Wie München am Meer?

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“Syros was the indisputable centre of the transit trade in the nineteenth century, and especially during the first fifty years. Its warehouses held goods from all parts of the world.”
(‘Hermoupolis’, J. Travlos & A. Kokkou, Athen 1984)
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Die Schiffe, die in diesem Jahrhundert noch hier anlegen, befördern als ‘Transportgut’ in erster Linie Touristen. Und die sind meist auf der Durchreise. Insofern ist Syros auch heute noch ein Transit-Zentrum.
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Syros ist für mich oft der letzte Punkt einer Kykladenreise. Ein letzter Zwischenhalt vor dem Alltag. Die wichtigen Dinge der Reise  sind „abgehakt“, jetzt gilt es hier noch, Freunde zu sehen, Einkäufe zu machen, Dinge zu suchen, die es auf den kleinen Inseln nicht gibt. Die Zeit vergeht gewöhnlich gemächlich … Herumstreunen, Danebensitzen, Zuschauen.
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”The architecture of Hermoupolis is more uniform, in both chronological and typological terms, than that of any other Greek city. All the buildings, public and private, and the churches and monuments, were constructed in the nineteenth century. No ancient ruin or Byzantine church stands in their midst.”
(‘Hermoupolis’, J. Travlos & A. Kokkou, Athen 1984)
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Ja, hier stammt tatsächlich fast alles aus dem 19. Jahrhundert! Lediglich am Stadtrand und an einigen Stellen an der Hafenfront sind einige Bauten erst im 20. Jahrhundert entstanden. Mehrere deutsche Architekten bauten im 19. Jahrhundert mit an der Stadt, zuerst Johann Erlacher aus München, später u.a. Wilhelm von Weiler als Stadtplaner und Ernst Ziller, der das Rathaus entwarf.
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“The verdict passed by the German traveller Gottfried Heinrich von Schubert in 1837 that, thanks to Erlacher, Hermoupolis was like a section of Munich, is completely justified.“
(‘Hermoupolis’, J. Travlos & A. Kokkou, Athen 1984)
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München …? Mei, des passt scho. A weng. Ja, stimmt schon. Ein wenig. Sonst ich würde eher an Genua als an München denken in Hermoupolis. So wie sich die Häuserreihen vom Meer her die Hügel hinaufziehen.
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Diana Farr von der Athens News hat einmal seufzend auf die 40 Stufen zu ihrem Zimmer im Hotel Omiros hingewiesen („ … whose only drawback might be the 40 stairs to your bedroom.”). Ich wohne immer da, und ich habe sie noch nie gezählt, die Stufen. Wer die ganzen Treppenwege vom Hafen rauf geschafft hat, dem kommt es auf diese 40 Marmorstufen auch nicht mehr an.
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Und sein Revier für den morgendlichen Spaziergang hat man auch längst markiert: Zuerst Metamorphosi zwischen dem Bischofspalast und dem Theater, dann der Vaporia-Bezirk zwischen der Platia Vardaka und der Nomarchia, die Hafengassen, das Hafenkai bis zur Werft. Im Vaporia-Bezirk wohnten früher die reichsten Leute der Insel, in Matamorphosi, oberhalb vom Rathaus, eher die kleinen Leute, die Handwerker, die Ladenbesitzer.
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Auch der Archäologe Ludwig Roß hatte mehrfach die Gelegenheit, den „Transit-Hafen“ Hermoupolis anzulaufen auf seinen Inselreisen, auch als Reiseleiter für König Otto und die Königin Amalie. Mir waren „die alten Zeiten“ und seine Texte über Hermoupolis wieder eingefallen, als ich suchte, was Roß über Karpathos notiert hatte. Im Mai 2012 kam ich ja selbst von Karpathos nach Syros.
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So ähnlich mag es Roß damals auch schon gesehen haben, wenn er aus dem Fenster blickte …
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Ludwig Roß 1835 (Inselreisen, Band I): „Dort, wo jetzt die zweite, oder vielmehr, wenn man auf das eigene, innere Leben und die selbstständige Kraft sieht, die erste Stadt Griechenlands sich terrassenförmig am Meeresstrande erhebt, standen beim Ausbruche der Revolution nur einige wenige Schuppen und Magazine am Ufer. (…) Nach der Zerstörung von Psara und Chios waren es vorzüglich die unglücklichen Flüchtlinge, die sich hier niederließen.“
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Ja, damals übertraf Hermoupolis als Schnittpunkt der Ägäis-Routen die Doppelstadt Athen-Piräus noch um einiges. Athen war ja erst seit 1834 griechische Hauptstadt, und den Kanal von Korinth, der den Hafen von Piräus erschließen sollte, gab es noch lange nicht.
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Ludwig Roß, 1835: „Diese erbärmliche Niederlassung wurde ein Hauptmarktplatz der von den Piraten und Capern aufgebrachten Waaren, ein Hauptsitz der Falschmünzerei und anderer unrühmlicher Gewerbe, und aus diesem verworrenen Getriebe erwuchs inmitten des Kriegs, des Seeraubs und der feindlichen Geschwader im Verlaufe weniger Jahre, wie durch einen Zauberschlag, eine wohlgeordnete, blühende Handelsstadt, von friedlichen Kaufleuten und Schiffern bewohnt, deren Verbindungen sich bereits über vier Welttheile erstrecken, und deren Zölle eine der Haupteinnahmen des jungen Königreichs bilden.“
