Wenn ich mal groß bin …

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„Kinder sind zu gut dafür, dem Moloch der Gewohnheit, Konvention, Gedankenlosigkeit und bürgerlichen Feigheit geopfert zu werden.“ Gustav Wyneken 1963
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Uns hat die Panaghia von oben im Blick. Und sie, beziehungsweise ihr Bild des lokalen Künstlers Vasilis Hatsivasilis, trägt die traditionelle Tracht der Frauen von Olympos. Aber nicht alle Frauen auf dem Vorplatz der Kirche sehen heute aus wie die Jungfrau Maria …
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Hm, so neuzeitlich aufgebrezelt sind nur die zugereisten Cousinen aus der Hauptstadt …? Ach so. Wir warten ja alle auf den Beginn der heutigen Feierlichkeit, einer Doppeltaufe in der Verwandtschaft der Familie L. Ja, die L. sind die Inhaber der Taverne Olympos, und ich hatte ihnen Grüße aus Deutschland auszurichten. Deshalb bin ich jetzt auch hier. Grüße von fernen Freunden hin, und umgehend Einladung zur Taufe her … so ist das bei den gastfreundlichen Griechen. Da sagt man nicht nein, auch wenn man nicht viel von christlichen Festen hält, denn wann gibt es eine bessere Gelegenheit, mal zu sehen, wer-denn-wer im Dorf ist!
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Ja, die traditionelle Tracht tragen noch viele Frauen in Diafani und Olympos, nicht nur die Inhaberinnen der Souvenirläden, die damit die Touristen anlocken. Tracht tragen die Frauen auch beim Ziegenhüten und bei der Gartenarbeit, wo sie gar keiner sieht – im Sommer sogar strahlendes Weiß. Die Männer tun es nicht mehr, vom Dienstanzug der orthodoxen Priester mal abgesehen …
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Getauft wird heute ein Junge, der noch kein Jahr alt ist, und ein vierjähriges Mädchen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Kinder in diesem Alter getauft werden, obwohl das in der Regel kurz vor dem ersten Geburtstag geschieht. Es heißt, das Mädchen sei längere Zeit krank gewesen. (Manchmal werden Taufen eines Kindes auch aufgeschoben, wenn es einen Trauerfall in der Familie gibt.) Offensichtlich weiß die Kleine noch nicht, was auf sie zukommt. Ihr Märchen-Gewand, auf das sie so stolz zu sein scheint, zieht alle Blicke auf sich, während sie auf dem Kirchenvorplatz hin und her hüpft.
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Kurz darauf ist die Kirche rammelvoll mit Taufgästen. Die Taufkinder verstehen von den einleitenden Sätzen und Gebeten, die die Taufpaten und der Papas sprechen, nicht ganz so viel. Na, macht ja nichts …
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Bei einer orthodoxen Taufe herrscht in der Kirche immer eine Art Party-Stimmung. Mit der Taufe wird der Täufling ja nicht nur in die religiöse, sondern auch in die soziale Gemeinschaft aufgenommen. (Darum stammen die Taufpaten ja häufig nicht aus der Verwandtschaft, sondern sind sozial höher stehende Personen. Abgeordnete des Wahlkreises sind an vielen Orten sehr beliebt, gegen blockweise vergebene Wahlstimmen werden ja häufig Stellen im öffentlichen Dienst frei …) Und die Gemeinschaft ist bei so einer Gelegenheit nun mal nicht nordisch-fromm-ergriffen, sondern putzmunter …
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… bis auf den engeren Familienkreis, der ist generationsübergreifend manchmal sogar ernst und nachdenklich. (Die finanzielle Belastung durch eine Taufe ist ja auch enorm.) Man erkennt die Verwandten der Taufkinder in Olympos heute daran, daß sie alle einen 50-Euro-Schein unter ihrem Tauf-Abzeichen an ihrer Kleidung befestigt haben:
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Und alle, alle, alle haben eine Kamera oder ein Foto-Handy dabei und fotografieren wie verrückt …
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… ich auch. Es ist nicht die erste Taufe, die ich erlebe, ich weiß also auch, wo man wann stehen muß, um die beste Kamera-Perspektive zu haben. Ich hätte inzwischen genug Bilder für ein folkloristisches Lehrbuch.
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Bilder von der Doppel-Taufe gibt es an dieser Stelle aber keine. Bei manchen Angelegenheiten macht man besser das Licht aus …
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Der kleine Junge läßt die Taufe noch einigermaßen widerstandslos über sich ergehen. Der Prozeß ist, inklusive Öl-Verteilen, Haarsträhnen-Abschneiden und Dreifach-Untertauchen schnell vorüber. Vorher gab es noch die Baby-Flasche, dann erstarrt er nackt im Wasser vor Schreck, ein paar Tränen, vorbei.
