Bulgarien-Tour zur Wendezeit – 1

Balkan Air Poster Plovdiv
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Plovdiv 1990, am antiken Theater.
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Vor 25 Jahren, Sommer 1989 in Paris. Abends in einem Bistro in Courbevoie, nach Redaktionsschluß der International Herald Tribune (heute die International New York Times). Hier trafen sich die Redaktionskollegen, die von der Arbeit noch zu aufgekratzt waren, auf einen Absacker oder zwei.
Ein ehemaliger Kollege meiner damaligen Freundin Joan hatte uns dorthin eingeladen.
Kein „native European“ sitzt am Tisch, von mir abgesehen, aber wir reden plötzlich nur noch über Deutschland.
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Wann denn wohl „unsere“ Mauer fallen würde, werde ich gefragt. „Not in my lifetime!“ lege ich mich fest, ganz synchron mit unserem sogenannten Einheitskanzler. Der hatte ja auch erst an die mögliche „Einheit“ geglaubt, als die Ostberliner am 9. November 1989 über die Betonwände kletterten.
Die Journalistin, die mich gefragt hatte, lacht auf, bietet mir eine Wette an: „Auf zwölf Monate, ab heute, dann ist sie weg! Eine Flasche Champagner für dich, wenn sie noch steht!“
Zwölf Monate …? Jetzt lache ich. Aber ich bin ja in der Regel ein höflicher Mensch. Und ich will nicht, daß sich die Ahnungslose blamiert. Ich lehne die Wette ab.
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Glück gehabt. Zwölf Monate später, am 01.07.1990, hatten wir schon die Währungsunion. Und die Berliner Mauer wurde in handlichen Bruchstücken an die Touristen verkauft.
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Visum Bulgarien
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Die bürokratischen Schlüssel, die uns das Tor nach Bulgarien öffneten.
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Berliner Mauer BildVom Tag des Mauerfalls hatte ich gar nichts mitgekriegt. In diesen Novembertagen war ich in Amsterdam, ohne Fernsehen, ohne eine Zeitung zu lesen. Ich wurde an der Theke im “Klepel” (dem Lokal unseres Vertrauens …) darauf angesprochen, aber ich dachte, da wollte sich jemand einen Scherz erlauben. Unsere Amsterdamer Freunde waren politisch voll auf dem Laufenden, der Mauerfall war jedoch etwa so wichtig, als wenn in China ein Sack Reis umgefallen wäre. Und so manchem Holländer war auch ein geteiltes Deutschland lieber.
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Was würde sich nun ändern? Ohne die Konkurrenz der politischen Systeme der Nachweltkriegszeit? Ja, was? Das Kapital im Westen würde jetzt weniger Zugeständnisse an die Arbeitskräfte machen müssen, die Rüstungsindustrie würde sich neue Kunden suchen müssen. Ideologen würden sich neu orientieren müssen (manche jedenfalls), Atomwaffen würden demontiert (manche jedenfalls). Neue Konfliktherde waren ja bereits aufgeflammt, abseits der alten Fronten … ab jetzt bekämpfen Gläubige Ungläubige. Wie bei den Religionskriegen im Mittelalter. Nothing ever changes …
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Aber nicht nur in der DDR waren die Dinge ins Rollen gekommen. Der „Ostblock“ demontierte sich vor 25 Jahren an allen Stellen.
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Und im Frühjahr 1990 kam dann die Einladung nach Bulgarien, zum Rosenfest am ersten Juni-Wochenende.
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Rosenpflückerin Kazanlak
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Rosenpflückerin beim Rosenfest in Kazanlak. 4 Tonnen Rosenblätter ergeben 1 Kilogramm Rosenöl. Bulgarien produziert jährlich gut zwei Tonnen Rosenöl. 1 Kilo Rosenöl kostet heute etwa 6.000 Euro.
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Gut, die Einladung war nicht wirklich für uns. Meine Freundin Joan war im holländischen Journalisten-Verband, und ein Mitglied des Verbandes hatte einen Reiseführer über Bulgarien geschrieben, der beim Rosenfest prämiert werden sollte. Nur, der Preisträger war inzwischen ernsthaft erkrankt.
Im Verband wurde herumgefragt, wer denn wohl bereit wäre, in Vertretung den Preis entgegen zu nehmen. Eine achttägige Gratis-Rundfahrt im Lande wäre auch drin. Niemand wollte. Doch Joan sagte zu. Nicht, weil ihr was an Bulgarien gelegen hätte, sondern weil sie dem Verband in einer anderen Sache zu Dank verpflichtet war. Aber sie führe nur, wenn sie „ihren Fotografen“ mitnehmen könnte. (Ihr Fotograf, das war ich.) Balkantourist, die staatliche bulgarische Reiseagentur, war einverstanden. Zwei Retour-Tickets Amsterdam-Wien-Sofia und ein Rundfahrtplan seien unterwegs.
