Siebertz 1: Gastfreundschaft

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Vorwort: Albanien? Wieso hier Albanien …? Man muß manchmal einen größeren Kreis um einen Raum wie Griechenland ziehen, um ihn als Reisender ein bißchen besser zu verstehen. Darum mal ein Ausflug ins historische Albanien. Ich will mich auch keinesfalls aufs politische Gebiet begeben. Schon der Serbe Vladan Georgevitch schreibt 1913 in “Die Albanesen und die Großmächte”: “Die Einwohner dieses Landes haben ihm nie den Namen Albanien gegeben, sie kennen diesen Namen nicht … der Name taucht erst im Jahre 1079 auf und ist ein griechisches Falsifikat …”
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Also: Ende der 1000jährigen politischen Diskussion meinerseits … 🙂 …
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Vor 100 oder 150 Jahren trafen die Reisenden auf zahlreiche Albaner in Griechenland selbst, so wie heute. (Siehe wikipedia-Karte am Ende dieser Seite, der dort skizzierte Sprachraum zeigt ungefähr die damalige Siedlungsverteilung.) Ins weglose albanische Bergland selbst verirrte sich jedoch selten ein Besucher. Hier gab es keine attraktiven antiken Ruinen, und die Gegend und ihre Bewohner hatten keinen guten Ruf. Auch die osmanische Besatzung mied die Berge.
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Paul Siebertz (Chefredakteur der Tageszeitung “Das Vaterland” in Wien) hat seinem Buch eine recht lange Literaturliste zum Thema Albanien angehängt. Aber das wenigste davon befasse sich hauptsächlich mit dem Volk der Albaner selbst, schrieb er. Das wenigste darin sei auch aus erster Hand erfahren! (1853 hatte J. G. von Hahn das letzte fundierte Werk geschrieben: “Albanesische Studien”, und 1857 der umstrittene Jakob Philipp Fallmerayer “Das albanesische Element in Griechenland”. Die Reisen von Karl Steinmetz von 1903 und 1904 erregten einiges Aufsehen.)
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So sind viele typisch albanische Dinge vom nordeuropäischen Betrachter nicht mehr erkannt worden. Sie sind zu “typisch griechischen” geworden. (Wahrscheinlich wird so der Döner eines Tages in den Augen chinesischer Touristen zum deutschen Nationalgericht … 🙂 …)
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So war mir kürzlich (in Colbeck: A Summer’s Cruise, 1887 ) das Thema Fustanella begegnet. Den Männerrock hatte ich immer für ein klassisch griechisches Kleidungsstück gehalten. Das denken auch viele Griechen. Ist es aber wohl nicht. Es ist eine südalbanische (toskische) Tracht.
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Das albanische Bergvolk hatte nicht nur eine eigenwillige Kleidung, sondern auch merkwürdige Lebensregeln. Siebertz stellt für den Griechenland- und Balkan-Reisenden die wichtigsten Dinge heraus: die ausgesprochene Gastfreundschaft, und die etwas ungewohnten Gesetze … die Gesetze der Blutrache.
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Hotels, Gaststätten, öffentliche Verkehrsmittel und Polizeischutz gibt es um 1900 in den albanischen Bergen ja nicht. Die meisten albanischen Familien/Sippen lebten alleine, nicht im Dorf. Der Reisende kehrte also bei Familien ein, die mit ihrem Besitz und Leben dazu verpflichtet waren, ihre Gäste zu versorgen und zu schützen, und zwar bis zum nächsten Abend, wo der Gast beim nächsten Gastgeber einkehrte. Passierte dem Gast am nächsten Tag etwas, war der Gastgeber der vorherigen Nacht verpflichtet, (auch nach dem Gesetz der Blutrache!) diese Tat zu sühnen. So, als sei der Gast ein Mitglied seiner eigenen Familie. Ein so hartes wie einfaches Recht …
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Übrigens: Auch jemand, der eigentlich wegen der Blutrache ermordet werden mußte, konnte zufällig oder absichtlich (!) zum Gast des zum Mord verpflichteten Hauses werden, und mußte wegen der Gastfreundschaft in der Nacht und am nächsten Tag beschützt werden. Das konnte ganz absurde Folgen haben …
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Ende des Vorworts. Hier nun in Zitaten ein Abend, den Siebertz beim albanischen Gastgeber verbringt. Siebertz legt dar, was man sich und seiner Verdauung zumutete, wenn man in Albanien unterwegs war. Von den Gefahren der Tagesreise, die er bei eskortierten Reisenden für eher gering hält, mal abgesehen (wenn man nicht vom Pferd fällt) …
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Empfangen wird man in den Bergen in der Halle einer Kula, dem isolierten befestigten Bauernhaus:
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Und wenn man ein bedeutender Gast ist, und der Gastgeber nicht der ärmste Mann im Tal, wird man auch nicht nur mit einem Stück Schafskäse und Fladenbrot empfangen!
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Die Kula hat praktisch keine Möbel. Die heute zur Feier des Tages geladenen Herren (angesehene Nachbarn und die erwachsenen männlichen Mitglieder der Familie) versammeln sich in der Halle um einen runden Tisch (1,5 Meter Durchmesser, 15 cm hoch). Die Herren haben die Waffen abgegeben und es gibt zum Essen weder Messer noch Gabel (ein Festessen ist ein friedliches Ereignis, und es wird kein Risiko eingegangen ..). Der Gastgeber hat übrigens nach biblischer Sitte Siebertz und seinem Freund Wenng vor dem Betreten der Halle die Stiefel ausgezogen und die Füße gewaschen …
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Als ersten Gang gibt es bei den Malzoren (den Bergbewohnern) grundsätzlich eine Schüssel mit “tüchtigen Stücken Schafskäse”, dazu Brot und Treberbranntwein, der nach Siebertz’ Einschätzung keinen allzu großen Alkoholgehalt hat. Nach einer genau eingehaltenen Rangordnung trinkt der Gastgeber den Gästen zu. (Das erste Glas geht in die Feuerstelle.) Hier ein Auszug aus dem Trinkspruch-Ritual:
