Delos als Syros-Freihafen

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Ludwig Ross schreibt 1840: “Dort, wo jetzt die zweite, oder vielmehr, wenn man auf das eigene, innere Leben und die selbständige Kraft sieht, die erste Stadt Griechenlands (mit dem damaligen Athen verglichen!) sich terrassenförmig am Meeresstrande erhebt, standen beim Ausbruche der Revolution nur einige wenige Schuppen und Magazine am Ufer. Die alte hellenische Stadt (…) hatte freilich an derselben Stelle unmittelbar an dem geräumigen Hafen gelegen, aber (die Bewohner der Insel) hatten sich, aus Furcht vor Piraten und anderen freindlichen Überfällen, auf einen hohen und steilen Felsenhügel eine Viertelstunde vom Ufer zurückgezogen und hier ihre Stadt erbaut, die man, zur Unterscheidung von der neuen Hermupolis, jetzt Alt-Syra nennt.

Nach der Zerstörung von Psara und Chios waren es vorzüglich die unglücklichen Flüchtlinge von diesen Inseln, welche sich hier niederliessen, zum Teil den eingeborenen Syriern den Boden mit Gewalt abtrotzend und in elenden Hütten längs dem unwirtlichen Strande mit Hunger, Elend und Entberungen aller Art ringend. Diese erbärmliche Niederlassung wurde ein Hauptmarktplatz der von den Piraten und Capern aufgebrachten Waren, ein Hauptsitz der Falschmünzerei und anderer unrühmlicher Gewerbe, und aus diesem verworrenen Getriebe erwuchs (…) eine wohlgeordnete, blühende Handelsstadt, von friedlichen Kaufleuten und Schiffern bewohnt, deren Verbindungen sich bereits über vier Weltteile erstrecken, und deren Zölle eine der Haupteinnahmen des jungen Königreichs bilden.

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Hafen von Ermoupolis, Syros, etwa 1880

Neben manchen stattlichen, solid gebauten Häusern stehen noch viele Baracken jener ersten Ansiedlung, und die Straßen, wenn gleich ziemlich wohl gepflastert und reinlich, sind eng und krumm. Auffallend ist es, daß eine von elftausend Menschen bewohnte und von so vielen Fremden besuchte Stadt noch keinen ordentlichen Gasthof besitzt; denn die sogenannte Locanda nuova, welche man uns als den besten Gasthof anwies, darf sich nicht mit der schlechtesten deutschen Dorfschenke vergleichen.

Der Haupthandel von Hermupolis ist in den Händen der Chier, die Schiffahrt haben die Psarianer und Mykonier. Es ist hier gegenwärtig viel die Rede von einem Plane, den die Kaufleute gefaßt haben, nämlich die Regierung zu ersuchen, die wüsten Inseln Delos und Rhenäa für einen unreinen Hafen (porto sporeo) zu erklären, und dieselben durch strenge Quarantänen von dem übrigen Teile des Reiches abzuschließen, dagegen aber allen von der Türkei kommenden Schiffen zu öffnen. Die Kaufleute von Hermupolis würden dann dort Factoreien errichten und Magazine erbauen, in welchen sie europäische Waren für die Türkei vorrätig hätten, so daß die Türken hier einkaufen könnten, ohne sich einer Quarantäne unterziehen zu müssen.

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Carl Rottmann: Delos zu Zeiten von Ludwig Ross

Der hiesige Handelsstand setzt große Hoffnungen auf eine Ausführung dieses Planes, und glaubt namentlich Smyrna einen beträchtlichen Teil seines Handels entziehen zu können.”

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Delos heute – hier hätte der Freihafen gestanden …

Soweit Ludwig Roß nach seinem Inselbesuch vor 170 Jahren. Die Ökonomen haben sich nicht durchgesetzt. Delos liegt in Sichtweite von Syros – seit 1872 wurde von der Französischen Archäologischen Schule in Athen dort ausgegraben. Seit 1990 ist Delos UNESCO-Weltkulturerbe …

Text aus: “Inselreisen – Reisen auf den griechischen Inseln des ägäischen Meeres”, Erster Band, 1840, von Dr. Ludwig Ross, Cotta/Stuttgart

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Nachtrag 1: Man darf nicht glauben, daß die Delos-Idee nur so eine Spinnerei von Provinzfürsten war. Hermoupolis hatte damals – noch vor dem Bau des Kanals von Korinth, der das internationale Griechenlandgeschäft nach Piraeus verschob … starken wirtschaftlichen Einfluß (mehr ökonomisch als politisch allerdings). Noch 1887 schreibt Amand Freiherr von Schweiger Lerchenfeld in seinem Handbuch “Griechenland in Wort und Bild”:

“Die Insel Syra, oder richtiger deren Hauptpunkt Hermupolis, ist der Mittelpunkt des Kykladen-Archipels. Die Stadt nimmt unter allen Handelsstädten Griechenlands den ersten Platz ein. Wie Lichtstrahlen in einem Brennglase laufen hier die Courslinien der Hochseeschiffe, Küstenfahrer und Dampfer zusammen. Kein Wunder also, daß der Mastenwald in dem geräumigen, ringsum von Winden geschützten Hafen, jahrein und jahraus nur wenig sich lichtet. Hinter diesem Mastengewirre dehnt sich die moderne Stadt, Hermupolis, an flachem Gestade, mit ansehnlichen Gebäuden und sauberen Straßen. Hier herrscht das denkbar regste Leben. Kaffebuden und Rezinatschenken sind überfüllt, die Straßen bevölkert, das Lärmen und Drängen zu Zeiten fast störend. Heute zählt die Stadt circa 25.000 Einwohner.”

Über Delos steht in dem Handbuch auch noch was:
“Vor Mykonos liegt Delos.” Hm ja, das ist alles …

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Nachtrag 2: Über die damalige lokale “Wertschätzung” von Delos noch ein zeitgenössisches Zitat:
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“Herrliche Reste, unzählige Säulen u. Trümmer, manche Inschrift, manche Spur von Skulptur – aber alles geschlagen u. verwüstet, wie nur der Fanatism verwüsten kann! Mächtige Portiken führten zu dem großen Tempel des Apollo, der in glänzenden Trümmern daliegt. Kalköfen, mitten darin errichtet, weisen auf das Schicksal, welches dieses Heiligthum zum Theile schon erfahren hat u. das seiner noch weiter wartet.”
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Brief des österreichischen Gesandten und Orientalisten Anton Prokesch von Osten an seine Frau, Delos, 26.08.1835 (zitiert nach Daniel Bertsch “Anton Prokesch von Osten”, München 2005)
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