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Nicht so bei dem Mädchen. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen und Hilfeschreien gegen das, was sie deutlich als Demütigung empfindet … nur kennen Priester, Paten und Verwandte absolut kein Erbarmen. Verona, Taufgast aus München, ekelt sich vor diesem unappetitlichen Prozeß so sehr, daß sie auf dem Absatz kehrtmacht und die Kirche verläßt. Sie ist noch den ganzen Abend wütend über diesen kollektiven Zwang: „Was heißt hier Tradition und Religion? Das Mädchen hat jetzt ein Trauma abgekriegt fürs Leben!“
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Wenn sie die zwar verlegen lächelnden, aber doch verkniffen schadenfrohen Gesichter der Erwachsenen in meinen Fotos gesehen hätte, hätte es ihr noch weniger gefallen …
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Und, lange nach Ende der Veranstaltung in der Kirche, als draußen Whiskygläser und die Taufgeschenke an die Gäste verteilt werden …
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… da ist die Kleine in ein brautweißes Kostüm gekleidet, aber sie hört immer noch nicht auf  zu weinen. Und sie will sich auch gar nicht mehr anschauen lassen. Traumatisiert? Zumindest fühlt sie sich wohl echt „gelinkt“ … aber wartet, wenn ich mal groß bin, dann …
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Nun, ich fand es bei dem Jungen nicht weniger „traumatisch“, wenn es bei ihm auch nicht so einen dramatischen Widerstand gab. In seinem Alter empfindet man so etwas wie “Scham” wohl noch nicht so deutlich. Was soll ich am Ende dazu sagen? Auf das Ritual der Taufe kommt es ja gar nicht an. Und … wer in Olympos aufgewachsen ist, hatte am heutigen Abend sicher kaum was auszusetzen.  Ich finde es nur generell nicht richtig, schon Kinder zwangsweise einer Religionsgemeinschaft zuzuführen. Für einen solchen Beitritt (oder dagegen) entscheidet man sich besser erst, wenn man erwachsen ist.
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Karheinz Deschner: „Das Aufkommen der Kindertaufe liegt ziemlich im Dunkel. Im Neuen Testament ist von ihr nirgends die Rede. Vermutlich hat man in der Kirche erst Ende des 2. Jahrhunderts Kinder getauft – und die Neuerung gleich auf apostolische Tradition zurückgeführt. Im 3. Jahrhundert schrieb das Taufritual der Hippolytischen Kirchenordnung die Kindertaufe, den baptismus infantium, bereits vor. Im 4. Jahrhundert möchte Gregor von Nazianz die Menschen erst mit drei Jahren taufen lassen, damit ihnen schon etwas von dem widerfahrenen Glück dämmere. Aber noch bis zum Beginn des Mittelalters war die Erwachsenentaufe die Regel.“ (‚Abermals krähte der Hahn‘, Kap. 33)
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Wir sind zu dritt aus Diafani heraufgekommen und sind jetzt unschlüssig. Zum Tauf-Feier im Megaron wollen wir nicht mehr. Das war uns irgendwie schon vor dem Ritual in der Kirche klar. Verona ist immer noch echt geladen, der Wahl-Münchner Peter denkt an das Pokalendspiel Bayern München – Borussia Dortmund. Papa Minas taucht auf, in seinem eleganten Schlumpf-Outfit, nein, er will auch nicht in den Gemeindesaal. Aber er hat irgendwo im Durcheinander seine Frau verloren, und er muß morgen um fünf aufstehen, es ist doch Sonntag, ob wir ihn mitnehmen können nach Diafani?
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Im Prinzip gerne. Aber wir wollen jetzt rüber ins Parthenon … was essen und dann Fußball … und fahren ja erst nach dem Schlußpfiff runter zur Küste, das kann spät werden. Trotzdem, kommen Sie mit, Papas, wenigstens auf einen Wein? Wir diskutieren … vielleicht … auch über nichts Kontroverses mehr. Aber Minas, der frühere Gast-Heidelberger, winkt dankend ab, er muß morgen ausgeschlafen sein.
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Karlheinz Deschner: „Dagegen ist merkwürdig, daß Jesus, von dem die christliche Taufe herrühren soll, niemals selbst getauft hat. Das Johannesevangelium, das im 3. Kapitel die Taufe auf ihn zurückführt und zweimal bemerkt, er habe getauft, versichert im 4. Kapitel das Gegenteil. (…) Aber auch die Apostel erhielten keinen Taufauftrag. (…) Die Apostel, die nicht taufen sollten, wurden auch nicht selber getauft.“ (‚Abermals krähte der Hahn‘, Kap. 33)
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– Gustav Wyneken „Abschied vom Christentum“
Szczesny/München 1963 und Rowohlt/Reinbek 1970
– Karlheinz Deschner „Abermals krähte der Hahn“
H. E. Günther/Stuttgart 1962 und Rowohlt/Reinbek 1972
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10 comments