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Das Raki-Trinken dauert etwa eine Stunde. Dann geht es erst richtig zur Sache: “Alle zusammen essen aus einer gemeinsamen Schüssel. Man ißt mit den Fingern oder behilft sich im Notfall mit den aus Buchsbaum geschnittenen Löffeln. Die Etikette erfordert, daß man mit der rechten Hand in die gemeinsame Schüssel greife. Der Hausherr nimmt abseits des Tisches Platz, er darf (bei jedem Gang) erst speisen, wenn seine Gäste gesättigt sind.”
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Der Hausherr portioniert das Essen für die Gäste und teilt es aus, bzw. wirft (!) die Portionen den Gästen kunstgerecht zu, “worauf sie unnachsichtlich verschluckt werden müssen, will man den Gastgeber nicht tödlich beleidigen.”
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Wenn der (Ehren-)Gast besonders hochgeschätzt ist (und zwar höher geschätzt als der Gastgeber), dürfen ihm auch andere Gäste Bissen zuschieben, aber nur dann! Siebertz, der Expeditionsleiter, wird daraufhin von seinem Freund Wenng (zu dessen eigener Erleichterung) während des Essens geradezu “gemästet”: “Kunstvoll präparierte Pilawknödel, riesige Stücke Käse und honigbedeckte heiße Brotkuchen” kriegt er extra, wenn sein Freund “diese Ehrengaben nicht mehr zu bewältigen vermochte”.
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Das verlangt einiges von ihm, denn “ein deutscher Magen ist an sich schon nicht besonders gut an diese albanisch-türkischen Delikatessen eingerichtet, und er goutiert es umsoweniger, wenn das scharfblickende Auge erspähte, wie der gütige Hausherr zu solchen Ehrungen schritt, nachdem er vielleicht eben erst in seinen Pantalons (Hosen) eifrige Jagd auf mißliebige Lebewesen veranstaltet hatte.”
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“Die Reihenfolge der Speisen bei diesem Festmahle aber war folgende: Nach den hors d’oeuvres, bestehend aus Raki, Käse und Brot, wurde in riesiger Schüssel geschnittene Schafleber, -Lunge und -Niere serviert, was mir der bekömmlichste Teil der ganzen Mahlzeit zu sein schien. Dann gab es in ebenso großer, gemeinsamer Schüssel einen mit Wasser bereiteten Maismehlbrei, der mit siedendem Rahm übergossen wird. Hierauf äußerst schmackhaften Lammsbraten, den der Hausherr in großen Stücken herabschnitt und den Gästen über den Tisch hinüber graziös zuwarf. Der fünfte Gang bestand aus einem dicken Pilaw, mit Hammelfett gekochtem Reis, in den kleine Stücke Hammelfleisch hineingeschnitten waren.”
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“Der nächste Gang war eine ganz erlesene Ehrung für Freund Wenng und mich: Jedem wurde ein glühend heißer, halber Schafsschädel gereicht, aus dem wir uns mit viel Mühe, Not und Pein das Hirn herauspraktizieren mußten. Der gute Geschmack dieser nur uns beiden zugedachten Einlage wurde uns dadurch sehr beeinträchtigt, daß wir den heißen Schafskopf in der bloßen Hand halten und die Prozedur des Herausfischens ohne Messer und und Gabel vornehmen mußten.”
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Das Schafshirn-Intermezzo ist noch nicht alles. Als siebten Gang gibt es in Brühe zubereitetes Schaffleisch, dazu frischgebackenes heißes Maisbrot, und als Dessert “eine Schüssel voll gegohrener Milch”. Siebertz ist bemüht, sich mit klar vernehmbarem Schmatzen und Rülpsen den lokalen Tischsitten anzupassen. Sonst würde es so aussehen, als schmecke es ihm nicht: “Daß ich nach absolvierter fettriefender Mahlzeit nochmals nach einem Glas Raki verlangte, verstieß zwar gegen alle Etikette, bereitete dem Hausherrn jedoch großes Vergnügen.”
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Ehe beim Leser der Eindruck entsteht, hier äßen sie ja wie die Barbaren, stellt  Siebertz noch fest, die Gäste seien gelassen, ruhig und würdevoll, äußerst liebenswert und von rührender Höflichkeit. Laute Eßgeräusche und die Angewohnheit, sich die Finger an der Hose abzuwischen, sei eine Kleinigkeit am Rande. Sobald der Ehrengast am Ende andeutet, daß er satt und zufrieden sei (Zeichen: demonstratives Fingerabwischen), schließt der Hausherr die Tafel und läßt Wasser holen zum Fingerwaschen. Der Tisch wird weggeräumt, der Hausherr verteilt Zigaretten und kocht Kaffee für die ganze Gesellschaft. Kaffeekochen ist das einzige, was der Mann im albanischen Haushalt tut, denn: “… andere häusliche Arbeit ist entwürdigend”.
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Kartenskizze aus wikipedia.org (DynaMoToR, Stichwort: Toskisch)
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Paul Siebertz (geb. 1877 in Roisdorf/Bonn – gest. 1954 in Stuttgart) war von 1907 bis 1911 Herausgeber und Chefredakteur von “Das Vaterland – Zeitung für die Österreichische Monarchie” in Wien. Er war vorher Redakteur der Allgäuer Zeitung in Kempten und beim Bayerischen Kurier in München. Siebertz veröffentlichte zahlreiche Bücher, u. a. Biographien von Gottlieb Daimler und Karl Benz.
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NACHTRAG: Möchte hier doch noch ein Zitat anhängen, um die Geschichte oben zu relativieren (aus dem “Führer durch Griechenland und Albanien” von Dr. Rudolf Sieber von 1931): “Die Volksnahrung (der Albaner) ist recht bescheiden und beschränkt sich hauptsächlich auf Maisbrot, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten und Molken; Käse und Fleisch sind viel seltener genossen. Die meisten Leute halten nur zwei Mahlzeiten: eine vormittags, die andere bei Sonnenuntergang.”
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9 comments

