Fahrradreise durch den Balkan – 1909 Teil 2

Wieder trotzt Sokolowsky dem Radfahrer-Bund, der einheimische Ziele empfiehlt …

< ZURÜCK ZU: FAHRRADREISE DURCH DEN BALKAN – TEIL 1

Zweite Fahrrad-Reise 1909 – Bulgarien und Konstantinopel

Diesmal geht es quer durch Bulgarien bis nach Istanbul/Konstantinopel. An der serbisch-bulgarischen Grenze halten ihn die Grenzbeamten auf. Sokolowsky soll sein Rad verzollen, sonst würde das Rad beschlagnahmt. Es kostet ihn ein ordentliches „Trinkgeld“, aus der Sache herauszukommen. Dafür kriegt er den Tipp, er solle bei der Reise sein Fortbewegungsmittel zukünftig als „Bagage“ deklarieren, damit er nicht als Fahrradhändler taxiert wird.

Das hätte vielleicht geholfen. Wenn die Grenzkarte anerkannt wurde …

Sokolowsky staunt, daß er diesmal sogar viele Radfahrer findet, besonders in den Städten:
„Im Gegensatz zu Serbien, wo ich im Vorjahre nur in einer Stadt einige Radfahrer gefunden und wo man in manchen Gegenden noch nie ein Fahrrad gesehen hatte, traf ich in Bulgarien in allen Städten und auch in vielen Dörfern Radfahrer an.“
Das ist günstig, denn es gibt auch manche Werkstatt, die Reparaturen durchführt und Ersatzteile führt. In Varna findet sogar ein Fahrrad-Wettrennen statt!

Was braucht man denn so alles als Radfahrer und was mag es kosten? Beim damaligen amazon-Vorgänger war es ja offenbar recht preisgünstig. (Ein Glas Bier in einer Leipziger Eckkneipe kostete um die 20 Pfennig …)
Helme? Helme gab es wohl keine …

Einen Helm …? Wofür das denn?

Doch die Straßenverhältnisse außerhalb der Orte sind schlecht in Bulgarien. Oft schiebt Sokolowsky sein Fahrrad kilometerlang durch verschlammte Wege:
„(…) die Straße, die die Bezeichnung ‚Kunststraße‘ nur insofern verdiente, als es eine Kunst war, in ihr überhaupt eine Straße zu erkennen.“

Ich staune auch! Was der Reisende nicht so alles mitführt auf dem Rad: Werkzeug und Ersatzteile, um ein defektes Pedal und Reifen zu reparieren, der übliche Reisebedarf – nicht nur die eigene Zahnbürste … 🙂 – und Ersatzkleidung, eine Plattenkamera (nein, keine Kodak-Box mit Rollfilm), einen Kasten mit Glasnegativen, die er, wenn möglich, schon unterwegs entwickelt.

Das führt häufig zu Schwierigkeiten. Einmal hat er in einem Gasthof ein fensterloses Zimmer gefunden, um im Dunkeln die belichteten Platten zu bearbeiten, da reißt der Wirt die Tür auf und bringt eine Lampe ins Zimmer. Er will ja nur helfen, aber die Fotos des Tages sind zerstört.

Leider hat Sokolowsky sich nie selbst fotografiert, dafür aber häufig die Gäste in den Lokalen, die gerne für ihn posieren.
„Jetzt war ich mit dem Essen fertig und holte meine Kamera hervor, um die Gesellschaft vor dem Gebäude aufzunehmen, was große Begeisterung hervorrief. Wie harmlose Kinder erschienen mir die teils schon graubärtigen Männer. Jeder wollte sogleich das eben fertige Bild sehen, und es kostete keine geringe Mühe, um ihnen klarzumachen, daß sich das nicht ermöglichen lasse.“

Er verspricht ihnen, Abzüge zu schicken (tut er auch), und sie wollen gleich im voraus bezahlen (was er ablehnt). Nebenbei: Die beiden Bände des Reiseberichts enthalten
zahlreiche kleinformatige Fotos, aber die Qualität ist mäßig. Viele Glasnegative werden unterwegs auch beschädigt oder zerstört.

