Vrougounda, elf Stunden

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“Nach Vrougounda willst du? Jetzt um zwölf? Freiwillig? Zu Fuß? Äh, wir Esel lachen ja am liebsten über Touristen-Witze. Paß auf, ich erzähle dir mal einen …”
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Man kann sich den Weg nach Vrougounda auch ein bißchen schwer machen. Man zum Beispiel von Diafani aus dahin laufen, statt von Avlona. Aber es ist ja ein wunderschöner Forstweg über die Höhe (als OL10A gekennzeichnet), das bereut man nicht. Der Weg ist wunderbar geebnet, man braucht gar nicht auf die Erde zu schauen. Dann kann man seinen unsortierten Gedanken freien Lauf lassen …
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Sie können alternativ den OL10 benutzen, über Vananda, aber der Weg ist oben, unterhalb der Agios Georgios Kapelle, total überwuchert, und die Serpentinen in dem Waldhang darunter sind steil und unübersichtlich.
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Der OL10A-Forstweg wird an der Kammhöhe, kurz vor dem Hochtal von Avlona, allerdings zu einem gepflasterten Treppenweg. Auf den Treppen kam mir einmal ein Mountainbiker entgegen, der sein Rad auf der Schulter trug und nur mit zusammengebissenen Zähnen grüßte … aber er war nicht der einzige, der hier ohne vernünftige Karte unterwegs ist. Da war noch das italienische Rollerfahrer-Paar, das den Küstenweg nach Tristomo suchte, rechts ab vor Avlona, dann über Vananda. Auf der ‚Karte’, die ihnen der Roller-Verleiher gegeben hatte, war da schließlich ein durchgehender schwarzer Strich. Nein, keine Chance, Leute …
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Der Monopati OL10A hinunter ins Hochtal von Avlona
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Wie denn die andere Strecke sei, über Avlona nach Tristomo? Sie wollten doch auf jedem Fall bis zum äußersten Ende der Insel! Ich konnte ihnen nicht sagen, wie weit sie mit dem Roller, der für den Stadtverkehr konstruiert ist, überhaupt kommen würden. Ich kannte den Weg ja selbst noch nicht, aber auch diese Strecke ist auf den letzten Kilometern laut Karte und Wanderführer nur fürs Laufen (oder fürs Reiten) gedacht. Ob sie in ihrem Rucksack denn noch feste Schuhe hätten? Nein. Beide sind in Plastik-Sandalen unterwegs. Sie fuhren dann zurück nach Olympos „to hav-a lunch and-a think“.
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Avlona
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Aber Leute, die im Bauwesen und im Tourismus ihr Geld verdienen, sollen ja schon vorgeschlagen haben, nach Tristomo eine Asphaltstraße zu bauen. Klingt nach Geldverschwendung. Aber wenn es schließlich Fördermittel gibt … in Europa gibt es doch hunderte von (voll automatisierten) Leuchttürmen, die mit asphaltisierten Straßen an die Welt angeschlossen sind. Ist doch wichtig für den Lampenputzer, wenn der zweimal im Jahr kommt. Bei Tristomo gibts auch ein Leuchtfeuer …
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Die Taverna in Avlona
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Ich brauche für die Strecke Diafani-Avlona-Vrougounda-Avlona-Diafani (17 Kilometer) elf Stunden. Nein, das ist kein sportlicher Leistungsmaßstab … 🙂 … aber ich muß mich ja überall wegen irgendwas irgendwie aufhalten. Zum Beispiel in der Taverne von Avlona auf eine Portion Choriatiki, der hier wirklich ein Bauern-Salat ist. Nämlich ein Salat, den Bauern aus dem Dorf Avlona geerntet haben! Was hier auf dem Teller liegt, das ist hier auch gewachsen, und wird von der Lentakis-Familie so schlicht wie kunstvoll arrangiert:
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Noch sind die Tomaten ja nicht soweit, hier gibt es ja keine Gewächshäuser, aber es gibt noch jede Menge Horta (meist Meerfenchel, Krithama, wenn ich das richtig erkannt habe), Kapern, und die winzigen ortsüblichen Oliven. Erstaunlicherweise gibt es keine Artischockenböden dazu. Aber die hätten kalt ja nach Zitronenschärfe verlangt. Artischocken gab es im Mai sonst bei jeder Gelegenheit …