  1. Hallo Theo,
    kennst du das Buch – der zerrissene April – von Kadaré.
    Eins meiner Lieblingsbücher.
    Bin gespannt auf mehr Geschichten aus (m)einem Traunland.
    Marga

  2. Hallo Marga, das Buch kenne ich nicht. (Ehrlich gesagt, habe ich von dem laufenden Meter der Bücher Kadarés noch nie was gelesen …) Witzig ist aber, daß der Fischer-Verlag das Titel-Foto des Siebertz-Buchs für seine Ausgabe von Ismail Kadarés “Das verflixte Jahr” übernommen hat! Diesen Roman über Albanien 1914 habe ich mir mal für die ruhigen Feiertage vorgenommen (heute gekauft). Soll ja mehr komisch als tragisch sein. Theo

  3. Hallo,
    das Schriftstück zum Trinkritual ist nicht in Albanisch!!! Man versteht es wenn man ein bissien serbisch kann die hier verwendeten Buchstaben gehören nicht zum albanischen Alphabet!

    1. Shote Galica ..Wenn du keine Albanerin bist verstest du nicht,aber eine richtige Albanerin versteht dass sehr gut ….Und seit wann muss man Serbisch können um Albanisch zu verstehen??Die zwei Sprachen haben nichts mit einander zu tun
      Jeta

  4. Stände mir fern, mich da einzumischen. Siebertz zitiert da Steinmetz (siehe auch Bergreise 1904), einen anderen bekannten Albanien-Reisenden der Zeit.
    Unsere Übersetzungs-Cracks von Google übersetzen 2011 “Gelobt sei Jesus Christus” ins Serbische mit “Хваљен Исус Христос” und ins Albanische mit “Vlerësoi të Jezu Krishtit”, und “Zum Wohl!” ist bei Google serbisch “Живели” und albanisch “Gëzuar”.
    Was hätte der Siebertz gemacht, wenn es damals schon das Internet gegeben hätte … 🙂 …
    Ich habe übrigens noch den Metoula-Sprachführer Serbisch von Prof. Franz Sobra aus der Zeit von Siebertz/Steinmetz, da gibt es den Satz “Auf Ihr Wohl!”, das sieht auf Serbisch völlig anders aus …!
    (Ich mach mir aber jetzt nicht die Mühe, das aus Sonderzeichen hier zusammenzusetzen …)

  5. @ShoteGalica
    Nein,der Trinkspruch ist schon so richtig,auch wenn einpaar Buchstaben (wie das Z) serbisch geschrieben sind. Denn die Sätze sind ja 100% Albanisch und wird von den Albanischen katholiken noch heute Praktiziert.

    Und das mit dem serbischen Z,kann man auch erklären,vielleicht hatte Herr Siebertz einen Montenigrischen oder Bosnischen Dolmetscher der das ganze dann aufgeschrieben hat.

    Danke für den Artikel @ Theo48

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