Speth: Abiturreise 1901


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Um 1900, Reiter auf dem Parnass (Foto Antoine Bon)
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Mit der Zeit wird es schwieriger, Reisebeschreibungen von Griechenland aus der Zeit um 1900 zu finden, die ich noch nicht kenne. (Ja, ich bin ein sehr merkwürdiger Literatur-Konsument.) Es war schon Zufall, am selben Tag im Januar 2011 beim ZVAB gleich zweimal erfolgreich zu sein:
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Fund 1: Unter der Sonne Homers (Erlebnisse und Bekenntnisse eine Dilettanten) von Wolfgang von Oettingen (Grunow/Leipzig, 1897)
Fund 2: Auf klassischem Boden (Wanderungen durch den Peloponnes und in Kleinasien) von Edmund von Speth-Schülzburg (Roth/München und Wien, 1903)
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Beide Bücher standen seit fast zwanzig Jahren auf meiner Suchliste. Oettingens Buch war beim ZVAB plötzlich gleich dreimal vertreten, Speth-Schülzburgs Buch gehörte zu einem Konvolut von vier Büchern (von denen ich die drei anderen in besseren Ausgaben bereits hatte). Das Antiquariat in Konstanz hatte das offensichtlich ungelesene Buch (zu Recht) als “Rarität” gekennzeichnet, verkaufte es aber trotzdem zu einem recht günstigen Preis. Jemand hatte nämlich irgendwann den Einband mit einer Art Stofftapete beklebt … Typ Frühstückszimmerwand von Pension Hildegard. Sehr hübsch.
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Beide Autoren hatten, 1896 und 1901, praktisch die gleiche Strecke zurückgelegt. Wer waren die beiden?
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Baron Wolfgang von Oettingen
, Besitzer der Burg Reichenberg am Rhein, war 1896 noch Professor für Kunst- und Literaturgeschichte an der Kunstakademie Düsseldorf, er wurde später noch Leiter des Goethe-Nationalmuseums in Weimar und Direktor des Goethe-und-Schiller-Archivs.
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Die Speths sind alter schwäbischer Adel. (Seit 1452 gehört ihnen die Schülzburg bei Anhausen/Reutlingen. 1884 wurde die Burg durch einen Brand zerstört.) Und der (laut Institut Deutsche Adelsforschung) spätere “Doktor beider Rechte” Edmund Freiherr von Speth-Schülzburg? Der hatte gerade 1901 am Gymnasium in Ehingen an der Donau sein Abitur gemacht …
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Das Ehinger Gymnasium um 1900 (Quelle: Enslin, wikipedia)
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Sie dürfen raten, welches Buch interessanter zu lesen ist! Das zweite, tatsächlich. Obwohl der Anfang den Leser abschreckt. Den Anfang, die Bahn-Reise durch die Schweiz und Ober-Italien, hat Karl-Theodor zu Gu… äh, sorry … Edmund von Speth-Schülzburg wohl im Kern aus dem Reiseführer abgeschrieben und mit poetischen blumigst-steifen Wendungen “verschönert”, die höchstens seinem Deutschlehrer in der Abitur-Prüfung gefallen hätten.
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Aber dann kommt Speth-Schülzburg und sein Begleiter nach Venedig und es gibt prompt Streit mit dem Gondoliere, der auf der Strecke zum Hotel am Riva degli Schiavoni nicht komplett den Canale Grande hinunterfahren will, sondern ab der Rialto-Brücke durch einen engen, müllstinkenden Kanal abkürzt, und nun fängt die Geschichte an, persönlich und direkt zu werden! Edmund ärgert sich! Und Edmund kann nämlich wirklich Geschichten schreiben, wenn ihn etwas wirklich angeht!
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Und es ist nicht seine erste große Reise. Beiläufig erwähnt er seine Rom-Erfahrungen (letzte Sommerferien). Seine Alpen-Touren. Und im Peloponnes wandert er nicht … da ist man eine Woche lang zu Pferd unterwegs. Täglich 12 bis 14 Stunden auf dem Holzsattel. Fünf Tage von Olympia bis Tripolis, im Bogen über den Taygetos. Ja, reiten kann der schwäbische Jung-Adel auch …
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Was das Reisetempo auf dem Peloponnes angeht – das sagt der Griechenlandexperte J.P. Mahaffy (“Rambles in Greece“, 1900) dazu: “There is now, alas ! a railway from Argos to Tripoli in progress.