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Ludwig Roß, 1835: „Neben manchen stattlichen, solid gebauten Häusern stehen noch viele Baraken jener ersten Ansiedlung, und die Straßen, wenn gleich ziemlich wohl gepflastert und reinlich, sind eng und krumm.“
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Roß wollte sich auf seiner Tour 1835 nur kurz auf Syros aufhalten, mußte aber fünf Tage länger bleiben als geplant, da der Mantel eines im Quarantäne-Lazarett isolierten ausländischen Reisenden aus Versehen in die Stadt gebracht wurde. Daraufhin wurde zur Sicherheit die ganze Insel zum Quarantäne-Gebiet erklärt, und jeder Verkehr mit der Außenwelt eingestellt.
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Ludwig Roß: Inselreise II, 1841, zweiter Besuch auf Syros: „Diesen ganzen Tag brachten wir in der immer mehr aufblühenden Handelsstadt zu, die sich seit meinem ersten Besuche bedeutend erweitert und noch mehr verschönert hat …“. Neu sind 1841 die „geräumigen Transitomagazine am Eingang in den Hafen, erbaut von dem Architekten Erlacher“:
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Nett, heute mittags im ‚To Limani’ zu essen – dann hat man Erlachers “Transitomagazine” direkt vor sich, auf der anderen Hafenseite.
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Ludwig Roß 1841: „(Es) ziert Hermupolis die Menge seiner Schulen (…); und unter diesen ist sogar eine sogenannte hellenische, das heißt nach deutscher Redeweise gelehrte Mädchenschule (von dem deutschen Theologen August Frederik Hildner geleitet), wo Thukydides, Demosthenes und Xenophon von den jungen Schönen exponirt werden, als ob man es darauf anlegte, sie zu Blaustrümpfen heranzuziehen.“
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Bildung wird in Hermoupolis, der Verwaltungshauptstadt der Kykladen und dem Sitz der Universität der Ägäis, immer noch großgeschrieben. Aber … einige Generationen später kann man sagen: Das mit den „Blaustrümpfen“ hat nicht so ganz funktioniert.
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Ludwig Roß ahnte das 1841 schon: „Abends gingen wir auf den Spaziergang auf dem geebneten Felsenufer an der Nordseite der Stadt, der der seltsamen Namen Vaporia führt und wo sich die ganze schöne Welt im Mondschein versammelt; denn am Tage sind die Väter, Männer und Brüder der Hermupolitinnen in der Schreibstube und im Waarenlager beschäftigt, und obgleich sie das Tageslicht nicht zu scheuen brauchen, haben sie doch bei diesen abendlichen Spaziergängen den großen Vortheil, daß sie sich unbemerkt der Lieblingssünde fast aller morgenländischen Damen hingeben dürfen, die Fersen der Schuhe mit den niedlichen kleinen Füßen niederzutreten und sie so als Pantoffeln zu mißbrauchen.“
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Was die Sünden des Bürgertums angeht … tagsüber waren die Damen aus Hermoupolis auch mit anderen Dingen beschäftigt als mit gesundheitsfördernden Spaziergängen. Emmanouil Roidis (1836-1904), der aus Syros stammte, schrieb in seiner Erzählung ‚Geschichte eines Pferdes‘:
”Gleich nach dem Mittagsmahl versammelten sich die Frauen in diesem oder jenem Haus und schwelgten in den sechs Stunden bis zum Abendessen in Kartenspiel und Klatsch. Die Syrianerinnen standen damals zu Recht in dem Ruf, auf beiden Gebieten Spitzenleistungen zu erbringen.”
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Nikolaos Dragoumis sah die Männer des Ortes auch eher nicht beim Spaziergang mit ihren Damen. Sie scheinen vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit Vorliebe in ihren Clubs abzuhängen. Ein Familienleben fände kaum statt, sagt er:
“Nikolaos Dragoumis 1866: The men, as soon as they rise in the morning, go to their clubs and drink coffee before going about their business. They do the same at mid-day and in the evening; and after dinner they go to their clubs until midnight, so that domestic life is almost unknown.”
(‘Hermoupolis’, J. Travlos & A. Kokkou, Athen 1984)
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Jedenfalls war Hermoupolis doch allgemein bekannt für seine abendliche ‘volta’ … πάμε μια βόλτα στο φεγγάρι …! Und für seine Ball-Saison. Insgesamt war Musik und Tanz, Oper und Theater hier immer schon bedeutender als die bildende Kunst. Die sorgte eigentlich immer nur für die Deko am Rand: Portraitbüsten, Bildleisten im Salon. Ist heute nicht so viel anders …
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Kreativität an der Wand, Hermoupolis 2012
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Ab und zu wollte ich wenigstens schon mal das U-Bahn-Objekt von Martin Kippenberger suchen! Aber dann war es mir doch immer zu mühsam. Wer von den Leuten auf Syros weiß wohl, daß sie seit 1993 einen „Eingang“ zu Kippenbergers „Welt-U-Bahn“ (dem Metro-Net) auf ihrer Insel haben? Michel Würthle, einer der Besitzer der Berliner ‚Paris Bar‘, hatte Kippenberger nach Syros gebracht. Kippenberger (1953-1997), der, als er noch bei uns in Essen lebte, bloß „Kippi“ hieß. Der damals noch eine Dekorateur-Lehre absolvierte und mit seiner großen Klappe von niemandem in der „Szene“ so richtig ernst genommen wurde. Aber darauf ist es ihm ja auch nie angekommen …
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Kippenberger mit 17 (rechts im Kaftan) und seine Essener WG, 1970, beim gemeinsamen Bad (hallo Birgit!)
(Foto: NRZ, Fotograf und Veröffentlichungstag leider unbekannt)