Die durchreisenden Gäste in den Dorfgasthöfen sind – im Gegensatz zu den Einheimischen – oft abgearbeitet, griesgrämig, wortkarg und müde. Sie reisen ja nicht zum Vergnügen. Sokolowskys Versuch, sie bulgarisch anzusprechen, ist oft erfolglos. Die Fuhrleute verstecken ihren Wagen im Hof, versorgen ihre Pferde und verschlingen Unmengen an Essen (oft zwei Pfund Fleisch und drei Pfund Brot pro Person), wickeln sich danach in ihren Mantel und schlafen in der Gaststube, auf der Bank, wo sie soeben gegessen haben, oder auf dem Boden.

Daß Sokolowsky einen Revolver mit sich führt, lassen die Grenzbeamten durchgehen.
Die Waffe braucht er auch. Warum? Die freilaufenden Hunde sind nicht besser als in Griechenland:
„Da stürmten aus einem Gehöft drei große wolfsähnliche Hunde unter wütendem Gebell auf mich zu. Herankommen lassen durfte ich diese Tiere nicht, denn ich hatte ihre Gefährlichkeit, wenn ihr Besitzer sie nicht zügeln kann, schon kennen gelernt. (…) Ich zog deshalb meinen Revolver und schoß nach den Hunden, als sie noch 20 Schritte entfernt waren. Einer war am Hinterbein getroffen und zog hinkend und heulend ab. Die anderen beiden hielten es nun doch für geraten, von mir abzulassen.“

Aber es gibt noch ganz andere Belästigungen aus der Tierwelt. In Gabrovo:
„Als ich mich zur Ruhe begab, fiel mir auf, daß die vier Füße meines Bettes in Wasserbehältern standen. Auf meine Frage nach dem Grunde antwortete der Momak (Hausbursche): ‚Das ist gegen die Drvenitzi (Wanzen). Auber das hilft auch nicht. Sie kriechen an der Wand hoch und lassen sich von der Decke auf das Bett niederfallen.“

Oder das (in Stara Zagora): „Bisher hatte ich Wanzen nur vereinzelt gefunden. (…) Vorsichtshalber schlief ich stets völlig entkleidet, um wenigstens meine Leibwäsche nicht mit diesem sechsbeinigen Gesindel zu ‚infizieren‘. Ruhe hatte ich jetzt nur unvollkommen (S. hat großzügig Insektenpulver im Bett verstreut.), aber ich schlief doch. Als ich morgens mein gelbbestaubtes Bett ansah, zählte ich allein 114 Stück getöteter großer Tiere neben kleineren und allerkleinsten, dazu noch ungefähr 30 lebend umherkriechende. Als ich darauf noch das Kopfkissen emporhob, wimmelte es unter diesem noch von ganzen Nestern, die von der Wirkung des Pulvers unbehelligt geblieben waren.“

Das kann einem schon das Reisevergnügen verderben …

Sokolowsky rollt weiter bis zur bulgarisch-türkischen Grenze. Er läßt Rad und Gepäck am Bahnhof von Mustapha Pascha zurück und fährt mit dem Nachtzug über Edirne (Adrianopel) nach Konstantinopel. Hier bleibt er mehrere Tage und geht die übliche touristische Besichtigungsroutine durch. Er ist tags und nachts unterwegs, verbringt einige Zeit auf der anatolischen Seite, in Brussa, es gefällt ihm sehr, aber das muß man hier nicht detailliert wiedergeben.

Nur ein kleines Erlebnis soll nicht fehlen – eins, das andere Reisende sonst verschweigen würden: „Der herrliche Abend war mir zu schade, um schon mein Nachtlager aufzusuchen, und ich wanderte deshalb noch in den engen Straßen umher, die sich zwischen der Großen Galatastraße und dem Bosporus hinziehen. Hier befinden sich zahlreiche Matrosenkneipen, in denen die Seeleute wohl den Trunk und auch die – Liebe pflegen. Vor einer wenig einladend aussehenden Schenke stand eine Griechin vor dem Eingang, die als einzige Bekleidung nur einen ziemlich durchsichtigen Umhang umgenommen hatte. Als einige Seeleute vorübergehen wollten, lüftete sie den Umhang nach beiden Seiten hin und zeigte ihren vollständig nackten Körper, was die beiden veranlaßte, der Lockung zu folgen und mit der neuzeitlichen Aphrodite im Eingang zu verschwinden.“
Woher Sokolowsky wußte, daß die Dame Griechin war, wollen wir gar nicht wissen … 🙂