By this means even ladies can easily cross the Morea. Two days’ driving to Megalopolis, two days’ riding to Olympia, and an easy day’s drive and train to Katakolo, would be the absolute time required for the transit.” Mahaffy würde auf dem leichtesten Weg, mit den bequemsten Verkehrsmitteln, ohne größeren Aufenthalt zwischendurch, fünf Tage einplanen, von Küste zu Küste. Dann könnten es allerdings auch (ähem) Frauen bewältigen …
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Aber Speth-Schülzburg nimmt ab Olympia weglose Strecken quer durch den Peloponnes, er macht einen Riesenbogen über Kalamata und Sparta, er nimmt Gebirgspässe, und findet noch Zeit für Besichtigungen zwischendurch! Und die Pferde-Treiber laufen (!) hinterher und füllen sich vor dem Einschlafen noch gut ab: “Die (zwei) Agojaten nächtigten bei den Pferden. Die Kerls hatten sich für den anstrengenden Marsch entschädigt. Als wir nach ihnen sahen, waren sie so betrunken, daß sie uns nicht mehr erkannten. Sie hatten 8 Liter Rezinatwein, zwei Brotlaibe, zwölf Eier und zwei Pfund Käse vertilgt.”
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Ja, es wird auf der ganzen Reise ein ganz schönes Tempo vorgelegt. Korfu in drei Stunden. Athen in 1,5 Tagen (das reicht noch für einen Ausflug nach Eleusis). Ein Vormittag in Delphi (inklusive Anreise ab Itea und Rückreise nach Itea). Sparta (eine Nacht). Auf der Bahnfahrt von Korinth nach Patras muß man sich über eine unplanmäßige Pause in Platanos ärgern. Wieso? “Der Kondukteur ist saufen gegangen …” Aha. Wunderbares Hellas …
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Auch später, das Fürstentum Samos in ein paar Stunden. Smyrna, immerhin zwei Tage, usw. …
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Zu dem Tempo gehört Reiseerfahrung, gute körperliche Kondition, und Reise-Kapital. Das fängt schon damit an, daß die dreieinhalbtägige Reise von Triest bis Piräus mit der VESTA des Österreichischen Lloyd (Quelle: Baedeker Griechenland von 1904) pro Person in der 1. Klasse 226 Francs kostete. Speth-Schülzburg fährt 1.Klasse. Da gibt es dann auch regelmäßig ein siebengängiges Essen am Kapitänstisch! (Der Kapitän ist allerdings ein Stiesel … sorry, er ist “sehr reserviert”.) Und Edmund wird in Triest zunächst nicht standesgemäß behandelt: “Das Personal in den Bureaux ist nicht besonders entgegenkommend. Wir wurden freilich anfangs, wie es scheint, unserer Touristenanzüge wegen für Zwischendeckpassagiere gehalten.”
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Aber er gewöhnt sich später noch zwangsläufig an andere Leute niederen Standes: “Diese Ziegenhirten sind gefährliche Menschen, es ist ihnen nie zu trauen.” Da läßt man besser gleich seine Waffe sehen: “Unsere Revolver, die wir recht ostentativ vor uns hinlegten, bewirkten aber bald, daß die unheimlichen Burschen sich trollten.” (Tag in Phigalia)
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Der Aufstieg durch die Plaka am Anfang des 20. Jahrhunderts. An einem Sonntagnachmittag hat Speth-Schülzburg die Akropolis ganz für sich allein. Beneidenswert. (Foto Antoine Bon)
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Das Zimmer im Erster-Klasse-Hotel D’Athènes in Athen kostete 10 Francs (Vollpension). Über die Woche mit Dragoman, Pferden und Treibern auf dem Peloponnes schweigt Speth-Schülzburg vornehm … laut Meyers Reisebüchern mußte man jedoch mit einem Tagespreis von 50 Francs rechnen.
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Zum Vergleich: 10 Francs bzw. Drachmen entsprachen ca. 6 Mark in Reichsbanknoten, wenn man sie in Athen wechselte. Ein Zimmer in einem Erster-Klasse-Hotel kostete in Berlin 1900 zwischen 4-40 Mark, ein Mittelkasse-Hotel kostete um 2 Mark, ein halber Liter Bier 20 Pfennig. (Quelle: Baedeker Berlin 1900) Das griechische Durchschnittseinkommen beträgt um 1900 etwa 20 Drachmen im Monat.
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Piräus, Munychia-Hafen, heute Mikrolimani
(Foto National Geographic Magazine 1930)