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Sofia Wartburg
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Sofia Straßenbahnkreuzung
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Sofia. Endlich mal eine Stadt mit Straßen für SUVs! (Ein SUV, ein sport utility vehicle, liebe Fußgänger, das sind diese geländegängigen Fahrzeuge, mit denen man vom Büro zum Fitness-Center fährt. Oder zur shopping mall … Einkaufs-Center liegen ja oft draußen, mitten in der wilden Natur!)
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Joans Vater war vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine in die USA ausgewandert, aber sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, sich hinter dem „Eisernen Vorhang“ aufzuhalten. Und meine einzige persönliche Begegnung mit dem Ostblock war ein Tagesausflug hinter die Berliner Mauer, auf einer Klassenfahrt. Da war ich dreizehn, fast vierzehn. Der Zwangsumtausch (5 Mark) reichte für zwei Glas Bier in einem Lokal in Berlin-Mitte (je 72 Ostpfennig) und den gedruckten Bericht vom letzten Parteitag der SED. Gekauft, um unsere Lehrer zu ärgern. (Ich habe sogar ein paar Seiten gelesen, und ein paar schwergewichtige Sätze demonstrativ rot angestrichen.)
Auf keiner Seite der Berliner Mauer wurden wir in Lokalen nach dem Ausweis gefragt, wenn wir Bier bestellten. Wir fühlten uns auch enorm wichtig auf der Fahrt, als Jungvertreter der westlichen Werteordnung, und sahen dadurch wahrscheinlich aus wie sechzehn … 🙂 …
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So, schnell ein gemeinsamer Blick auf den Bulgarien-Rundfahrtplan … wie, Sonnentage am slatni pjasazi, am Goldstrand? (BILD schreibt über die Schwarzmeer-Strandregion im August 2014 unter dem Titel: “Willkommen in ‘Vulgarien’, dem Balkan-Ballermann”.)
Freundin Joan greift zum Telefon. Wenn sie nach Bulgarien fahren würde, dann nicht zum Strandspaß, sondern um ihrem US-amerikanischen Publikum was Attraktives und Verwertbares über das Land und die Leute zu erzählen. „Aber … Sie glauben doch nicht, daß jemand aus den USA zum Strandleben jemals zum bulgarischen Goldstrand fährt, statt nach Hawaii oder Florida? Wenn, dann kommen die Leute aus New York oder San Francisco nur her, um zu sehen, was kulturell, sozial und geschichtlich in Bulgarien passiert. Was die Natur dort unverwechselbar macht. Und die Menschen. Klöster, Kirchen, Burgen und Weinberge und historische Städte, das kann man vermarkten … haben Sie möglicherweise für uns einen Mietwagen?“ Große Worte, ja ja …
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Balkantourist war irritiert. Auch noch Extrawünsche …! „Die Rundfahrt für Sie ändern, geht natürlich nicht.“ Hätten wir auch nicht gewollt. „Und unabhängig herumfahren, nein, können Sie auf keinen Fall … Sprachschwierigkeiten, Orientierungsschwierigkeiten, Übernachtungs-schwierigkeiten, das Land ist unruhig, jetzt kurz vor den Wahlen. Wir rufen zurück.“
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Bulgarien Wahl 1990 SDS
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Ja, tatsächlich, die Volksrepublik Bulgarien darf in ein paar Tagen wählen. Mitte Juni. Und die Kandidaten stellen diesmal nicht nur die Rosen … äh … Roten! Es treten gleich 40 Parteien auf! Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) erhielt immerhin noch 47% der Wählerstimmen. Die Union Demokratischer Kräfte (SDS, Bild oben) kam auf 36%.
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Anstecker RosenfestivalBalkantourist rief tatsächlich zurück. Sie hätten uns – nach der Einführungsveranstaltung in Sofia – für die ersten Tage ab Sofia einen Regierungs-Pkw mit Fahrer organisiert, und auch eine englischsprachige Reiseleiterin. Hotels sind reserviert, was wir tagsüber machen, bleibt uns überlassen. In Veliko Tarnovo träfen wir dann auf die internationale Journalistengruppe, und von da ging es per Bus zur Feierstunde innerhalb des Rosen-Festivals in Kazanlak am 2. Juni. Einverstanden?
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Einverstanden. Freundin Joan grinst: „Ein paar Tage zu viert im Regierungs-Lada durchs Land, ist doch besser als mit vierzig per Bus zum Strand, oder?“ Sicher. Der „Lada“ war jedoch ein fast neuer cremefarbener Daimler, ein 300D, der unserem Fahrer Stephan bei der Übernahme zwei schöne Monate im „goldenen Westen“ eingebracht hatte, wo er auf die Wartung und Reparatur des Modells geschult wurde. Regierungsfahrer in der Volksrepublik Bulgarien waren nämlich auch Regierungs-Mechaniker …
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Sofia Sheraton Mercedes
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Teil der Regierungsflotte vor dem Sheraton. Rechts Zornitsa, unsere persönliche Reiseleitung.
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