  1. Hallo Theo –

    Gleich zwei Lendákis-Großfamilien-Kinder getauft, Donnerwetter! Marina und ihr Manólis werden stolz gewesen sein.
    Die Kleine Anna (ob sie wirklich schon 4 ist?) war Anfang Juni bereits fast kahlgeschoren. Das macht man hier bei Kleinkindern ein einziges Mal, um den darauf folgenden Haarwuchs zu kräftigen.
    Der kleine Vassílis (?) lag stets in seinem Bettchen in einer Ecke des zugigen Lokals “Olympos” und wurde abwechselnd von allen Familienmitgliedern permanent angehimmelt.

    Papá Minás trinkt aus Überzeugung keinen Alkohol und ist auch nicht von Leuten begeistert, die das in Gegensatz zu ihm tun, obwohl es hier Brauch ist, nach bestimmtem kirchlichen Feiern Spirituosen anzubieten. Ihr habt ihn da auf was ganz Falsches eingeladen, und er hat die Flucht ergriffen (- hätte er aber sowieso gemacht).

    Grüßle
    MartinPUC

  2. Vielleicht haben wir Papa Minas in dem Durcheinander nach der Taufe auch nicht auf einen ‘Wein’, sondern nur auf ein ‘Glas’ eingeladen … aber wenn das Gespräch noch auf das ‘richtige’ Thema gekommen wäre, hätte er angesichts der Stimmung von Verona vielleicht doch noch die Flucht ergrifffen … 🙂 …

  3. Aus dem karpathos-forum.de: “jetzt bin ich mir sicher, dass ich von diesem Herrn Theo nichts mehr lesen werde. Nach dessen erstem Mal Olymbos in einer so überheblichen Art über Dinge berichtet zu bekommen, die anderen Menschen heilig sind, das muss ich nicht haben … Gruß Franz”
    Naja, der Franz liest das ja jetzt nicht mehr … aber wenn ich über eine Beschneidungsfeier in Damaskus oder Brooklyn berichtet hätte, hätte das auch nicht anders geklungen. Egal, ob die betroffenen Jungs sich “traumatisiert” fühlen oder was sie dann 20 Jahre später über diese Feier denken … 🙂 …

  4. Das mit den Beschneidungen ist ja derzeit großes Thema (nicht nur) in Köln.
    Aber um noch einmal auf die Tauffeier in Olympos zu kommen: Wer sich in den Traditionen seines Gastlandes nicht auskennt und sich auch nicht vorher informiert, sollte sich zumindest in seinen Reaktionen zurückhalten. Wutentbranntes Verlassen des Taufgeschehens und lautstarke Kritik an Tradition und Religion finde ich nicht gerade ein angemessenes Verhalten den Gastgebern gegenüber.