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22:20, Transit … hinten die Nachtfähre Piräus-Rhodos
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Baedeker „Griechenland“, 1908: „Hermupolis – Ausschiffen 1 Dr., Schiffer unverschämt, man akkordiere in italien. Sprache.“
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Die Dampfer aus Piräus konnten damals im Hafen von Hermoupolis noch nicht am Kai anlegen, die Passagiere mußten per Boot an Land gebracht werden. Ein Hotelzimmer in Hermoupolis kostete 1908 übrigens 3 Drachmen pro Nacht, eine Schachtel Lukumia 2 Drachmen. Die Überfahrt von Piräus dauerte damals 9 Stunden (heute 4). Italienisch wurde damals noch häufig auf der Insel gesprochen; in vielen Berufen waren Italiener beschäftigt. Emmanouil Roidis erzählt von Droschkenkutschern aus Kalabrien und von italienischen Portraitmalern. Mich erstaunt immer, wie wenig in der Inselhauptstadt vom italienischen Erbe geblieben ist. Besonders im Gastgewerbe. Aber da ist ja immerhin noch (seit 1862) das der Mailänder Scala nachempfundene Opernhaus …
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WEITER ZU SEITE … hm, ich habe noch 12 weitere Seiten über Syros … wenn Sie noch mehr über die Insel lesen wollen, schauen Sie doch am besten gleich auf die Liste!
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4 comments