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Auf die Peloponnes-Reise werden auch 24 Flaschen Patras-Wein mitgenommen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, irgendwo Retsina trinken zu müssen. Und flaschenweise Insektenpulver. Speth-Schülzburg reist im August. Und mitten im Sommer sind die kleinen Plagegeister ja überall. Meyers Reisebuch “Griechenland und Kleinasien” von 1906 mahnt: “Es empfiehlt sich, Landtouren in Griechenland um die Osterzeit zu machen, da zu diesem Feste der Grieche sich, sein Hausgerät und Haus wäscht und man dann weniger durch Ungeziefer leidet. Doch bekommt man um diese Zeit wegen der Fasten nirgends was ordentliches zu essen.” (Man kann eben nicht alles haben …) Man solle für die Hygiene ggf. auch “eine Gummibadewanne mitnehmen”!
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Das mit der Gummibadewanne kann auch danebengehen. In Mavromati (am messenischen Golf) will Speth-Schülzburg und sein Begleiter zur Dorfquelle, doch: “… als wir uns dem klar sprudelnden Wasser näherten, kamen mit allen Zeichen großer Aufregung Männer, Frauen und Kinder herbeigesprungen. Während sich die Leute in einem fort bekreuzten, erklärten sie mit Bestimmtheit, diese Franken, diese Ungläubigen, dürften nie und nimmer aus der Quelle trinken.” Die Reisenden verzichten darauf, Gewalt anzuwenden, reiten weiter. Badewasser statt Trinkwasser hätten sie als Nichtorthodoxe wohl auch nicht gekriegt …
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Nebenbei: Am Ende der Orientreise kriegt Speth-Schülzburg als “Ungläubiger” noch was mit dem Schirm verpaßt, als er einer vornehmen türkischen Dame auf der Galatabrücke in Konstantinopel nicht rechtzeitig ausweicht …
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Zurück: Kurz vorher hatten sie in Meligala (3000 Einwohner) angehalten und versucht, Brot zu kaufen. Keine Chance. In Meligala gab es allerdings ein “Hotel”, in dem sie wenigstens Kaffee kriegten. Da konnte allerdings “der Hotelier nicht einmal einen Fünfdrachmenschein wechseln”.
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Geführte Gruppe … 🙂 … in Touristenort Olympia um 1900 (Foto Mahaffy)
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Und den Baedeker hat Speth-Schülzburg auch dabei (bis er in Kalamata von Taschendieben geklaut wird). Und einen Revolver eben auch. Man ist auf alles vorbereitet. (Auf dem Peloponnes ist die Bewaffnung zwar um 1900 nicht mehr nötig, im Gegensatz zum nordgriechischen Grenzland, und Speth-Schülzburg muß später tief in seine Bakschisch-Tasche greifen, um die Revolver durch den osmanischen Zoll zu kriegen …)
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Und die orthodoxe Kirche hatte damals ja nicht nur Fastenzeiten in der Vor-Osterzeit. Nein, auch mitten im Sommer! Auf den Pferden muß also alles Mögliche an Vorräten mitgeschleppt werden, um Überraschungen vorzubeugen. Im Kloster Vurkano werden sie gerne empfangen, aber: “Ein junger Klosterbruder in schwarzem Habit, das Haar in Zöpfe gewunden, heißt uns auf dem Balkon Platz nehmen. Er bringt uns Weintrauben und schaut dann mit resignierter Miene zu, wie wir den Koffern ein kaltes Huhn, Sardinen usw. entnehmen und eine Flasche Wein entkorken, lauter verbotene Dinge für den armen Kerl, der jetzt während der Fastenzeit nur Obst genießen darf.”
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Was den Glauben und den Aberglauben angeht, ist unser Edmund ja schon des öfteren überrascht, aber auch die Moral ist nicht die schwäbische. Im Gefängnis von Kalamata zum Beispiel sind alle Gefangenen, ob alt, ob jung, ob männlich oder weiblich im selben Raum eingesperrt und “da scheint es recht ungezwungen und vergnügt zuzugehen”. Und “… im ‘freien’ Griechenland erachtet man jegliches Badekostüm für Überfluß. Man steigt in Phaleron und Piräus nur im Gewande der Natur in das nasse Element und – es geht auch so.” Da staunt der Abiturient …
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Ein anderes Beispiel … was die griechischen Waisenkinder angeht. Es gibt einfach zu viele davon, und sie werden an der Straße von Athen nach Piräus einfach ausgesetzt. Speth-Schülzburgs Peloponnes-Reiseführer Christos hatte auch ein Findelkind. Christos hatte den Jungen an der Straße aufgesammelt und großgezogen. Aber ” … vor einigen Tagen habe er den Burschen ‘verschenkt’, da dieser ihm zu lästig geworden sei und er ihn nicht genügend beaufsichtigen könne.”
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Peloponnes, bei Karytena (Foto National Geographic Magazine 1930)
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Wie war das? Reisen bildet? Nachdem Speth-Schülzburg so einiges an Armut und Elend in Griechenland und in der Türkei gesehen hat, sind seine Augen jedenfalls weiter für die Welt geöffnet: “Wie nahe sind doch auf einem Schiff soziale Gegensätze zusammengedrängt?” fragt er sich auf der Fahrt nach Konstantinopel, als er das Zwischendeck, die dritte Klasse des Schiffes, besucht. “Von diesem Ort der Not und des Elends sind es nur wenige Schritte zu dem glänzend, ja luxuriös ausgestatteten Salon, wo eine sorglose, vergnügte Menschheit sich bewegt und an wohlbesetzter Tafel heiter plaudert.” Edmunds Tischdame auf der Fahrt nach Smyrna war eine ältere Französin, die bereits zwei Weltreisen hinter sich hatte …
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Natürlich wird des öfteren versucht, Speth-Schülzburg und seinen Begleiter über’s Ohr zu hauen. Aber er bleibt erstaunlich gelassen dabei – im Vergleich mit anderen Chronisten der Zeit. Er schaut amüsiert zu, wie andere Reisende übervorteilt werden: “Keine Nation ist in Griechenland mehr verhaßt als die amerikanische wegen ihres unbegrenzt hochmütigen Wesens, keine Nation wird aber auch mehr betrogen als diese. Die Herren Onkels aus Amerika beglichen zähneknischend ihre Rechnung.”
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Unser reisender Schwabe muß ja auch nicht auf den Pfennig schauen. Er kann sogar durchaus zäh um seine Rechnung feilschen. Aber er gibt am Ende der Peloponnes-Tour 20 Drachmen Trinkgeld an jeden Pferdeführer. Drako und Jorje sind überglücklich. 20 Drachmen sind ein Durchschnitts-Monatslohn …
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4 comments