  5. Rausgehen und Wut haben darf man immer, liebe Kassandra. Und die ‘lautstarke Kritik’ hat Verona ja nicht gegenüber den Griechen geäußert, nur uns gegenüber – vielleicht habe ich das ja nicht deutlich genug gesagt. Theo
    PS. Noch mal … ich glaube nicht, daß man die drastischen Bilder von der Mädchen-Taufe hier erst sehen müßte, um die Entrüstung zu verstehen. Aber bestimmt hat noch einer von den Gastgebern ein Video davon, die sehen das ja eben anders …

  6. Dann hast du das jetzt ja deutlich gemacht – danke.

    Ich hatte nämlich ein eigenes krasses Erlebnis vor Augen:
    Vor einigen Jahren wurde ich (als einzige Fremde) von einem Dorf im Hochland von Sri Lanka zu einer Tempelfeier (Puja) eingeladen, bei der von allen Besuchern u.a. der überdimensionale Lingam Shivas mit Kokosmilch eingerieben wurde. Bei meiner abendländischen Erziehung war das ein absolutes Unding und mir sträubten sich die Nackenhaare.
    Aber – kannst du dir vorstellen, welch ein Affront es gegenüber meinen Gastgebern (der Chefarzt des Krankenhauses) gewesen wäre, hätte ich mich da ausgeklinkt oder mich “still” vom Acker gemacht? Es wäre auch für den Gastgeber in seinem Dorf ein Skandal gewesen.

    Deshalb meine ich, dass Empathie für jeden Reisenden eines der wichtigsten “Kofferinhalte” sein sollte.

    LG Kassandra

  7. Bei einer griechischen Taufe ist es ja ein ständiges Kommen und Gehen. Da fällt es dem Gastgeber überhaupt nicht auf, wenn jemand, den er beiläufig miteingeladen hat, die Kirche verläßt.
    Und wenn, das würde nicht mal als Unhöflichkeit angesehen … schließlich müssen ja auch immer die Raucher zwischendurch mal raus … 🙂 …

  8. Die Zeit 05.07.2012 „Der Traum von der Schicksallosigkeit“: Hier beschreibt Robert Spaemann im weitesten Sinne das Thema religiöser Früh- und Fremdbestimmung. (Er findet übrigens, während er die Genitalverstümmelung bei Mädchen strikt ablehnt, die Beschneidung von Jungen sei „keine körperliche Verunstaltung und keine seelische Traumatisierung.“ Aber das Gerichtsurteil in Köln soll hier gar kein Thema sein.)
    Spaemann findet jedenfalls,“ daß ohne anfängliche Fremdbestimmung es nie eine Selbstbestimmung geben kann“. Das fängt schon bei der ‚Muttersprache‘ an, die man einem Kind ja auch ‚aufzwingt‘.
    Nur noch dieses Zitat aus seinem Text:
    Niemand kann seine Vergangenheit abschaffen, man hat sie so der so, und man muss mit ihr so oder so umgehen. „Frag nicht“, so schreibt Bertolt Brecht, „‘Was hat man aus mir gemacht?‘. Frage: ‚Was habe ich gemacht aus dem, was man aus mir gemacht hat?‘“

  9. Nachtrag, ein Zufallsfund zu Robert Spaemann. Spaemann hatte im Frühjahr das Buch “Über Gott und die Welt” veröffentlicht.
    Am 03.05.2012 rezensierte Robert Cammann in der ‘Zeit‘ das Buch, unter der Überschrift “Ich war ein Chaot”. Der letzte Satz des Textes, nach einer Überlegung über die Mönchsrepublik auf dem Berg Athos, deren Glaubensintensität “auch den fasziniert, dem sie fremd bleibt”, lautet:
    “Robert Spaemann ist ein erratischer Solitär, dessen Lebensweg von der frühkindlichen Erinnerung vorgezeichnet erscheint: Der dreijährige Täufling bettelte einst, noch in der Abtei bleiben zu dürfen – weil er beim Psalmodieren der Mönche “unbeschreibliches Wohlbehagen” empfand.
    Na denn …

  10. “Diese heilige Handlung besteht nicht wie bei uns in einer einfachen Benetzung des Scheitels des Kindes, sondern dieses wird ohne Rücksicht auf die Jahreszeit, in ein großes, mit eiskaltem Wasser angefülltes Becken eingetaucht, wo es, ohne seiner Schwäche zu achten, oder auf sein Geschrei zu hören, gewachsen (?), gebadet und grausam gerieben wird, denn ohne solche Procedur würde die Erbsünde, das Werk des Teufels – nach der Meinung der Griechen – nicht vertilgt werden können.”
    aus:
    Adolph von Schaden “Der Bayer in Griechenland”, Band 1, München 1833

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