Im Grenzbahnhof kann er sein Rad und sein Gepäck aus dem Gepäckraum holen. Sein letztes türkisches Geld, 18-20 Piaster, verschenkt er an die Grenzsoldaten. Nun ist ihm nach echten sportlichen Erfolgen. Jetzt, im Juni, liegt noch Schnee auf den Höhen der Rhodope-Gebirgskette, aber diesmal ist er wild entschlossen, das Rila-Kloster zu erreichen. Oft genug muß er zuerst sein Rad und dann sein Gepäck durch Schneefelder tragen. Eine so schwierige Wanderung hat er noch nie erlebt, aber er kommt tatsächlich an.

Rila-Kloster 1990, links der alte Turm. (Wir kamen ohne Fahrrad …)

Das Rilakloster ist das religiöse Nationalheiligtum der Bulgaren und es war durch die Jahrhunderte ein umkämpftes Kriegsziel. Zuletzt waren 50 Soldaten und Gendarme im Kloster stationiert: „Das jetzige Klostergebäude entstammt erst neuerer Zeit, da die alten Gebäude im Jahre 1833 durch ein gewaltiges Feuer in Asche gelegt wurden. Der Wiederaufbau geschah in den Jahren 1833 bis 1847. (…) Nur ein vom Alter und wohl auch vom Rauch geschwärzter viereckiger Turm von 25 Meter Höhe, der sich neben der Kirche erhebt, ist noch vom alten Kloster übrig geblieben.“
Der Turm wurde im Jahre 1335 fertiggestellt. Im Kloster lebten 1909 noch 50 Mönche. Früher waren es bis zu 200: „Fische und namentlich Forellen (…), bilden neben Kohl, Bohnen und sonstigen Gemüsen und Käse die Hauptnahrung der Mönche. Der Genuß des Fleisches ist ihnen verboten.“

Über schneefreie und gut gepflegte Wege geht es abwärts in die Ebene von Sofia. Sokolowsky passiert einige Dörfer: „Hier hatte ich wieder Gelegenheit, zu sehen, in welch finsterem Aberglauben das bulgarische Volk doch teilweise noch befangen ist. Es war der Grundstein zu einem großen Hause gelegt, und im Beisein einer größeren Menschenmenge waren die Maurer eben dabei, einen heftig winselnden jungen Hund und einen Hahn in bereitgehaltene Löcher der sehr starken Giebelgrundmauer zu setzen, wo sie lebend eingemauert wurden. Die armen Tiere als Sinnbild der Wachsamkeit sollten gewissermaßen Schutzgeister des Gebäudes werden.“

Letzte Worte auf der letzten Seite: „Wer nicht über eine große Tatkraft verfügt oder sich nicht mit großer Langmut über die Unannehmlichkeiten mit Gelassenheit hinwegsetzen kann, dem rate ich entschieden von einer Radreise durch Bulgarien ab.“

Quelle: wikipedia

Übrigens war Sokolowksy nicht der erste, der den Balkan auf dem Rad durchquerte.
Der Engländer Thomas Stevens (1854-1935) war bei seiner Weltumrundung mit dem Fahrrad bereits 1885 auf der Strecke Ungarn-Rumänien-Bulgarien-Konstantinopel unterwegs!
Auch er wird überall bestaunt und auch belästigt, auch er hat Probleme mit der Polizei, auch er braucht seinen Revolver.
Von ihm gibt es auch ein gezeichnetes Portrait mit vollbeladenem Hochrad.
(Hochräder wurden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr hergestellt.)

> WEITER MIT: FAHRRADREISE DURCH DEN BALKAN – TEIL 3

< ZURÜCK ZU: FAHRRADREISE DURCH DEN BALKAN – TEIL 1

< ZURÜCK ZUR STARTSEITE

Leave a comment