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Eigentlich wollte mich Jorgos vom Glaros-Hotel ja morgens mit dem Auto bis Avlona mitnehmen, als er zu seiner Garten-Baustelle fuhr … aber zur verabredeten Zeit war er einfach nirgendwo aufzutreiben. Da habe ich mir gedacht, auf zwei zusätzliche Stunden Fußweg käme es jetzt auch nicht mehr an …
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Das Feigenbaum-Tor
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Der Weg ab dem Feigenbaum-Tor zur Halbinsel ist ja schon vorher beschrieben worden. Mancher steht dafür mitten in der Nacht auf (kalimera, Katharina!), denn hier steht fast kein Baum mehr … kahles Land, schattenloser Weg, mal aus groben Steinen gesetzte Treppen, mal ärgerlich loses Geröll, das nur darauf wartet, die Gesetze der Schwerkraft herauszufordern. Aber verlaufen kann man sich nicht.
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Mitte Mai 2012 ist dort kaum ein Zweibeiner zu finden. Ferne Ziegenglocken klingen. Es sollen Hirten in den Hügeln sein. Ich sehe keinen. An dem Tag waren insgesamt vier Wanderer unterwegs. Nein, sechs. Nachmittags, schon nach fünf, kommt noch ein Pärchen, das seinen Jeep am Feigenbaum-Tor parkt. Sie fragen, ob man jetzt noch nach Vrougounda käme. Nein. Macht keinen Sinn mehr. Schade. Aber sie wollen „noch so weit laufen, wie es noch geht“ … was auch nicht viel Sinn macht. Am Anfang ist nicht viel zu sehen.
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Das Schweizer Rentner-Paar, das ein paar Minuten vor mir durch das Feigen-Tor startet, zieht mit einem ziemlichen Tempo ab. Als ich auf der antiken Stätte auf der Halbinsel ankomme, sind sie schon auf dem Rückweg. Dann kommt noch jemand, der anschließend drei Tage in Vrougounda übernachtet, aber ihr „Tarn-Verhalten“ in der Natur ist so ausgeprägt, daß ich ihre Ankunft (kurz nach mir) nicht mal bemerke. Mich hatte sie jedoch gesehen. Bei so einer Gelegenheit wird sie wohl unsichtbar …
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Die braungrauen Vierbeiner der Gegend hatten Tarn-Verhalten nicht nötig. Sie waren sehr zutraulich. Ganz im Gegensatz zu den wild laufenden Eseln in der Nähe der Felder von Avlona, denen man absolut nicht nahe kommen durfte. Die hatten wohl beim illegalen Abernten der Felder schlechte Erfahrungen mit den lokalen Zweibeinern macht …
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Ziel der Wanderung sind die kargen Reste der antiken Stadt auf der kleinen Halbinsel von Vrougounda. Dort existierte vor etwa 2500 Jahren die befestigte dorische Siedlung Brykountos.
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Hier könnten Scharniere für ein Tor gewesen sein.
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Was ist von der Siedlung geblieben? An einigen Stellen stehen Reste der Stadtmauer, hin und wieder erkennt man Spuren bearbeiteter Steine und Säulen-Basen. Eine Etage tiefer hat man sich an vielen Stellen ins weiche Gestein eingegraben, um die Verstorbenen des Ortes in Grabkammern unterzubringen.
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Wahrscheinlich war die Halbinsel vorher schon von natürlichen Höhlen durchsetzt. In der Höhlenkirche des Johannes an der Spitze der Halbinsel, die noch heute als Wallfahrtsstätte genutzt wird, fand sich aus frühchristlicher Zeit ein Taufbecken. Die Höhlenkirche ist offen. Der Eingang befindet sich unterhalb des überdachten Festplatzes. Eine Kerze anmachen? Nee, nicht beim Johannes, das übliche Kerzenanzünden habe ich ja auch schon hinter mir, in der Kapelle oberhalb des Fähranlegers in Diafani, da, wo einen draußen die hingemüllten Plastikdelphine angrinsen …
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Der Festplatz, im Hintergrund die Insel Saria
