Anogia ist immer noch berühmt für seine Musik (z.B. Nikos Xylouris), und Widerstand gegen die Staatsgewalt gibt es immer noch.
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Es ist nicht lange her, daß eine Polizistenpatrouille vor dem ebenso berüchtigten Nachbardorf Zoniana in einen Hinterhalt geriet. Mehrere Verletzte. Ein junger Polizist ist seitdem querschnittsgelähmt. Wer hier vielleicht eine Cannabis-Plantage suchen will, kommt besser nicht nur mit einem Kollegen in einem einzelnen Streifenwagen …
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„Nach der Verhaftung eines aus Zoniana stammenden Drogendealers am 2. November 2007 in Rethymno wurde am 5. November eine Spezialeinheit der griechischen Polizei (EKAM) vom Festland zu Durchsuchungen nach Zoniana geschickt. Der Wagenkolonne wurde aus dem Hinterhalt aufgelauert, und die Fahrzeuge wurden von geschätzten zwanzig Schützen unter Beschuss genommen, wobei drei Polizisten verletzt wurden, einer davon schwer.

Bei der auf den Zwischenfall folgenden Durchsuchung des Dorfes und der Umgebung zwei Tage später durch eine etwa 400 Mann starke schwer bewaffnete Spezialeinheit, die nun mit gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern vorrückte, wurden zuerst im Dorf nur noch Frauen, Kinder und alte Männer angetroffen. Es wurden zahlreiche Marihuana-Pflanzen entdeckt und vernichtet sowie illegale Waffen gefunden. Später wurden einige Männer aufgegriffen und als Verdächtige verhaftet, bei den Bewohnern stieß die Polizei anfangs auf eine Mauer des Schweigens.“ (wikipedia)
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Das ist nicht das Untersuchungsgefängnis von Anogia. Obwohl es so aussieht.
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Die Wintersonne strahlte mittags ins Dorf. Da sitzt man doch gerne vor dem Parteibüro vor einem Kaffee. Unser Blick richtete sich eher nach Süden, auf das Psiloritis-Massiv, das gerade die Winterwolken von sich schob:
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Wir hatten intensiv darauf gehofft, daß der Weg zur Nida-Hochebene frei war. Das ist bei einer Paßstraßenhöhe von mehr als 1200 Metern im Januar nicht selbstverständlich. Auch weil dort niemand wohnt, wird nie die Straße geräumt.
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Wir hatten natürlich vorher auch die Karte studiert. Es führt ein Weg von Anogia nach Gergeri im Süden des Psiloritis-Massivs. Wenn man von Norden kommt, ist zunächst die Straße bis zur Hochebene asphaltiert. Hier – auf dem Weg zur Nida – der Abzweig nach Süden:
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Nach drei Kilometern teilt sich die Straße, links geht es hinauf zum Skinakas-Observatorium.
Von Gergeri schwingt sich eine steile Serpentinenstrecke hinauf auf die Höhe von 1200 Metern. Auf 9 Kilometern Strecke 700 Meter Höhenunterschied. Das würden wir später noch versuchen (siehe Teil 2).
Aber zwischen den beiden asphaltierten Endpunkten erstreckt sich eine 11 Kilometer lange Schotterstrecke. Für die war unser Wagen (der gleiche Fiat Bravo, den wir vor 2 Jahren schon hatten – geringer Bodenabstand, Sommerreifen) im Winter definitiv nicht geeignet. Der höchste Punkt der Piste liegt bei 1500 Metern.
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Also hinunter zur Nida-Hochebene, wo die Straße an einem großen Parkplatz endet. Dort steht ein halbfertiger touristischer Multifunktionsbau, dessen Bild ich Ihnen hier ersparen will. Es ist der Ausgangspunkt für Wanderungen ins Hochgebirge (höchster Gipfel ist der Timios Stavros, 2456 Meter).
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Erstaunlich ist das Wintergrün der Hochebene, die im Sommer als Alm beweidet wird. (Der Schriftsteller Erhart Kästner war hier oben im zweiten Weltkrieg. Damals wurde der Almbetrieb von der Besatzung verboten, da die Partisanen davon profitierten.
Sanitätsoffizier Kästner kam mit der griechischen Landpolizei und zahlreichen Hirten mit 30 Maultieren, um die letzten auf den Almen hergestellten Käse-Vorräte abzuholen, und wohl zu beschlagnahmen …)
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IMG_9528_A300Ressentiments gegen die ehemaligen Weltkriegsgegner findet man auf Kreta heute nicht. Auch nicht in Anogia. Aber man kann ja auch anders an Reparationsgewinne kommen. Auch in Anogia.
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Einen Kilometer ortsauswärts findet man das „Delina Mountain Resort“. Mit Whirlpool und Ententeich. Dort habe ich im hoteleigenen Kafeneion das teuerste Bier meines Lebens getrunken. (0,33 Liter für 6,50 Euro. Ja, Literpreis 19,50 … das treibt selbst Wiesnwirten die Tränen in die Augen.)
Dazu ein Tellerchen mit einer winzigzähen* Portion Loukanio (5 Euro, keine Beilagen).
IMG_9529_A300Das Bier war offenbar von einer hellenic craft brewery (haha …) produziert und stand nicht auf der Getränkekarte. Da stand: 0,5 Liter Mythos für 4,50 = Literpreis 9 Euro. Aber das war ausverkauft, behauptete der Kellner.
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Mehr als die Hälfte von der Miege kriegte ich nicht runter. (Miege = im Ruhrgebiet Begriff für ungenießbare oder abgestandene Getränke)
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Die Wurst war auch nicht besser. Vor dem Bezahlen hat der Kellner mit dem Holzofen noch versucht, uns mit einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung zu erledigen. Aber das hat auch nicht geklappt …
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* Und entschuldigen Sie, wenn ich Begriffe wie „winzigzähe Portion“ erfinde. Ich habe zuletzt zu viel Erhart Kästner gelesen, und der ist ganz groß in der Synthese von Eigenschaftswortpaaren.
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