  1. Im 19. Jahrhundert hinterließen in der Regel nur Archäologen und Philologen aus dem Norden Europas ihre Erinnerungen über das “neue” Griechenland, das sie – auf der Suche nach den Spuren der Antike – meist gezwungenermaßen akzeptieren mußten. Oft waren die Herren (es waren in der Regel nur Herren) enttäuscht von der Realität, die sie im Lande antrafen.

    Da ist man erfreut, mal die speziellen Erinnerungen von jemandem zu hören, der aus einer ganz anderen Geisteswelt stammt. Joseph Ch. Achleitner (1823-1891) kam aus Bayern, war Musiklehrer und Komponist, Virtuose auf der Zither, beherrschte aber eine Vielzahl von Instrumenten … ja alles ging: Klavier, Pianoforte, Orgel, Harfe, Violine, Blasmusik wie Gesang. Er wird erst in München zu einem kleinen musikalischen Lokalhelden, wird dann zum “Kammervirtuos” des Königs Otto in Athen ernannt. Und er hinterläßt uns seine Autobiografie. Die hat das Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern als Hörbuch-CD mit vielen Musikbeispielen herausgebracht “Von Frasdorf nach Griechenland”:

    http://www.volksmusik-archiv.de/vma/cd_achleitner

    Achleitner war ein weitgereister und neugieriger Mensch. In den USA – wo er zu einem Sängerfest in Baltimore eingeladen war – hat es ihm allerdings nicht so sehr gefallen, und New York war ihm zu unruhig … aber wenn er aus Ägypten zurückkehrt, komponiert er gleich die “Pyramiden-Polka” und die “Nilbarken-Polka” … 🙂 …

    Ende Juni 1853 bleibt er aus Versehen kurz in Hermoupolis hängen. Er ist per Dampfsegler nach Jerusalem unterwegs, erfährt aber erst nach der Abfahrt aus Piräus, daß es keine Landung in Jaffa geben wird. Darum verläßt er das Schiff auf Syros. Erst acht Tage später kommt der nächste passende Dampfer, also quartiert sich Achleitner in Hermoupolis bei einem deutschen Gastwirt ein und verbringt seine Abende damit, bei den Abendgesellschaften des österreichischen Konsuls auf der Zither aufzuspielen. Und “ich schied am Ende sogar schwer von dem kleinen Neste Hermopolis”.

    Danke, Marga, für die CD!

  2. Das mit den „Abendgesellschaften beim österreichischen Konsul“ hört sich dramatischer an, als es wohl war. Der Konsul auf Syros war von 1851 bis 1868 der aus Frankfurt stammende Dr. Johann Georg von Hahn, und der Jurist und Balkanforscher (Albanien-Spezialist) war für seine bescheidene Art bekannt. Hahn (1811-1869) hatte mit 21 Jahren (!) in Heidelberg promoviert und lebte schon seit 1834 in Griechenland.

  3. Gerade ist ein Kippenberger-Selbstportrait bei Christie’s für 3,2 Millionen Pfund verkauft worden …!
    Ich weiß ja nicht, ob der “Eingang zur Welt-U-Bahn” in Syros auf privatem oder öffentlichem Grund steht … vielleicht könnte (im zweiten Fall) ein Verkauf des Objekts dazu beitragen, den Haushalt der Insel-Verwaltung ein wenig zu sanieren … 🙂 …

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