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Jedes Jahr, am 28. August, versammeln sich hier an der Höhlenkirche die Einwohner von Olympos und Diafani zu einer panagiri. Man kommt zu Fuß oder per Boot. Nach der Messe wird die Nacht mit Musik und Tanz durchgemacht! Zu Fuß kommt man hier im Dunkeln ja auch schlecht weg.
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Eingang zur Höhlenkirche
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Zu Hause in Deutschland suche ich noch nach geschichtlichen Informationen über Vrougounda und über Karpathos selbst. Da ist nicht viel zu finden, bis in die jüngste Zeit hinein. Karpathos bzw. ‚Scarpanto’ war weder in der Antike noch im Mittelalter von Bedeutung.
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Noch im 19. Jahrhundert ging der Verkehr an dieser Insel völlig vorbei. Wenigstens Ludwig Roß soll um 1840 auf seinen Inselreisen hier gewesen sein (der war ja überall …). Ich habe nur 3 der 4 Bände seiner Inselreisen, und auch seine Rhodos-Zypernreise. Ich habe in dieser Teilauswahl keinen Beitrag über Karpathos gefunden. Auch im umfangreichen Itinéraire de L’Orient von Joanne und Isambert von 1861 … kein Wort über Karpathos oder Kasos. Aber Murray’s Handbook ‚Turkey in Asia’ von 1871 weiß etwas zu sagen:
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“(…) It (Karpathos) was always a Doric country, dependent on Rhodes, for no autonomous coins of Karpathos have been discovered, while Rhodian coins were commonly found on the island. It appears to have been well-peopled in antiquity, and according to Strabo, contained four towns. The site of Arcesine has been identified by Ross (aha!) with Arkássa, situated on a promontory on the W. coast, while Posidium was situated upon a corresponding cape on the E. side of the island, and is now called Posin (Posidion in Pigadia). There are ruins of an ancient town upon a rock, Sókastron, off the western coast, and of another town (Nisyros) upon the islet of Saria, which is 10 miles in circumference, and is separated by a narrow strait from the northern extremity of Karpathos. (…)
At the present day Karpathos numbers about 5000 inhabitants, who are dispersed in several villages. Agriculture is much neglected, the natives applying themselves rather to commerce. Many of them are employed as carpenters and workers in wood, a trade of which they seem peculiarly fond. Both Scarpanto and Caso can be reached only by caique, which may be hired in Rhodes.”
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Weder der griechische Geograph Strabo (ca. 63 v.Chr. – 24 n.Chr.) noch Murray’s Redaktion schreiben etwas über Vrougounda.
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Aber die Einwohner von Karpathos sind nicht gerade als Bauern berühmt, eher als Händler und Zimmerleute. Und einen geregelten Schiffsverkehr gibt es auch nicht. Bemerkenswert, daß Karpathos um 1871 nur 5000 Einwohner hatte, denn auf der winzigen Nachbarinsel Kassos lebten vor dem Ausbruch der griechischen Revolution (1821) 12.000 Personen! Aber Murray’s Handbook schreibt auch über Kasos: „… this little island, whose very existence was unknown in western Europe …”!
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Ja, diese Inselwelt war wohl immer schon eine Welt für sich.
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NACH OBEN
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WEITER MIT  KARPATHOS DER NORDEN
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WEITER MIT  NUR HALB ZURÜCK AUS MARYLAND
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WEIER MIT  GANZ EUROPA IST VON IKEA BESETZT …
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WEITER MIT   DER VIERTELRUNDWEG
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WEITER MIT  DANKE FÜR DEN KUCHEN
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WEITER MIT  WENN ICH MAL GROSS BIN …
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12 comments