  1. “Sie hatten 8 Liter Rezinatwein, zwei Brotlaibe, zwölf Eier und zwei Pfund Käse vertilgt.”

    na gut, das kann man noch nachvollziehen…

    ” … vor einigen Tagen habe er den Burschen ‘verschenkt’, da dieser ihm zu lästig geworden sei und er ihn nicht genügend beaufsichtigen könne.”

    …diesen Text nur schwerlicher.

    Danke für die Einblicke, Theo! Solche Quellen finde ich selbst nicht im Netz. Chapeau!

    Gruß
    Richi

  2. Richi, der Autor ist da auch irritiert. Er schreibt über “den Überschuß” in den überfüllten Waisenhäusern: “Man setzt die Kinder aus, und da es in einem Kulturstaat – das Königreich Griechenland will wenigstens ein solcher sein – doch nicht ziemen würde, ganz nach dem Rezept der alten Spartaner zu verfahren, so plaziert man die Kleinen entlang der belebten Strecke Piräus-Athen. Eine mitleidige Seele wird ein menschliches Rühren fühlen und den einen oder anderen von der reichen Auswahl der jungen Weltbürger mit nach Hause nehmen und aufziehen.”

  3. Hallo,
    Ich bin die Enkelin von Eberhard Speth von Schulzurg. Felicitas Speth von Schulzburg. Ich lebe in Holland und habe diesen ‘Link’ von Familie in Deutschland bekommen.
    Ich habe das Originale, handgeschriebene Manuskript und das gedruckte Exemplar des Buches vo meinem Opa: ‘Auf klassischem Boden’.
    Mit freundlichem Gruss,

    Felicitas Speth von Schulzburg
    management@ipatheater.nl

  4. Ich hatte mit Felicitas Speth von Schulzburg noch einen Email-Wechsel wegen ihres Großvaters. Felicitas hatte Dokumente über sein Leben herausgesucht und “hatte Lust”, etwas wie eine kurze Biografie über ihn zu verfassen. (Er hatte noch ein wildbewegtes Leben …)
    Da sie aber mit vielen anderen Dingen beschäftigt ist, ist daraus (bis heute) leider nichts geworden. Und ich will hier auch nicht Informationen aus ihren mails zitieren.

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