  1. jassou Theo, scheint wirklich eine tolle Wanderung zu sein, Ruhe und Einsamkeit. Der Choriatiki ist wohl nicht zu toppen

    Schöne grüße aus Hamburg, Kokkinos Vrachos.

  2. Das sind echt 17 Kilometer?
    Kam mir nicht so weit vor.
    Ok, ich bin erst ab Avlona los (ziehen wir mal 4 Kilometer ab), und zurück nach Olymbos. Avlona- Olymbos dürfte etwa gleich weit sein wie Avlona – Diafani?
    Upps, Dieter Graf behauptet sogar, es wären über 20 Kilometer…

  3. Wenn das Dieter Graf sagt … 🙂 … mit den ganzen Nebenwegen, die man so macht, unterwegs das antike Grab suchen undsoweiter, kommt man natürlich auch auf ein wenig mehr als 17 Kilometer.
    Ich kann mich gerade nicht erinnern, Katharina, hattest du dieses Grab zwischen diesen Felsklötzen gefunden?

    Und was den Choriatiki angeht, Kokkinos Vrachos … was man da sonst in der Regel angeboten kriegt, ist ja nur fixiertes Wasser in roter und grüner Form (Tomate+Gurke), das wird manchen glatt erschrecken, wie das alles nach Natur schmeckt in Avlona.

  4. Noch mal bei dir nachgeschaut, Katharina, du schreibst auch nix über dieses “antike Grab” auf halber Strecke zwischen Avlona und Vrougounda. Ich habe es übrigens überhaupt nicht gefunden.

  5. Hallo Theo,
    Ludwig Ross war tatsächlich ein paar Jahrzehnte vor dir auf Karpathos. In seine “Reisen auf den ägäischen Inseln …” schreibt er im 3. Band (erschienen 1845) im 30. Brief (S. 50 – 69) über seinen achttägigen Aufenthalt auf Karpathos. Im Norden der Insel war er allerdings nicht, der heftige Wind hinderte ihn an der Fahrt in den Norden. “Ich muss mich also darauf beschränken, die topographischen Notizen über Karpathos, wie ich sie aus dem Munde der Eingebornen gesammelt, verglichen mit den Nachrichten der Alten und Bondelmonte’s, hier zusammenzustellen”.
    Grüße, ML

  6. Ja, ausgerechnet im 3. Band, der mir fehlt! Den kriegt man kaum als Einzelband. Ich will dafür auch nicht die komplette Faksimile-Ausgabe kaufen, oder vielleicht das komplette Original, das kostet im Antiquariat ein kleines Vermögen … aber ich könnte ja mal bei Google.books nach einem PDF suchen …

  7. Vielen Dank für den Hinweis, Markus! Hab das Karpathos-Kapitel schon überflogen. Auf Seite 64 schreibt Ross: “Nördlich aber von Tristomos heißt eine Stelle Burgunta (…), wo einige alte Ruinen seyn sollen.”
    Also nochmal danke, ich lese jetzt weiter … und das PDF habe ich inzwischen runtergeladen. Und da ist ja noch so viel mehr … 🙂 …

  8. Ja, da Ludwig Ross selbst nicht im Norden der Insel war, verlegt er Vourgounda “nördlich von Tristomo” und auf seiner Karte liegt “To Afani” (= Diafani im Dialekt der Olimbiten) an der Westküste statt an der Ostküste. Aber er weiß viel Interessantes zu berichten. Über die Gräber von Vourgounda schreibt übrigens auch Theodore Bent 1885 im Journal of hellenic studies, S. 233 – 242, s. folgenden Link:
    http://www.jstor.org/discover/10.2307/623398?uid=3737864&uid=2&uid=4&sid=21101116785887

  9. Hab die Karte gesehen, die Roß gezeichnet hat (nach dem, was ihm berichtet wurde). Wollte sie eigentlich hier schon mal zeigen! Tristomo hat er ja südwestlich von Olymbos vermutet. Aber er zeichnet ja schon ein Fragezeichen in seine Karte ein: “O Tristomos?”
    Von Bent kannte ich nur sein “Aegean Islands – The Cyclades, or life among the insular Greeks” (habe da einen Nachdruck von 1965):
    https://theo48.wordpress.com/die-inseln/kykladen-1885-james-th-bent/

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